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"Die Afghanen sind völlig desillusioniert"

Über Pakistans Geheimdienstintrigen, die Schwächen der Karsai-Regierung in Kabul und die Macht der Kriegsfürsten fünf Jahre nach der US-Invasion. Gespräch mit Sarah Chayes

Die US-Amerikanerin Sarah Chayes (44) kam vor drei Jahren als Journalistin ins afghanische Kandahar. Heute leitet sie dort eine Genossenschaft zur Förderung lokaler Agrarproduktion (www.arghand.org). Sie spricht fließend Paschtu, die Landessprache des Südens. In ihrem nun erschienenen Buch "The Punishment of Virtue: Inside Afghanistan After the Taliban" (Penguin Press) schildert Sarah Chayes die Lage am Hindukusch fünf Jahre nach der US-Invasion.



Fünf Jahre nachdem die US-Armee die Taliban in Afghanistan in die Flucht geschlagen hat, wächst deren Widerstand gegen die Besatzungstruppen. Viele glauben, daß die Taliban schon bald die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung auf ihrer Seite haben könnten. Was ist – aus US-Sicht – verkehrt gelaufen bei der Militäroperation »Enduring Freedom«?

Ich glaube nicht, daß es korrekt wäre, zu sagen, die Taliban hätten möglicherweise schon bald die Mehrheit der Afghanen hinter sich. Tatsächlich hat das Wiedererstarken der Taliban mit einer Art Invasion aus Pakistan zu tun, die die tiefe Desillusion der Bevölkerung über die afghanische Regierung auszunutzen versucht. Aber diese Desillusion ist nicht ideologisch begründet – weder religiös noch anderweitig –, ganz im Gegenteil: sie resultiert aus dem Alltag; wenngleich natürlich nicht auszuschließen ist, daß sie sich manchmal auch in der Sprache der Ideologie ausdrückt.
Die afghanische Regierung hat es versäumt, die Bevölkerung mit den grundlegendsten Dingen zu versorgen. Im wesentlichen behandelt sie die Menschen nicht besser als Vieh.
Die Fehler der Amerikaner in Afghanistan waren zweifacher Art: Zum einen haben sie für ihren Kampf gegen die Taliban zwielichtige Kriegsfürsten rekrutiert und ihnen obendrein noch zu politischer Macht verholfen, ohne auch nur irgendeine Form der Rechenschaft von ihnen zu verlangen. Zum anderen haben die USA die Zusicherungen der pakistanischen Regierung für bare Münze genommen und sind eine Allianz mit ihr eingegangen im Kampf gegen eine Bewegung – die Taliban –, die Islamabad in erster Linie selbst geschaffen hat. Weil die USA sich darauf eingelassen haben, sind sie nun in dessen Doppelspiel verstrickt.

Pakistan – als vermeintlicher Bündnispartner Amerikas im Kampf gegen den Terrorismus – spielt gleichzeitig eine aktive Rolle bei der Unterstützung der Taliban. Wie geht das zusammen?

Die pakistanische Regierung hat die Taliban geschaffen. Sie hat die religiösen Extremisten manipuliert, um ihre regionalen Pläne für die nächsten 30 Jahre voranzutreiben. Das hat sich auch nach dem 11. September 2001 nicht geändert – nur daß die pakistanischen Behörden diese Politik nun weitaus geschickter und heuchlerischer fortsetzten, um den Anschein zu wahren, die USA im Krieg gegen den Terror zu unterstützen. In Wirklichkeit arbeiten sie daran, ihn teilweise zu sabotieren.

Wußte der von Washington installierte afghanische Präsident Hamid Karsai davon?

Ja.

Wie sollte dann die US-Regierung nichts davon wissen?

Schwierig zu sagen, aber amerikanische Behörden können manchmal etwas naiv sein.

Welche regionalen Ziele verfolgt Pakistan?

Vorherrschaft über oder zumindest Destabilisierung von Afghanistan und Unterjochung der Paschtunen-Bevölkerung. Pakistans Ziele werden von der fundamentalistischen Militärclique bestimmt, den eigentlichen Drahtziehern hinter der Regierung; sie sind nicht unbedingt auch die Ziele der Bevölkerung des Landes.

