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Ägypten verurteilt Mursi-Anhänger

Todesstrafe auch gegen Führer der Muslimbruderschaft verhängt *

Die ägyptische Justiz setzt ihr hartes Vorgehen gegen Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi fort: In einem zweiten Schnellverfahren wurden am Montag in der zentralägyptischen Stadt Minja 683 Anhänger islamischer Parteien zum Tode verurteilt, darunter der Anführer der Muslimbruderschaft, Mohammed Badie. Das Urteil vom Montag richtet sich formell gegen Teilnehmer gewalttätiger Demonstrationen vom 14. August 2013 in Minja. An jenem Tag waren bei einem Einsatz der Sicherheitskräfte gegen Mursi-Anhänger in Kairo rund 700 Demonstranten getötet worden. Nach Angaben des Anwalts Chaled Elkomi dauerte der Prozess am Montag nur zehn Minuten. Bei der Bekanntgabe der Urteile fielen mehrere Frauen, deren Angehörige zu den Angeklagten zählten, in Ohnmacht.

Das Gericht verwandelte am Montag auch 492 von 529 Todesurteilen, die am 24. März gegen Mursi-Anhänger ausgesprochen worden waren, in lebenslange Haftstrafen. Von den insgesamt rund 1200 Angeklagten der beiden Verfahren in Minja sind nur 200 in Haft, nach den übrigen wird gesucht.

Am selben Tag verbot ein Gericht in Kairo die Jugendbewegung »6. April«, die 2011 maßgeblich zum Sturz des langjährigen Präsidenten Husni Mubarak beitrug. Nach Angaben eines Vertreters der Justiz in Kairo wurde das Verbot der Jugendbewegung aufgrund einer Beschwerde ausgesprochen, in welcher der Organisation die Diffamierung des Staates und die Zusammenarbeit mit ausländischen Parteien vorgeworfen wurde.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014


Dasselbe Gericht, dieselben Urteile

Erneut wird in Ägypten in einem politischen Prozess hundertfach die Todesstrafe verhängt

Von Oliver Eberhardt **


In Ägypten hat erneut ein Gericht eine Massenstrafe verhängt: 683 Menschen wurden zum Tode verurteilt. Die USA wollen trotzdem ihre Militärhilfen teilweise wieder aufnehmen.

Derselbe Richter, derselbe Gerichtssaal, dieselbe Vorgehensweise: Saed Jussef, jener Richter, der bereits vor etwas mehr als einem Monat mit einem Massentodesurteil gegen 529 angebliche Unterstützer der Muslimbruderschaft international für Entsetzen gesorgt hatte, verhängte am Montag am Ende eines ebenso kurzen Prozesses die Todesstrafe gegen 683 Menschen – unter ihnen auch Mohammad Badie, der bei seiner Festnahme im vergangenen August Vorsitzender der Muslimbruderschaft war.

In einem separaten Verfahren hob Richter Jussef allerdings auch die Todesurteile gegen 492 der Angeklagten aus dem ersten Massenprozess in 25-jährige Haftstrafen um. Der Grund für dieses Manöver: Richter in der ersten Instanz empfehlen zunächst einmal nur die Todesstrafe. Diese Empfehlung wird dann vom Großmufti, der höchsten religiösen Instanz Ägyptens überprüft, bevor dann das eigentliche Urteil ergeht, gegen das dann aber auch eine Revision möglich ist. In diesem Fall hatte sich der Großmufti in 37 der 529 Fälle für die Todesstrafe ausgesprochen. Das gleiche Prozedere wird dementsprechend nun auch auf die Empfehlung im zweiten Prozess folgen; die Verkündung der endgültigen Urteile wurde auf den 21. Juli festgesetzt.

