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Ein Referendum wird zum Beliebtheitstest

Ägyptens Generalstabschef möchte ein Ja zur Verfassung als Aufforderung zur Kandidatur verstehen

Von Oliver Eberhardt, Kairo *

Ägypten stimmt ab heute über eine neue Verfassung ab; Verteidigungsminister Mohammed al-Sisi scheint sie als Referendum über seine Präsidentschaftskandidatur wer-ten zu wollen.

Der Mann will nicht, dass sein Name in der Zeitung steht. »Die Zeiten, in denen man seine Meinung öffentlich sagen konnte, sind vorbei«, sagt der Vorsitzende des Betriebsrates eines großen Unternehmens im Großraum Kairo: »Viele Kollegen hatten schon Besuch von der Sicherheitspolizei; erst Mitte vergangener Woche sind wieder zwei fest genommen worden.«

Der Vorwurf: Sie sollen versucht haben, einen Streik zu organisieren. Und das ist nach Lesart der Behörden nicht einfach mehr nur die Verletzung eines Jahrzehnte alten Paragraphen. Für die Übergangsregierung ist ein Streik ein Angriff auf die nationale Sicherheit. »Diese Arbeiter legen es darauf an, das Land zu destabilisieren«, sagt Innenminister Mohammed Ibrahim: »Wir müssen mit der ganzen Härte des Gesetzes gegen sie vorgehen.« Die Art, wie dies geschieht, erlaubt auch einen Blick in die Zukunft. Vieles, was die neue Verfassung garantieren soll, wird derzeit noch nicht umgesetzt. So warten die beiden Betriebsräte wie »mehrere tausend« andere Inhaftierte auch, so Ägyptens Anwaltskammer, nach wie vor auf einen Anwalt.

Die Erwartungen der Wähler an die neue Verfassung, über die seit einigen Tagen zunächst die Auslandsägypter und seit Montag auch die Wähler in Ägypten selbst abstimmen, sind dementsprechend gering: Man sei im Sommer auf die Straße gegangen, um für mehr Freiheit zu kämpfen, ist immer wieder zu hören. Nun habe man das Gefühl, dass das Gegenteil passiert, man drauf und dran ist, einen neuen Diktator zu bekommen.

Denn mittlerweile bringt sich Verteidigungsminister, Vizeregierungs- chef und Generalstabschef Mohammed al-Sisi ganz offen in Position für das Amt. Bei einer Armeeveranstaltung am Samstag habe er, so meldet es die Nachrichtenagentur Mena, gesagt: »Wenn ich für die Präsidentschaft antrete, muss dies auf Bitten des ägyptischen Volks und mit einem Mandat der Armee geschehen. Wenn die Ägypter etwas sagen, werde ich dem Land nicht den Rücken zukehren« – eine Aussage, aus der die meisten Medien heraus lesen, dass Sisi ein Ergebnis für die neue Verfassung als Referendum für seine Präsidentschaftskandidatur werten wird.

»Ich denke, dass Sisi, falls er antreten sollte, was nun sehr wahrscheinlich ist, im ersten Wahlgang gewinnen würde«, sagt der Direktor des Al-Gumhuriya-Zentrums für politische und Sicherheitsstudien, Sameh Seif Eljazal, ein Ex-General. Nur Sisi habe die Popularität, die »Ägypter in einer schwierigen Zeit zu vereinen.«

Und tatsächlich ist die Unterstützung für ihn zumindest nach außen hin groß: Die Plakate mit seinem Konterfei sind nach wie vor im öffentlichen Leben sehr präsent; vor allem in der Mittelschicht, wo man die ständigen Auseinandersetzungen leid ist, wünscht man sich Stabilität, und glaubt, dass Sisi sie bieten kann.

Doch die wenigen zuverlässigen Umfragen, die es gibt, lassen darauf schließen, dass ein Wahlerfolg al-Sisis dennoch nur dann garantiert wäre, wenn seine Gegner die Präsidentschaftswahl überwiegend boykottieren. So ergab eine Studie des amerikanischen Unternehmens Zogby Research Services, dass nur knapp 50 Prozent der Befragten Sisi unterstützen. Mohammad Mursi kam nahezu auf die gleichen Werte.

