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Afghanistan - vier Jahre danach

Am 7. Oktober 2001 begann der US-Krieg in Afghanistan - Eine Bestandsaufnahme

Von Jim Lobe*

Der vierte Jahrestag der US-Militäroperationen gegen das Taliban-Regime in Afghanistan steht kurz bevor - mit einer eher gemischten Bilanz, meinen Experten hier in den USA.

Dass die Regierung von Präsident Hamid Karsai relativ stabil dasteht und die erfolgreichen afghanischen Parlamentswahlen auf Bundes- bzw. Regionalebene im September geben US-Politikern gewissen Grund zur Zufriedenheit.

Unabhängige Analysten hingegen sehen Afghanistan noch immer am Tropf der Auslandshilfe und von einer Vielzahl Problemen bedroht - vom Wiederaufflammen des Taliban-Aufstands bis zu den Problemen der einheimischen Wirtschaft, die ja hauptsächlich auf illegalem Drogenhandel basiert. v Die Trainingsprogramme für die Nationalarmee bzw. die Polizei hinken dem Zeitplan massivst hinterher, und auf dem flachen Land stehen weite Landstriche unter der Kontrolle der lokalen Warlords. Gleichzeitig stieg - seit dem Frühjahr - die Zahl der durch die Taliban-Streitkräfte bzw. deren engsten Verbündeten Gulbuddin Hekmatyar getöteten Zivilisten bzw. US-Soldaten sprunghaft an.

Bislang wurden dieses Jahr schon 86 US-Soldaten in Afghanistan getötet. Zum Vergleich: Zwischen dem 7. Oktober 2001 (dem Tag, an dem Washington die Operation zum Sturz der Taliban einleitete) und Ende 2002 starben 55 US-Soldaten in Afghanistan. Im ersten Halbjahr 2005 wurden in Afghanistan mehr als 1200 Menschen getötet (laut der Organisation International Crisis Group (ICG)).

“Der Krieg in Afghanistan hat eine Dynamik entwickelt, wie man sie nicht erwartet hätte”, so der frühere CIA-Mitarbeiter Michael Scheuer. Scheuer war seit Ende der 90ger Jahre von der CIA mit der Aufgabe betraut, Al-Kaida-Chef Osama bin Laden in Afghanistan zu fangen (siehe Scheuers Buch: ‘Imperial Hubris’).

Manchem fällt auf, dass die Angriffe der Aufständischen in Afghanistan seit letztem Jahr immer ausgeklügelter wurden. Es existieren Beweise, dass radikale Islamisten, die gegen die US-Streitkräfte im Irak kämpften, nach Afghanistan eingesickert sind - samt Ausrüstung, samt ihrer Erfahrung und ihrer im Irak erworbenen Fachkenntnisse.

Selbst die Parlamentswahlen sind für manche Beobachter enttäuschend. Man hatte mit einer Wahlbeteiligung von rund 70% der Stimmberechtigten gerechnet - wie bei den Präsidentschaftswahlen 2004.

Stattdessen haben nur rund 53% der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. In den sicheren Landesteilen hätten jene die meisten Stimmen erzielt (zum Beispiel Ramyan Bachardost in Kabul), die volksnahe Wahlkampagnen führten, in denen vor allem die Korruption und der verschwenderische Umgang mit internationalen Hilfs- und Wiederaufbaugeldern gegeißelt wurden, meint der Analyst der New York University, Barnett Rubin.

Rubin, Scheuer und andere Experten sprachen am Mittwoch in Washington auf einem Forum zum Thema: Welche Chancen hat der Fortschritt in Afghanistan? Die Veranstaltung wurde gesponsert von der George Washington University und dem Center for American Progress (CAP).

Zwar ist das afghanische Bruttosozialprodukt sprunghaft gestiegen, seit Hamid Karsai Chef der Übergangsregierung wurde (siehe Bonn-Petersberg-Abkommen vom Dezember 2001). Auch die Zahl der afghanischen Kinder, vor allem der Mädchen, die eine Schule besuchen dürfen, ist enorm gestiegen. Aber das Elend der meisten Menschen im ländlichen Raum bleibt gravierend. Afghanistan zählt nach wie vor zu den sechs ärmsten Ländern der Welt und hat die höchste Rate an unterernährten Menschen - 70%. Das ergab eine Studie des US-Außenministerium, die im Juli herauskam.

Derzeit seien in Afghanistan nur zwei Bereiche der ökonomischen Aktivität erkennbar: Was nicht mit den internationalen Hilfsprogrammen zusammenhänge, gehöre dem anderen Bereich an, dem Drogenhandel - so die Experten. Der Drogenhandel ist, neben der Korruption (wobei beides oft miteinander zusammenhängt), das größte Problem im Land. Das gab letzten Monat sogar Hamid Karsai zu. Mittlerweile macht der Anbau und Transport (trafficking) des Opiums 60% der afghanischen Wirtschaft aus (und den Gegenwert von über 2,8 Milliarden Dollars), so eine Schätzung der UN-Drogenagentur von Anfang diesen Jahres.

