Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wettlauf gegen die Zeit

Äthiopien sitzen schier unlösbare Probleme im Nacken

Von Fabian Lambeck *

Äthiopien hat einige der besten Läufer aller Zeiten hervorgebracht. Nun befindet sich das bettelarme Land selbst in einem Rennen. Es ist ein Wettlauf ums Überleben.

Äthiopier sind gute Läufer. Das afrikanische Land hat einige der größten Marathonläufer aller Zeiten hervorgebracht. So wie den zweifachen Olympiasieger Haile Gebrselassie, der noch immer jeden Morgen den Smog der Hauptstadt Addis Abeba hinter sich lässt und mit einer kleinen Schar treuer Mitstreiter den heiligen Berg Etoto hinaufrennt. Hier oben, wie im gesamten Hochland von Abessinien, ist die Luft dünn. Doch Menschen wie Gebrselassie sind es gewohnt, den Wettkampf auch unter widrigsten Bedingungen aufzunehmen. Unvergessen ist die Läuferlegende Abebe Bikila. Bei der Olympiade in Rom 1960 gewann der äthiopische Volksheld Gold, obwohl er die Marathonstrecke barfuß lief. »Man sagt, er habe der Welt damals zeigen wollen, unter welchen Umständen die Menschen hier trainieren mussten«, erzählt mir Thomas, ein Student, der den Besucher aus Deutschland auf den dicht bewaldeten Etoto geführt hat.

Von hier oben kann man an klaren Tagen bis zum Horizont schauen, wo einzelne Kegelberge aus der weiten, dicht besiedelten Ebene wachsen. Dort unten laufen tagtäglich 85 Millionen Menschen um ihr Leben. Man könnte meinen, das ganze Land befinde sich in einem Wettlauf. Es ist ein Rennen gegen die Zeit. Und es ist ein Rennen mit ungewissem Ausgang - zu groß die Probleme, zu arm das Land.

Jedes zweite Kind ist unterernährt

Da ist zum einen das Bevölkerungswachstum: Als die Italiener im Jahre 1936 das unabhängige Kaiserreich Abessinien nach langen, grausamen Kämpfen besetzten, zählte das Land gerade einmal 15 Millionen Einwohner. Bereits 2025 muss Äthiopien voraussichtlich mehr als 125 Millionen Menschen ernähren. Dabei kann die rückständige Landwirtschaft schon heute nicht einmal alle Einwohner ausreichend versorgen - jedes zweite Kind gilt als unterernährt.

Wer auf dem Markt von Debark, einer kleinen Stadt im Norden des Landes, mit den Bauern ins Gespräch kommt, erfährt schnell, warum so viele hungrig bleiben. »Uns fehlt das Geld für Dünger, dabei sind die Böden schon so ausgelaugt«, klagt ein Farmer. »Außerdem sind meine Felder viel zu klein. Ich kann ja kaum meine Familie ernähren.« Da das Land nicht an den Erstgeboren vererbt, sondern unter den Geschwistern aufgeteilt wird, schrumpft die Größe der Felder mit dem Tod jedes Familienoberhauptes. So präsentiert sich das Hochland als bunter Flickenteppich aus kleinen Parzellen, von denen manche nur Wohnzimmergröße haben. Auf den Äckern hocken die Bauern und schneiden das Getreide mit Messern oder kleinen Sensen - oftmals nur wenige Halme mit einem Schlag. Jede Ähre ist kostbar, nichts darf verloren gehen.

Ob die Regierung von Ministerpräsident Meles Zenawi dieses Wettrennen gegen den Hunger gewinnen wird, ist völlig ungewiss. Doch man hat den Kampf aufgenommen. Mit Hilfe Chinas modernisiert das Land seine Infrastruktur. Überall entstehen neue Straßen, werden alte endlich asphaltiert. Gleich mehrere große Staudammprojekte werden zur Zeit realisiert. Nicht immer sind diese unumstritten. So soll der Omofluss im unberührten Süden des Landes aufgestaut werden. Tausenden Angehörigen bislang kaum kontaktierter Völker droht die Umsiedlung. Weite Teile eines Nationalparks werden in den Fluten versinken. Doch das Land braucht die Elektrizität, braucht Wasserreserven, denn die Regenzeit ist kurz und fällt in manchen Jahren ganz aus.

