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Hunger in Äthiopien

Die Amhara-Region

Der Frankfurter Rundschau ist der folgende Bericht von Christoph Plate entnommen. Er erschien am 19. August 2000 unter dem Titel: "Der unsichtbare Hunger. In Äthiopiens Amhara-Region gibt es seit Jahren zu wenig zu essen, jetzt wächst die Kritik an der Regierungspolitik."

"Damals gab es hier so viel Wald, wir konnten vor lauter Bäumen den Himmel nicht sehen", sagt Zewditu Ayalawa. Die 64-jährige Bäuerin kam als junge Frau in das Dorf Dengema, 400 Kilometer nördlich von Addis Abeba. Heute sind die Berge kahl, nur um die Kirchen herum stehen noch Bäume, weil die Priester sich beharrlich gegen das Abholzen gewehrt haben.

In Dengema ist zu besichtigen, wie Äthiopien zu einem Hungerleider auf dem Kontinent wurde. Wie die in fast 3000 Jahren entwickelte Landwirtschaft durch politische Reformen, durch das enorme Bevölkerungswachstum und durch den Mangel an Innovation zu Grunde geht.

Unter Kaiser Haile Selassie ist Zewditu eine wohlhabende Frau gewesen. Acht Hektar Land hat sie besessen, auf denen sie mit ihren Kindern Hirse und Teff anbaute. Unten am Fluß wuchsen Akazien und Fikus-Bäume. Zewditu beschäftigte Arbeiter oder verpachtete Land an andere Bauern. Die feudale Ordnung der Landwirtschaft, in der landlose Kleinbauern Abgaben zahlten, wurde Mitte der siebziger Jahre abgeschafft.

Nach dem Sturz des Kaisers 1974 war Mengistu Haile Mariam an die Macht gekommen. Die meisten Betriebe wurden verstaatlicht, sämtlicher Grund und Boden wurde 1975 ohne Entschädigung enteignet. Auch wenn landlose Bauern nun Land bekamen, kümmerten sie sich nicht um den Erhalt, weil das Land nicht ihnen gehörte und weil die festgesetzten Erzeugerpreise nicht mal ihre Kosten deckten.

Seit damals sieht Zewditu auf den Feldern, die einst ihr gehörten, andere Bauern arbeiten. Aber die Regierung des Ministerpräsidenten Meles Zenawi hütet sich, an den unter Mengistu festgeschriebenen Besitzverhältnissen zu rühren. Sie hat sogar, "ohne große Diskussion" wie im Jahresbericht des äthiopischen Wirtschaftsverbandes zu lesen ist, den Status quo in der Verfassung festgeschrieben. Die Lage der Landwirtschaft sei nicht mehr "miserabel, sondern katastrophal" warnen die Ökonomen und kritisieren ungewöhnlich offen die Politik einer Regierung, die auf Widerspruch äußerst empfindlich reagiert. Die Regierung hat Angst vor einem unkontrollierten Zuzug in die Städte. Wenn die unterernährten Bauern ihre zu kleinen Äcker verlassen, werden sie in der Stadt zu Hungerleidern.

Hunger hat es in Äthiopien immer gegeben. Jedenfalls solange sich Zweditu Ayalawa erinnern kann. Früher hungerten die Armen, heute hungern alle. 60 Prozent der Äthiopier leben unterhalb der Armutsgrenze. So wie die Menschen im Dorf Dengema. Die Kinder in der Nachbarschaft der Bäuerin Zewditu haben keine aufgedunsenen Bäuche oder rötliches dünnes Haar. In Dengema ist der Hunger unsichtbar. Hier herrscht eine "grüne Dürre", wie die Experten den Hunger in einer Landschaft nennen, die den Laien nicht ahnen lässt, dass hier gehungert wird.

Dort, wo in der Erinnerung der Bäuerin Zewditu Wälder waren, ist jetzt nur noch der nackte, steinige Boden. Vor 100 Jahren waren noch 40 Prozent des Landes mit Wald bewachsen, heute sind es etwa drei Prozent. Auf der Suche nach immer mehr Ackerland, um die Familien zu ernähren, und nach Feuerholz wurden die Wälder im äthiopischen Hochland abgeholzt.