Da die ägyptische Gesellschaft nach wie vor extrem stark polarisiert ist, kann davon ausgegangen werden, dass sich an diesen Werten wenig verändert hat. Kritiker monieren vor allem, dass mit einem Votum für den Verfassungsentwurf und einer Wahl Sisis der Militärdiktatur Tür und Tor geöffnet würden.

Denn im Entwurf wird der Armee weitestgehend freie Hand gelassen: Ihre Strukturen sind ebenso wie das Budget von einer Einflussnahme durch die Regierung kaum veränderbar; zudem muss der Verteidigungsminister zwingend ein Angehöriger der Streitkräfte sein.

Ob die Abstimmung allerdings wirklich zum überwältigenden »Votum für die Demokratie« wird, wie Innenminister Ibrahim es nennt, ist fraglich: Die Muslimbruderschaft, die nun zur Terrororganisation erklärt worden ist, hat zum Boykott aufgerufen, und auch immer mehr säkulare, politisch oder gewerkschaftlich aktive Ägypter sind skeptisch, äußern die Sorge vor Repressalien, falls sie mit Nein stimmen sollten. Zudem kommen mittlerweile auch erste Zweifel am ordnungsgemäßen Ablauf der Abstimmung auf: So sind die Wahllokale in ländlichen Gebieten mit einer hohen Zahl an Mursi-Unterstützern schwer erreichbar. Und mehrere ägyptische Botschaften haben schon die Ergebnisse der Auslandsabstimmung veröffentlicht: Gemeldet wird von dort eine Zustimmung von zwischen 96 und 98 Prozent – wohlgemerkt, bevor die Abstimmung dort offiziell beendet war.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. Januar 2014


Armee sichert Einfluß

Ägypter sollen nach Sturz von Präsident Mursi über neue Verfassung abstimmen. Muslimbrüder rufen zum Boykott auf

Von Sofian Philip Naceur, Kairo **


Wahlen gehören seit der ägyptischen Revolution 2011 langsam, aber sicher zum Alltag am Nil. Nach der Absetzung von Staatspräsident Mohammed Mursi durch die Armeeführung unter Verteidigungsminister Abdel Fattah Al-Sisi am 3. Juli 2013 stehen in den nächsten Monaten erneut Parlaments- und Präsidentschaftswahlen bevor. Doch zunächst sind am Dienstag und Mittwoch rund 53 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, am Referendum über die neue Verfassung teilzunehmen. Es ist die zweite Volksabstimmung in nur 13 Monaten, nachdem Ägyptens Bevölkerung bereits im Dezember 2012 an die Urnen gerufen worden war, um über eine neue Verfassung zu entscheiden. Die im Alleingang vom inzwischen verbotenen politischen Arm der Muslimbrüder, der Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), und der salafistischen Partei Das Licht entworfene Konstitution von 2012 war nach Mursis Sturz vom Übergangsregime außer Kraft gesetzt worden.

Gedrückte Stimmung

Ägypten erlebte in den vergangenen Monaten eine Welle an Bombenanschlägen gegen Armee- und Polizeieinrichtungen. Höhepunkt war die Autobombe vor dem Sicherheitsdirektorat in Mansura im Nildelta mit 16 Toten. Im Nordsinai führt die Armee weiterhin eine Offensive gegen militante Islamisten, die ihren Aktionsradius inzwischen auf Zentralägypten ausgeweitet haben. Die Anhänger der gestürzten Muslimbrüder demonstrieren unterdessen weiter gegen die Absetzung Mursis. Zuletzt hatten ihre Proteste wieder deutlich mehr Zulauf erhalten. Vor allem freitags, dem zentralen Tag für Demonstrationen in Ägypten, intensivierten sich gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei. Auch an der theologischen Hochschule Al Azhar im Osten der Hauptstadt Kairo finden seit Monaten Ausschreitungen zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei statt. Erst am Sonntag hatten Sondereinheiten der Polizei den Campus gestürmt und die Proteste auseinander getrieben.

