Kairoer Winter
Ägypten: Vor einem Jahr wurde Mohammed Mursi vom Militär gestürzt. Das alte Regime ist zurück und übt Rache
Von Sofian Philip Naceur, Kairo *
Die größte Demonstration seit Menschengedenken oder eine beeindruckende Form direkter Demokratie. So und ähnlich bezeichnete die ägyptische, aber auch die internationale Presse die Massendemonstrationen gegen Ägyptens islamistischen Expräsidenten Mohammed Mursi am 30. Juni 2013. Millionen zogen damals auf die Straße und forderten den Rücktritt des Staatsoberhauptes und ein Ende der Herrschaft der islamistischen Muslimbruderschaft. Die von Ägyptens Militär veröffentlichen Luftaufnahmen von den landesweiten Demonstrationen waren imposant, zeugten sie doch von einer ungebremsten Mobilisierung vieler Menschen für politische Veränderungen. Die revolutionäre Stimmung in Ägypten am 30. Juni war ein Sinnbild für eine Gesellschaft, die sich zur Wehr setzt und sich von den alten Kadern des 2011 gestürzten Regimes Hosni Mubarak nicht mehr einschüchtern lassen will. Doch schnell drehte sich der Wind am Nil.
Mursis Absetzung durch die Militärführung unter dem damaligen Verteidigungsminister und Armeechef Abdel Fattah Al-Sisi am 3. Juli bedeutete das vorläufige Ende von Ägyptens Revolution. Das Militär und die mit ihm verbündeten Seilschaften im Staatsapparat hatten die Gunst der Stunde genutzt und sich an die Spitze der Opposition zur Bruderschaft gestellt. Ägyptens Armee präsentiert sich seither als Bollwerk gegen das Machtstreben der Muslimbrüder. Gleichzeitig bedienten mit dem Armeeapparat eng verflochtene Kader des alten Regimes eine nationalistisch unterfütterte Kampagne gegen die islamistische sowie die linke und liberale Opposition. Ägyptens nie gänzlich entmachteter Repressionsapparat hatte wieder Fahrt aufgenommen.
Seit dem 3. Juli 2013 wurden über 41000 Menschen aus politischen Gründen verhaftet, rund 3300 wurden bei Demonstrationen und Anschlägen getötet. Selbst die dunkelsten Tage der Herrschaft Mubaraks wurden damit weit in den Schatten gestellt. Das neue Demonstrationsgesetz stellt Proteste und Streiks unter Strafe; und Judikative und Exekutive nutzen den Rückenwind für Ägyptens frisch gewählten Präsidenten Al-Sisi und machen Kritiker mundtot. Die Meinungs- und Pressefreiheit wird seit dem 3. Juli demontiert, und die Justiz agiert als verlängerter Arm des wieder an die Macht drängenden alten Regimes und verkündet ein politisch motiviertes Urteil nach dem anderen. Neben Schauprozessen gegen Mursi-Anhänger ist auch die linksliberale säkulare Opposition zur Zielscheibe geworden. Das alte Regime ist zurück, und es übt Rache. Symbolisch für diese Vergeltungskampagne steht das repressive Vorgehen gegen Journalisten. Die hohen Haftstrafen für mehrere Mitarbeiter des in Katar ansässigen, der Bruderschaft nahe stehenden TV-Senders Al-Dschasira sind jedoch nur die Spitze des Eisberges. Vor allem ägyptische Journalisten stehen heute im Visier des Staates, und dieser setzt alles daran, Presse und öffentliche Meinung mit Gewalt auf Linie zu trimmen.
Heute, ein Jahr nach Mursis Absetzung ist die alte Ordnung vollständig restauriert. Das Militärregime ist zurück an der Macht, verteidigt seine Privilegien und baut diese auf dem Rücken der ägyptischen Gesellschaft gar noch aus. Es geht um politischen und wirtschaftlichen Einfluß, den sich der Militärapparat langfristig und exklusiv sichern will. Nach anfänglicher internationaler Kritik am Vorgehen der Armee sowie Sanktionen ist der Status quo des Regimes heute wiederhergestellt. International wurde Ägypten rehabilitiert, zu gewichtig sind die geopolitischen Interessen des Westens am Nil. Die Mitgliedschaft Ägyptens in der Afrikanischen Union, die im Juli 2013 suspendiert wurde, ist erst letzte Woche wiederhergestellt worden, und US-Außenminister John Kerry verkündete bei seinem jüngsten Besuch in Kairo die vollständige Freigabe der 2013 eingefrorenen Militärhilfen für Ägypten.
Währenddessen rief die Muslimbruderschaft für diese Woche erneut zu Protesten gegen den Staatsstreich vom 3. Juli auf. An den restaurierten Machtverhältnissen ändert dies wenig. Die Bruderschaft ist politisch kaltgestellt, zumindest vorläufig, und die revolutionäre säkulare Opposition droht auch weiterhin zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Doch eine neue Welle der Revolution ist nur eine Frage der Zeit.
* Aus: junge Welt, Montag, 30. Juni 2014
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