Ein Zitat aus Ihrem Afghanistan-Buch: »[...] US-Truppen, die die zurückgekehrten Taliban bekämpften, befanden sich plötzlich in der seltsamen Lage, gegen einen Gegner antreten zu müssen, der ihnen von einem Land geschickt worden war, das vorgab, ihr Bündnispartner zu sein. Als Washington im Sommer des Jahres 2003 Pakistan mit 3,5 Milliarden Dollar belohnte, hatten die amerikanischen Truppen, die diese Nachricht im Fernsehen sahen, in der Tat allen Grund anzunehmen, daß ein großer Teil dieser Steuergelder von US-Bürgern eben jenen Taliban zufließen würde, deren Angriffe sie niederschlagen sollten. Mit anderen Worten: Washington unterstützte Terroristen, die es gleichzeitig zu bekämpfen vorgab. Der Krieg gegen den Terror war eine Farce.« Wie reagierte die amerikanische Öffentlichkeit auf diese brisanten Enthüllungen?

Es erstaunt mich immer wieder, wie wenig die amerikanische Öffentlichkeit an den Nachrichten über Afghanistan interessiert ist. Vielleicht liegt es auch daran, daß das Geschehen im Irak alles andere überlagert.

Sie schreiben über einen aufsehenerregenden Vorfall, zu dem Sie 2001 mit Hilfe von Augenzeugen recherchiert haben. Den Beitrag aber wollte der zuständige Redakteur beim US-Sender National Public Radio, für das Sie damals gearbeitet haben, nicht ausstrahlen. Worum ging es da?

Es ging um einen dieser Kriegsfürsten – einen gewissen Gul Agha Shirsai, der mit seinen Männern die Stadt Kandahar eroberte. Allerdings nicht von den Taliban, sondern von einem Verbündeten Karsais, der nach der Aufgabe der Taliban die Kontrolle über die Stadt innehatte. Shirsai war von der US-Armee dazu angestachelt worden, von derselben Armee also, die gleichzeitig auch Präsident Karsai stützen sollte. Amerika verhalf auf der einen Seite Hamid Karsai zur Präsidentschaft in Afghanistan, verhinderte aber gleichzeitig, daß er seine eigenen Gouverneure ernannte. Diese Art, ein neues Afghanistan zu errichten, war von Anfang an zutiefst widersprüchlich.

Wie hat National Public Radio die Ablehnung begründet?

Man hat mir damals gesagt, daß das niemanden interessieren würde. Außerdem sei zu einem späteren Zeitpunkt noch genug Zeit für Berichte über solche vermeintlichen Querelen zwischen afghanischen Stammesgruppen. Im Grunde haben sie die eigentliche Bedeutung dessen, was ich da zu beschreiben versuchte, nicht erkannt. Statt dessen wollten sie mehr Material über die Taliban und ihre Grausamkeiten.

Sie sagen also, US-Spezialeinsatzkräfte hätten ganz gezielt einen Kriegsfürsten gegen den von Amerika gestützten Hamid Karsai, damals noch Interimspräsident, aufgestellt. Das ergibt auf den ersten Blick keinen Sinn. Wie erklären Sie sich das Vorgehen?

Die einzige Erklärung, die ich dafür finden kann, ist, daß es sich dabei möglicherweise um eine stillschweigende Abmachung mit der pakistanischen Regierung gehandelt hat. Der dortige Geheimdienst ISI hatte Shirsai im Oktober 2001 der amerikanischen Botschaft in Islamabad vorgestellt. Nachdem der pakistanische Nachrichtendienst 1994 die entscheidende Rolle bei der Schaffung der Taliban-Bewegung gespielt hatte, galt er den Amerikanern nun als wichtigster Verbündeter bei ihrem Unterfangen, das Taliban-Regime zu stürzen. Ich nehme daher an, Islamabad hatte die Ernennung Shirsais zum Gouverneur von Kandahar zur Bedingung für die Unterstützung im Kampf gegen die Taliban gemacht.

Warum sollte sich die US-Regierung ausgerechnet den Vorstellungen Pakistans beugen?