Menschenrechtler aber auch viele ägyptische Juristen sind entsetzt: »Es gibt keinen Menschen, der 6000 Seiten an Gerichtsakten in so kurzer Zeit lesen, verstehen, und bewerten kann«, sagt Mohammed Abdel Fatah Ali, einer der Verteidiger. Und bei der ägyptischen Anwaltskammer kann man auch belegen, dass der Richter die Akten nicht gelesen haben kann. Bei der Interessenvertretung hat man die Entlastungsbeweise gesammelt, die die einzelnen Verteidiger zusammen getragen haben, aber vor Gericht nicht einbringen durften.

Aus diesen Beweisen ergebe sich, so die Anwaltskammer, dass eine erhebliche Zahl der Angeklagten in beiden Prozessen nicht einmal der Muslimbruderschaft nahesteht, viele hätten sich zum Zeitpunkt des Geschehens, der Tötung von zwei Polizisten bei der Stürmung einer Polizeistation in der südägyptischen Stadt Minja, nicht einmal in der Nähe der Stadt befunden. Ein Anwalt sei erst nach Anklageerhebung der Liste der Angeklagten hinzugezogen worden, nachdem er einen Streit mit einem Polizisten hatte.

Vertreter der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten verurteilten die Massenurteile auch dieses Mal. Doch Sprecher der US-Regierung machten gleichzeitig deutlich, dass es wohl derzeit keine weitere politische Intervention geben werde. Man halte auch an der Lieferung von zehn Apache-Helikoptern an Ägypten sowie der teilweisen Wiederaufnahme der Militärhilfen fest, die erst in der vergangenen Woche bekannt gegeben worden war.

Denn für die USA stehen derzeit im Verhältnis zu Ägypten geopolitische Erwägungen im Vordergrund: Da Ägyptens Fluggerät nahezu komplett von amerikanischen Unternehmen gewartet wird, gibt es im Land selbst nicht das notwendige Know-how. Ohne Wiederaufnahme der militärischen Zusammenarbeit hätte Ägyptens Luftwaffe, die übrigens auch teilweise zur Niederschlagung von Massenprotesten eingesetzt wird, demnächst am Boden bleiben müssen.

Und das hätte wiederum Israel Probleme bereitet, dass die Sicherheitslage auf der Sinai-Halbinsel mit Sorge betrachtet: Zwar erklärte Kairo Ende vergangener Woche, man habe dort nun wieder alles unter Kontrolle. Dennoch gab es dort auch am Montag wieder gewaltsame Auseinandersetzungen.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014


683 Todesurteile in Ägypten

Gericht geht weiter gegen Muslimbrüder vor

Von Sofian Philip Naceur, Kairo ***


Ägyptens Justiz setzt ihr hartes Vorgehen gegen die islamistische Muslimbruderschaft trotz heftiger Kritik weiter fort. Am Montag verurteilte ein Gericht im oberägyptischen Minya 683 mutmaßliche Mitglieder der Organisation zum Tode. Unter ihnen befindet sich auch der Chef der Bruderschaft, Mohammed Badie. Derweil bestätigte das Strafgericht in Minya die Todesurteile für 37 Angeklagte der ersten Prozeßrunde, bei der vor vier Wochen 529 Menschen zum Tode verurteilt worden waren. Die Urteile für 491 Angeklagte wurden in lebenslange Haft umgewandelt. Sie müssen, wie in Ägyptens Rechtssystem vorgesehen, vom Großmufti, der höchsten muslimischen Autorität am Nil, bestätigt werden.

Zuletzt hatte es im ganzen Land vermehrt Prozesse gegen mutmaßliche Mitglieder der Muslimbruderschaft gegeben. Die Organisation war im Herbst verboten und im Dezember von Ägyptens Übergangsregierung als »terroristische Vereinigung« eingestuft worden. So verurteilte das Gericht in Minya unter Vorsitz des selben Richters erst am Sonntag elf Angeklagte zu Haftstrafen von 55 bis 88 Jahren. Ihnen wurde vorgeworfen, in Minya und Matay Polizeiwachen attackiert zu haben. In dem Prozeß vom Montag lauten die Anklagen dagegen auf Ermordung eines Polizeioffiziers, den Aufruf zu Gewalt, den Diebstahl von Waffen und Vandalismus gegen christliche und öffentliche Einrichtungen.