Manchmal entscheidet sich die Regierung bei ihrem Wettlauf aber für die falsche Strecke: So verpachtet man Land an ausländische Investoren. Auf den ersten Blick scheint die Strategie aufzugehen: Rund um die Hauptstadt und im fruchtbaren Südwesten des Landes entstehen riesige Farmen und Gewächshäuser. Doch anstatt den äthiopischen Markt mit den dringend benötigten Nahrungsmitteln zu versorgen, exportieren die Investoren Obst, Gemüse und Schnittblumen auf die arabische Halbinsel und nach Europa.

Ein weiterer Gegner in diesem Wettrennen ist die hohe Analphabetenrate. Auch die kommunistische Regierung von Mengistu Haile Mariam, die das Land von 1974 bis 1991 beherrschte, erzielte hier keine großen Fortschritte. Noch heute können beinahe 60 Prozent der Äthiopier weder lesen noch schreiben.

Doch die Regierung hat auch diese Herausforderung angenommen. Überall im Land entstehen neue Bildungseinrichtungen. Trotz bestehender Schulpflicht lassen viele Eltern ihre Kinder nicht ziehen. Sie werden auf den Feldern und Weiden gebraucht. Die enorme Geburtenrate macht vernünftige Bildungspolitik nahezu unmöglich. Wenn jedes Kind zur Schule ginge, dann säße mehr als die Hälfte aller Äthiopier auf der Schulbank. Schon heute wird im Zwei-Schicht-Betrieb unterrichtet. Anders wäre der Ansturm der wissbegierigen Jugend kaum zu bewältigen.

Das Land ist jung. Überall begegnen einem Kinder: viele barfuß und in abgetragener Kleidung. Trotz der offensichtlichen Armut schaut man selten in traurige oder hoffnungslose Gesichter. Und als ob die Kinder wüssten, dass sie Teil einer Mannschaft sind, die kollektiv ums eigene Überleben rennt, sind sie ständig in Bewegung, umschwirren den Gast aus dem fernen, reichen Deutschland. »Das Leben ist schon schwierig genug. Da darf man doch nicht traurig sein«, erklärt mir ein Schuljunge auf englisch. Wie so viele seiner Altersgenossen hofft auf er auf ein Studium und einen Job in der Hauptstadt. Computerprogrammierer möchte er werden. Auch wenn er bislang nur die altersschwachen Geräte aus einem Internet-Café kennt. Private Rechner sind ein Luxus, den sich niemand leisten kann. Zumal die wenigsten Haushalte über einen Stromanschluss verfügen. Doch Äthiopier sind nicht nur gute Läufer, sondern auch passionierte Träumer. Für seinen Traum vom besseren Leben legt der kleine Junge jeden Tag mehr als 20 Kilometer zurück - zu Fuß wohl gemerkt. »Der Weg zur Schule ist lang, aber in meinem Dorf gibt es nur Hütten«, erklärt er mir.

Das Problem mit dem Feuerholz

In den meist fensterlosen Behausungen aus Lehm und Holz ist die Feuerstelle der Mittelpunkt des familiären Lebens. Hier werden die Bohnen geröstet, aus dem die Frauen köstlichen Kaffee brühen. Hier wird gebacken und geplauscht. Die ohnehin großen Familien teilen ihre Hütten oftmals mit ihrem Vieh. Während man seinen Kaffee aus kleinen Tassen schlürft, wird der Besucher neugierig von Hühnern und dürren Schafen beäugt. So romantisch ein offenes Feuer im Haus auch sein mag: Viele hier husten, weil die Rußpartikel schwer in der Luft hängen. Zudem fressen die Millionen Feuer, die jeden Tag neu angezündet werden, die wenigen noch verbliebenen Bäume. Äthiopien hat in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 90 Prozent seines Waldbestands verloren.

Wo aufgeforstet wird, da pflanzt man schnell wachsenden Eukalyptus. Doch die ursprünglich in Australien heimischen Bäume sorgen für neue Probleme, denn ihre tiefen Wurzeln zehren die Grundwasservorräte auf. Wo nicht aufgeforstet wird, da trägt die Erosion das fruchtbare Land davon: Schwere Dürren und Hungersnöte sind die Folge.

Und so fragt sich der Besucher, ob dieses rohstoffarme Land den Wettlauf gegen seine vielen Gegner überhaupt gewinnen kann. »Was sollen wir machen?«, zuckt Student Thomas mit den Schultern und blickt vom Berg Etoto hinunter: »Aufgeben können wir ja schlecht. Wenn wir diesen Wettlauf verlieren, dann wird das Land in einem Alptraum versinken«.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 20. April 2012


Zurück zur Äthiopien-Seite

Zurück zur Homepage