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Fette Lügen und reine Spekulation

Jahresrückblick 2012. Heute: Afghanistan. Der angebliche »Abzug 2014« ist in den Planungen der NATO nicht vorgesehen

Von Knut Mellenthin *

Seit elf Jahren beteiligen sich Deutschland und andere NATO-Staaten am Bürgerkrieg in Afghanistan. Das ist, vor allem für die betroffene afghanische Bevölkerung, eine unendlich lange Zeit. Die propagandistischen Behauptungen der westlichen Allianz, welche Ziele man dort erreichen wolle und mit welchem Zeitrahmen zu rechnen sei, haben sich in diesen elf Jahren unüberschaubar oft geändert. Aber Schluß sein soll nach dem Willen der westlichen Politiker und Militärs noch lange nicht: Sie wollen noch mindestens weitere zwölf Jahre, bis Ende 2024, mit mehreren tausend Soldaten in Afghanistan »präsent bleiben«. Wenn es nach ihnen ginge, könnten es vielleicht bis zu 35000 Mann sein, mit denen sie sich dort dauerhaft festsetzen wollen. Das entspräche ungefähr einem Drittel der gegenwärtigen Stärke der internationalen Besatzungstruppen. Das Ganze steckt in einer hübschen Verpackung mit rosa Schleifchen, auf der »Abzug« steht.

Dem deutschen Außenminister Guido Westerwelle ist für seine ständig wiederholte Formel, bis Ende 2014 solle der »Abzug aller Kampftruppen« aus Afghanistan erfolgen, ein gewisser Erfolg nicht abzusprechen. Ob der Mann wirklich nicht weiß, wovon er spricht, oder ob er bewußt mit einer fetten Lüge durch die Pressekonferenzen tourt, wird sich kaum aufklären lassen. Fakt ist jedenfalls: Es gibt keinen NATO-Beschluß und keine offiziellen Ankündigungen des Bündnisses, die eine solche Aussage enthalten.

Das Jahresende 2014 als Marke tauchte erstmals auf dem Lissaboner NATO-Gipfel im November 2010 auf. Zum damaligen Zeitpunkt war damit aber nur das erklärte Ziel verbunden, bis Ende 2014 den »phasenweisen Übergang der Sicherheitsverantwortung« von der International Security Assistance Force (ISAF) auf die afghanischen Sicherheitskräfte abzuschließen. Auf dem Chicagoer NATO-Gipfel im Mai 2012 wurde die Planung dahingehend erweitert, zum 31. Dezember 2014 die ISAF-Mission zu beenden und sie durch eine neue Mission zu ersetzen, für die man sich wieder die Legitimation durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats holen will. Tatsächlich hat dieses Gremium seit 2001 alljährlich die Verlängerung des ISAF-Mandats einstimmig durchgewunken, zuletzt im Oktober dieses Jahres.

Die NATO wolle bis Ende 2014 »die Veränderung von einer Kampfmission zu einer neuen Ausbildungs-, Beratungs- und Unterstützungsmission« vollziehen, hieß es weiter in der Chicagoer Erklärung. In Wirklichkeit heißt das nicht »Abzug aller Kampftruppen«, sondern ist eine propagandistisch effektvolle, zurechtgeschliffene Neudefinition des offiziellen Auftrags. US-Präsident Barack Obama nannte im Mai in seiner Wahlkampfrede auf dem Stützpunkt Bagram ausdrücklich die »Terrorbekämpfung« als eine zentrale Aufgabe der in Afghanistan stationierten US-Truppen über 2014 hinaus. Die US-Medien gehen davon aus, daß Obama »Tausende« Angehörige verschiedener Spezialeinheiten langfristig in Afghanistan lassen will. Wahrscheinlich wird ihre Rolle ebenso wie die der bewaffneten Drohnen nach 2014 künftig eher zunehmen als abgebaut werden. Ihre zentrale Aufgabe besteht darin, durch die Ermordung von Funktionären der Zivilverwaltung und durch permanente Einschüchterung der Bevölkerung in den von den Taliban beherrschten Gebieten, beispielsweise durch die gefürchteten nächtlichen Überfälle, eine Konsolidierung des Aufstands zu verhindern.