In der Trockenzeit muss diese Bergregion wie eine Mondlandschaft aussehen. Auf den Feldern wird immer weniger geerntet, denn die Böden sind ausgelaugt. In der Regenzeit schwemmt wertvoller Mutterboden von den kahlen Hängen. Dort, wo früher Akazien am Rande des Baches wuchsen, klafft heute ein breiter Graben im Boden. Immer wenn der Bach anschwillt, reißt er große Erdmassen aus den benachbarten Feldern davon.

In das Dorf der Bäuerin Zewditu führt erst seit wenigen Jahren eine Straße. Wäre da nicht der eine oder andere Bauer mit einem Transistorradio oder ein Soldat mit einer Maschinenpistole, könnte man meinen, die Moderne sei hier nicht angekommen. Die Bauern spannen Ochsen vor ihre primitiven Pflüge, mit denen sie die steinigen Äcker bewirtschaften. Händler treiben Maulesel, auf denen sie ihre Waren transportieren, von einem Markt zum nächsten. Abends tragen die Frauen das Wasser vom Fluß in unhandlichen Tonkrügen auf den Rücken in ihre Häuser. Viele Menschen hier sind in grobes Sackleinen gekleidet. Szenen wie aus dem Mittelalter.

Nirgendwo sonst scheint Afrika so grau wie in Äthiopien. In den Dörfern der Amhara-Region halten alle die Hand auf, egal ob sie Kinder oder Erwachsene sind, egal ob europäischer oder afrikanischer Besuch kommt. Hier wurde, so scheint es, seit den großen Hungersnöten der siebziger und achtziger Jahre eine Gesellschaft der Bettler herangezogen. Ausnahmen gibt es. Etwa jene Bauern, die sich am Straßenbau beteiligen und dafür etwas Geld oder einen Sack Hirse bekommen.

Oder jene, die bei Terrassierungsarbeiten helfen, mit denen eine weitere Erosion verhindert werden soll. Schon nach einigen Regenzeiten sammelt sich oberhalb der kleinen Steinwälle auf allen Hügeln ringsum zentimeterdick fruchtbarer Mutterboden. Ohne Terrassierung mit Steinen und Büschen wäre die fruchtbare Erde unwiederbringlich in die Flüsse geschwemmt worden und über den Nil irgendwann im Mittelmeer angekommen.

In der Gelamatebia-Baumschule, nicht weit vom Dorf der Bäuerin Zewditu, zieht eine äthiopische Hilfsorganisation in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welthungerhilfe Setzlinge: Avocados, Papayas und Zitrusfrüchte, auch Zwiebeln und Tomaten. Bis vor vier Jahren, als die Helfer hier die ersten Bananenstauden setzten, kannten die Menschen Bananen nur aus den Erzählungen jener, die sehr weit gereist waren. Durch den Verkauf der Setzlinge soll das Nahrungsangebot für die Menschen verbreitert werden.

Doch solche Maßnahmen können nicht den Landhunger befriedigen. Die Regierung Meles versucht, die Menschen in den Dörfern zu halten, um einen Zuzug in die Städte zu verhindern. Wenn ein Bauer zu lange nicht in der Kebelle, der Gemeinde, anwesend ist, dann kann der Staat ihm sein Land wegnehmen, das nicht ihm, sondern dem Staat gehört. Durch Erbteilung und Erosion werden die Äcker immer kleiner, schrumpfen auf durchschnittlich weniger als einen Hektar. Eine Generation landloser Jugendlicher wächst heran. Eine Privatisierung der Böden würde manchen Bauern dazu ermutigen, in sein Land, so klein es auch ist, zu investieren, Bewässerungskanäle zu ziehen und aus eigenem Antrieb gegen die Erosion vorzugehen.

Der Hunger der Bäuerin Zewditu erregt keine Aufmerksamkeit. In ihr Dorf kommt, so sagt sie, einmal die Woche ein Lastwagen mit Hilfsgütern, die von den Behörden verteilt werden. Ein Drittel der Menschen sind hier auf Nahrungshilfe angewiesen, obwohl es keine Hungersnot gibt. Zewditu hat sich abgefunden mit der Misere im einstigen Brotkorb Äthiopien. Hier müssen sich die Menschen immer wieder abfinden, auch mit den Plagen, die das Land mit alttestamentarischer Tücke heimsuchen: Wenn es eine Dürre gibt, folgen darauf sicher Überschwemmungen. Wenn die Ernte gut ist, kommen sicher Schwärme von Heuschrecken und fressen innerhalb von Stunden die Ernte auf.

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