Die Bruderschaft lehnt weiterhin jedwede exekutive Autorität, die seit Mursis Sturz das Land regiert, vehement ab und boykottiert das Referendum. Trotz der landesweiten Hetzkampagne gegen sie und der Einstufung der Bruderschaft als »terroristische Vereinigung« durch die Interimsregierung Ende Dezember glaubt Mostafa Ali nicht, daß die Organisation wieder ihren Gang in den Untergrund antritt. Sie habe zu viel zu verlieren, meint der Redakteur der englischsprachigen Internetseite der ägyptischen, staatlich kontrollierten Tageszeitung Al-Ahram. »Aber das Referendum wird blutig werden«, sagt Ali. In der Tat ist die Stimmung am Nil bedrückend vor dem Urnengang. Viele Menschen rechnen im besten Fall mit Störmanövern der Mursi-Anhängerschaft oder im schlimmsten Fall mit Anschlägen auf Wahllokale. Armeeführung und Innenministerium kündigten an, 160000 Soldaten und weitere 100000 Polizisten zum Schutz der Wahllokale abzustellen.

»Wir haben an die Muslimbrüder als politische Kraft geglaubt, aber sie haben versagt«, sagt der Mitbegründer der Partei der Freien Ägypter, Abdulbar Zahran, gegenüber junge Welt. Er ruft die Bruderschaft eindringlich dazu auf, sich ein Beispiel an der liberalen Wafd-Partei zu nehmen, die 1952 im Zuge des Putsches der Freien Offiziere gestürzt und verboten wurde. »Die Wafd hat 1952 die Macht verloren. Doch sie hat sich nicht radikalisiert oder terroristischen Gruppen angeschlossen und Straßenzüge in Brand gesteckt wie die Muslimbrüder heute. Sie hat sich damals zurückgezogen und abgewartet. Daran müssen sich die Muslimbrüder als politische Kraft ein Beispiel nehmen. Ich flehe ihre Anführer an, über dieses Beispiel nachzudenken.«

Rückkehr des Militärstaats

Während das Gros der liberalen und staatssozialistischen Parteien die neue Verfassung unterstützt und für Zustimmung wirbt, lehnen neben der Parteienallianz rund um die Muslimbrüder nur unabhängige Gewerkschaften und linksliberale Organisationen wie die Revolutionären Sozialisten (RS) oder die Bewegung des 6. April den Text ab. Der Einfluß des Militärs auf Ägyptens Politik werde bewahrt, die Koalitionsfreiheit beschnitten und Militärtribunale für Zivilisten zum Verfassungsrang erhoben. Die islamistische Färbung der Verfassung im Jahr 2012 sei zwar reduziert und dafür seien Frauenrechte gestärkt worden, doch sei das Dokument ein Vehikel, die Rückkehr von Militärstaat und altem Regime zu legitimieren, heißt es aus Kreisen der RS. Die salafistische Partei Das Licht, die die Verfassung von 2012 noch mit der FJP gemeinsam entwarf und durch die Institutionen peitschte, wirbt ironischerweise für den neuen Text. Sie hofft, aus dem Verbot der Muslimbruderschaft politisches Kapital schlagen und bei kommenden Wahlen Stimmen aus deren Lager abschöpfen zu können.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 14. Januar 2014


Islam ist die »Religion des Staates«

Auch die neue Verfassung fußt auf den Prinzipien der Scharia ***

Mit Ägyptens neuer Verfassung soll die Demokratie ins Land zurückkehren. Aber sie wird erhebliche Einschränkungen haben.

Die Lektüre des Entwurfs der neuen ägyptischen Verfassung beginnt mit einer Überraschung: Anders als allgemein erwartet, hat die 50-köpfige verfassunggebende Versammlung die Scharia, also das islamische Recht, nicht vollends aus dem Dokument gestrichen. Der Islam bleibt »die Religion des Staates«, und die »Prinzipien der Scharia sind die Quelle aller Gesetzgebung«. Ausgemustert wurde nur jener im Dezember 2012 von der islamistischen Regierung des Präsidenten Mohammed Mursi durchgesetzte Passus, in dem diese Prinzipien detailliert erläutert werden.

Außerdem bleibt zwar die Al-Azhar-Universität die Referenzstelle für islamische Angelegenheiten. Doch anders als in der im Juli ausgesetzten Verfassung soll die älteste Lernstätte der islamisch-sunnitischen Welt nicht mehr entscheiden dürfen, ob eine Gesetzgebung mit der Scharia im Einklang steht. Dafür wird künftig das Verfassungsgericht zuständig sein.