Und Deutschland? Die Bundesregierung versucht schon jetzt, das falsche Bild zu verbreiten, nach 2014 werde die Aufgabe deutscher Soldaten in Afghanistan »ausbildungsfokussiert« sein. Tatsächlich ist das nur eine ihrer Aufgaben, die sie zudem auch gegenwärtig schon wahrnehmen. Ein mindestens ebenso wichtiger Bestandteil der deutschen Mission nach 2014 soll das sogenannte »Mentoring« sein, das am 15. Mai im Spiegel so beschrieben wurde: »Im Zuge dieser Projekte begleiten kleine deutsche Einheiten größere Gruppen der Afghanen und beraten sie bei der Ausbildung bis hin zur Durchführung von Operationen.« Selbstverständlich können die so deklarierten deutschen »Berater« dabei schnell in Kampfsituationen kommen. Deshalb legitimiert die Bundesregierung schon jetzt im voraus einen weiteren Pfeiler der von ihr gewünschten künftigen deutschen Mission, den sogenannten »robusten Selbstschutz«. Der Spiegel hat für diese Kategorie militärischer Einheiten den dekorativen Ausdruck »Schutzsoldaten« erfunden. Wenn das irgendeinen Sinn haben soll, wird es sich nach ihrer Bewaffnung und Ausrüstung, nach ihrer Ausbildung und ihrem Auftrag selbstverständlich um Kampftruppen handeln.

Es paßt ins Bild, daß die Bundeswehr ausgerechnet jetzt, zwei Jahre vor der Fata Morgana »Abzug aus Afghanistan«, erstmals zwei Kampfhubschrauber erhalten hat, um die sie bis dahin vergeblich geworben hatte. Zwei mit schweren Maschinengewehren, steuerbaren und nicht steuerbaren Raketen ausgerüstete Helikopter vom Typ »Tiger« wurden im Dezember mit einem Riesentransporter nach Afghanistan geflogen und sollen im Februar ihre ersten Flüge absolvieren. Zwei weitere »Tiger« sollten noch in diesem Monat folgen.

Liest man die Willensbekundungen westlicher Politiker und Militärs für die Zeit nach 2014, spielt darin die »Unterstützung« der afghanischen Streitkräfte eine zentrale Rolle. Die Fülle der sich daraus ergebenden oder damit motivierten Tätigkeiten kann man sich überhaupt nicht groß genug vorstellen. Eine Schlüsselzahl: Nach einem Pentagon-Bericht, der im Dezember dem Kongreß vorgelegt wurde, ist von 23 Brigaden der afghanischen Armee nur eine einzige »imstande, aus eigener Kraft ohne Luftunterstützung oder andere Hilfestellung der USA oder der NATO zu operieren«. Zu einer Brigade können zwischen 3000 und 5000 Soldaten gehören. Die US-Streitkräfte werden die meisten ihrer Stützpunkte noch vor 2014 formal den Afghanen unterstellen und dort nur noch den Status von Gästen haben. In Wirklichkeit ist Afghanistan weder in der Lage, diese Basen finanziell und technisch zu unterhalten, noch gar sie selbst zu betreiben.

Und die künftige Stärke der internationalen Truppen nach dem sogenannten »Abzug« Ende 2014? Der Spiegel zitierte am 9. Oktober eine »geheime Analyse« des BND. Dieser zufolge sollen rund 35000 Soldaten in Afghanistan bleiben, darunter 25000 US-Amerikaner. Insiderwissen oder echte Arbeit steckte nicht dahinter: Dieselben Zahlen konnte man schon Anfang Mai in US-Medien lesen – unter Berufung auf die berühmten anonymen »Officials«.

Am anderen Ende der Skala liegt die Los Angeles Times, die am 11. Dezember mutmaßte, die Obama-Administration wolle nach dem »Abzug« nur 6000 bis 9000 Soldaten in Afghanistan lassen. Das würde Obama allerdings heftigen Polemiken der republikanischen Opposition aussetzen. Die LA Times nannte aber immerhin einen gewichtigen Grund für die Korrektur früherer »Visionen« nach unten: So könne vielleicht die Unterstützung von Präsidenten Hamid Karsai gewonnen werden, »der die ausländische Truppenpräsenz in seinem Land scharf schrumpfen will«.

Was vor allem in Deutschland, dem Weltmeister in nationaler Überheblichkeit, regelmäßig übersehen wird: Wenn über die nächste NATO-Mission nach 2014 gesprochen wird, sitzt die afghanische Regierung mit am Tisch. Und die bettelt nicht händeringend darum, daß möglichst viele ausländische Soldaten mit »open end« im Lande bleiben. Der nächste wichtige Termin ist der 7. Januar, wenn Karsai nach Washington kommt. Derzeit gilt jedoch immer noch: Weder die NATO insgesamt noch irgendeine Regierung eines Interventionslandes hat bisher öffentlich Zahlen für die Zeit nach 2014 vorgeschlagen. Alles, was trotzdem kursiert, sind Spekulationen.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 18. Dezember 2012


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