In einem Bericht aus dem Jahr 2004 warnt das Außenministerium, Afghanistan stehe “kurz davor, ein Narkostaat zu werden”. Afghanistan produziere fast 90% des Weltopiums. Zwar soll die Ernte 2005 - laut eines aktuellen UN-Reports - etwas schlechter ausgefallen sein, dafür wird in Afghanistan seit 2004 auch noch Heroin hergestellt.

Dass das Land inzwischen so massiv von den Drogen abhängt, ist für die USA und die anderen internationalen Geberländer ein nicht zu unterschätzendes Problem, sagt Barnett Rubin, der damals in Bonn-Petersberg beratend für die UN tätig war.

“Man kann nicht einerseits eine Politik des ‘nation building’ betreiben und andererseits eine Politik, die einen wichtigen Wirtschaftszweig einfach ausschaltet”. Der Anbau von Schlafmohn habe sich zwischenzeitlich über sämtliche afghanische Provinzen ausgebreitet, so Rubin weiter, “und eine umfassende Entwicklungsstrategie... zum Aufbau einer legalen Wirtschaft ist nicht erkennbar”.

Der damalige Botschafter James Dobbins, Topanalyst der Rand Corporation, hatte bei den Bonner Gesprächen 2001 die Interessen der USA vertreten. Er pflichtet Rubin bei. “Eine kurzfristige Strategie” um die wirtschaftliche Abhängigkeit Afghanistans vom Drogenhandel substantiell zu beenden, “ist für mich nicht erkennbar”, so Dobbins.

Jeder Versuch, den Schlafmohnanbau in dieser Situation zu stoppen, werde zu einer weiteren Verelendung der ländlichen Gebiete führen. Mehr noch, die ohnedies wachsende Kluft zwischen der Regierung in Kabul und dem Rest des Landes würde so noch weiter vertieft, meint Rubin. Seiner Ansicht nach trägt vor allem die “große institutionelle Kluft” zwischen den Basis-Gruppen vor Ort, die meistens rund um eine Moschee organisiert seien, zu der sich vergrößernden Kluft und dem zunehmenden Entfremdungsgefühl gegenüber der Zentralregierung in Kabul bei.

Hinzu komme die Tatsache, dass die Moslemgeistlichen des Landes - ausgestattet mit einem nationalen Netzwerk, das in der Lage sei, die Bevölkerung in einer Weise zu mobilisieren, wie dies der Zentralregierung oder den Lokaladministrationen unmöglich sei -, sich noch immer nicht darauf verständigen konnten, die Regierung als legitim anzuerkennen. Dies mache das US-gestützte Regime zusätzlich verwundbar, so Rubin.

Ein weiteres Problem sei die fehlende Kohärenz der Regierung, meint Nazif Sharani, ein in Afghanistan geborener Anthropologe an der Indiana University. In Wirklichkeit existierten in Afghanistan “drei bis vier Regierungen” - das UN-Büro und die Botschaft der USA in Kabul, die internationalen NGOs, die die meisten internationalen Hilfen verwalteten und natürlich die Karsai-Regierung; “die fünfte (Regierung) ist nun das Parlament”, so Sharani. Letztere beschreibt er als ein Sammelsurium unterschiedlicher Ansichten, Interessen und Ideologien.

Der Versuch, eine Zentralregierung aufzubauen, sei ein entscheidender Fehler der USA bzw. der internationalen Gemeinschaft gewesen - vor allem der Armee- und der Polizeiapparat würden fast die Hälfte des Staatshaushalts verschlingen. Das gehe zu Lasten der Autonomie und des Empowerments vor Ort, so Sharani.

“Diese Regierung wird weitermachen - nicht, weil sie die Unterstützung des Volkes hat”, so Sharani, “sondern, weil sie (die Menschen) die Rückkehr der Taliban fürchten”.

Ein weiterer entscheidender Fehler - vor allem der USA - sei es gewesen, “Ressourcen, die man für Afghanistan hätte verwenden sollen, ja, müssen” andernorts einzusetzen, meint James Dobbins. Sie wurden für die Vorbereitung des Irakkriegs gebraucht. Allerdings habe die US-Regierung ihr Engagement in Afghanistan zwischenzeitlich wieder aufgestockt, merkt er positiv an.

“Wir haben inzwischen rund doppelt so viele Soldaten dort (fast 20 000), wie im ersten Jahr und leisten das Vierfache an Unterstützung”, so Dobbins.

* Quelle: Inter Press Service; ZNet Deutschland (8. Oktober 2005): www.zmag.de


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