Die Muslimbruderschaft verweist nicht zu Unrecht darauf, daß die Anhörung in der ersten Prozeßrunde gegen die 529 Angeklagten nur eine Stunde gedauert habe. Nach Ansicht der Bruderschaft, aber auch von Menschenrechtsorganisationen, handele es sich bei den jüngsten Prozessen um politisch motivierte Urteile. Unterdessen kündigte die Bruderschaft an, daß rund 16000 inhaftierte Mitglieder der Organisation am Mittwoch in den Hungerstreik treten wollen, um gegen ihre Haftbedingungen zu protestieren.

Ein Gericht in Kairo ordnete derweil am Montag das Verbot sämtlicher Aktivitäten der säkularen »Bewegung des 6. April« an. Der Gruppe wird vorgeworfen, den ägyptischen Staat diskreditiert zu haben und in Spionageaktivitäten verwickelt zu sein. Der Anwalt, der die Klage eingereicht hatte, rief Staatspräsident Adli Mansur und die Regierung auf, das Hauptquartier des »6. April« zu beschlagnahmen. Weiter heißt es, die 2008 gegründete Organisation habe Gelder aus dem Ausland angenommen und sei für die Stürmung von Regierungsgebäuden 2011 verantwortlich. Menschenrechtler und Oppositionelle halten auch dieses Urteil für politisch motiviert, schließlich gehört die Gruppe seit der Revolution 2011 zu den einflußreichsten regimekritischen Kräften im Land. Zwei ihrer Führungskader, Ahmed Maher und Mohammed Adel, sitzen bereits seit Monaten hinter Gittern und wurden zu je drei Jahren Haft verurteilt. Ihnen wird vorgeworfen, zu einer nicht genehmigten Demonstration aufgerufen zu haben.

*** Aus: junge Welt, Dienstag, 29. April 2014 (Kommentar)


Mubarak lässt grüßen

Roland Etzel zu den Kairoer Todesurteilen ****

Ägyptens General Sisi agiert auf dem Weg zum Thron mit der Präzision eines Schachstrategen. Seine Züge erfolgen ohne Hast, wohlbedacht, präzise – und erbarmungslos. Gut einen Monat nach 529 Todesurteilen gegen politische Gegner wurden am Montag erneut deren 683 ausgesprochen. Die Unterstellung, dass die dergestalt strafenden Richter kaum mehr als Bauern auf dem Schachbrett der Generale sind, ist nicht sehr verwegen, wird sie doch in Ägypten von den Akteuren selbst nicht bestritten. Immer wieder haben ägyptische Richter zuletzt nach politischen Prozessen verkündet – sogar mit Stolz –, sie exekutierten den »Volkswillen«. Nun also hundertfach in des Wortes grausamster Bedeutung.

Nach der ersten Massenverurteilung hörte Sisi, der sich immer häufiger auf den »Volkswillen« beruft, sehr genau auf das Echo in Übersee. Was er hörte, muss ihn nicht erschreckt haben. In Washington hat man zwar ein wenig gemault, mahnte pflichtgemäß eine sorgfältige Überprüfung an, signalisierte dann aber schon Zufriedenheit, als ein Teil der Verurteilten zu Haftstrafen »begnadigt« wurde. Und als vergangene Woche die USA auch noch den Waffenlieferstopp aufhoben, hieß das für Sisi: Man lässt uns gewähren und setzt künftig auf uns als Pentagon-Vorposten in Kairo.

Die Putschgenerale sehen nun auch keine Notwendigkeit mehr, die »Bewegung des 6. April« zu tolerieren. Die Re-Mubarakisierung des Nil-Landes soll keine Hängepartie werden. Jetzt wird der Matchgewinn angestrebt.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 29. April 2014 (Kommentar)


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