Dieser Artikel gibt der Regierung damit sehr viel Spielraum – was sich wie ein roter Faden auch durch den restlichen Entwurf zieht, wenngleich die Sprache oft sehr viel deutlicher ist als in der alten Verfassung. So soll die Glaubensfreiheit künftig nicht mehr »geschützt«, sondern »absolut« sein. Doch die Freiheit, Religion zu praktizieren und Glaubenseinrichtungen zu betreiben, wird explizit nur den »himmlischen Religionen«, also Islam, Christentum und Judentum, zugestanden – allerdings nur »gemäß den staatlichen Gesetzen«. Und die bieten nichtmuslimischen Glaubensgemeinschaften traditionell wenig Schutz.

Offen für Interpretationen sind auch die Artikel, die die politischen Parteien betreffen: Sie dürfen nicht auf der Grundlage von Religion, Geschlecht, ethnischer oder geografischer Herkunft agieren; es ist ihnen verboten, gegen die »Grundsätze der Demokratie« zu handeln.

Vage sind auch die Regelungen zum Demonstrationsrecht. Arbeitnehmerstreiks, bislang eine Straftat, tauchen im Entwurf gar nicht auf. Stattdessen gesteht die neue Verfassung den Bürgern Rede- und Versammlungsfreiheit zu – allerdings auch hier wieder »gemäß den staatlichen Gesetzen«, und damit im Grunde nach dem Ermessen der jeweiligen Regierung.

Ähnlich sieht es mit der Freiheit von Kunst und Presse aus: Die Verfassung gesteht beides explizit zu, erlaubt aber gleichzeitig die Zensur in Zeiten des Ausnahmezustandes.

Militärtribunale werden künftig weitgehend der Vergangenheit angehören: Sie werden nur noch bei direkten Straftaten gegen Einrichtungen oder Personal des Militärs möglich sein. Zudem soll künftig jeder, der festgenommen wird, zwingend von einem einen Anwalt vertreten werden. -liv

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. Januar 2014


Prediger ruft Ägypter zum Boykott auf

Karadawi betrachtet Sturz Mursis als Putsch ****

Die Teilnahme an der Abstimmung ebenso wie alles, was die Macht der aus einem »Putsch« hervorgegangenen Regierung stärken könnte, sei ein Verstoß gegen den Islam, erklärte Jussef al-Karadawi in einer vorige Woche veröffentlichten förmlichen Fatwa. Der gebürtige Ägypter lebt seit Jahren im Exil in Katar und gilt als graue Eminenz der ägyptischen Muslimbruderschaft. Katar hat sie wie auch in anderen arabischen Staaten wie Libyen, Syrien und Tunesien finanziell und materiell unterstützt, verlor aber nach dem Sturz des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär stark an Einfluss in Ägypten.

Der Prediger erklärte in seinem Rechtsgutachten, die Teilnahme an dem Referendum käme »der Anerkennung der Legitimität des Militärputsches« gleich, mit dem »ein gewählter ziviler Präsident gestürzt wurde«. Proteste seiner Anhänger wurden blutig niedergeschlagen und die Muslimbruderschaft im Dezember offiziell zur Terrororganisation erklärt.

Mursi selbst muss sich derzeit zusammen mit führenden Mitgliedern der Muslimbrüder wegen des Vorwurfs der Anstachelung zum Mord vor Gericht verantworten.

Auch andere gesellschaftliche Kräfte sind gegen die Verfassung, können aber legal wenig unternehmen. Für ein Nein zur Verfassung oder einen Boykott zu werben, ist praktisch unmöglich. Sieben Vertreter der Partei Starkes Ägypten von Abdel Moneim Abul Futuh, der für eine moderate Islamisierung des öffentlichen Lebens in Ägypten eintritt, wurden dieser Tage verhaftet, weil sie Flugblätter mit dem Slogan »Nein!« verteilt hatten. Demonstrationen von Anhängern der Muslimbruderschaft und Mursis werden blutig niedergeschlagen.

**** Aus: neues deutschland, Dienstag, 14. Januar 2014


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