Zum Teil geschah dies aufgrund von Ignoranz: Amerika hatte in den 1990ern nur wenige Posten in Afghanistan, und daher auch nur wenig neutrale Informationen. Nach dem 11. September 2001 hat man eilig einige ehemalige CIA-Agenten sozusagen aus dem Ruhestand geholt, ihre Adreßbücher durchgesehen und ihre Freunde vom pakistanischen ISI angerufen, mit denen sie in den 1980er Jahren gegen die Sowjets zusammengearbeitet hatten. Man hatte im Grunde keinerlei Kenntnisse darüber, inwieweit sich pakistanische mit afghanischen Interessen vertragen würden. Darüber hinaus sind derartige Zusammenschlüsse auch immer eine Frage von Machtpolitik. Mit seiner größeren Bevölkerung, seinem Entwicklungsstand und insbesondere den Nuklearwaffen hat Pakistan mehr Gewicht in der internationalen Politik als Afghanistan.
Letzten Endes hat General Musharraf die US-Entscheidungsträger äußerst geschickt getäuscht, indem er sie hat wissen lassen, daß er gegen islamischen Extremismus in der Region ist – während er ihn gleichzeitig instrumentalisiert. Musharraf hat den Westen von seiner Alternativlosigkeit überzeugt, nach dem Motto: Entweder behalte ich die Oberhand, oder die Mullahs werden sie haben. In Wirklichkeit hat er sich mit den Mullahs verbündet. Außen vor bleiben bei diesem Deal die Interessen der meisten Pakistaner.

Gemeinsam mit Quayum Karsai, einem Bruder des afghanischen Präsidenten, haben Sie in Afghanistan einen Acht-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Warlords ausgearbeitet, den Sie sowohl Hamid Karsai vorgestellt haben als auch den amerikanischen Topmilitärs vor Ort. Im ersten Punkt der Aufstellung heißt es: »Beginnen Sie bei Gul Agha Shirsai«; der zweite lautet: »Finden Sie einen Ersatzmann«. Wenngleich Ihr Plan Unterstützung fand, wurde er nie umgesetzt. Woran lag das?

Letztendlich ist Shirsai als Gouverneur von Kandahar abgelöst worden – allerdings durch seinen besten Freund. Er kam ein zweites Mal auf diesen Posten und wurde 2005 erneut abgesetzt.
Die Zurückhaltung bei der Durchsetzung des Plans resultierte aus der Haltung der USA: Wir brauchen diese Männer, damit sie uns im Krieg gegen den Terror helfen ... Dabei wurde völlig außer acht gelassen, daß es ja genau die unverantwortliche Regierungsführung von Männern wie Shirsai war, die die afghanische Bevölkerung so sehr empörte und dazu beitrug, sich nach Alternativen umzusehen, die ihnen die zurückgekehrten Taliban vermeintlich anzubieten hatten.

Welche Rolle spielte der Kriegsfürst Gul Agha Shirsai tatsächlich?

In erster Linie hat er das Geld, das für den Wiederaufbau bestimmt war, gestohlen. Er spielte Stammespoker und erlaubte seinen Milizen und Schlägern, die Bevölkerung auszurauben. Des weiteren befolgte er die Weisungen des ISI, insbesondere indem er wegschaute und absichtlich nicht sehen wollte, was vor sich ging; und er unternahm nicht das geringste, um größere Angriffe von seiten der Taliban oder des ISI zu verhindern.

Sie haben einmal gesagt: »Kriegsfürstentum fördert Terrorismus«. In welcher Weise bedingen sich diese beiden Phänomene?

Kriegsfürstentum heißt, sich mit Hilfe von Waffengewalt Zugang zu allen möglichen Arten von Reichtümern des Landes und seiner Bevölkerung zu verschaffen, durch erzwungene Schmiergelder, Lösegelder, willkürliche Gewalt und so fort. Nachdem die afghanische Bevölkerung nun seit fünf Jahren darunter leidet, hat sie genug von dieser Regierung und interessiert sich nicht dafür, wer sie einmal ablösen wird. Die Menschen in den Dörfern sind nicht mehr bereit, ihren Kopf für diese Regierung hinzuhalten, wenn sie des Nachts von Taliban-Kämpfern »besucht« werden. Im übrigen, was Kandahar betrifft, bestand die Regierung vor Ort ohnehin aus einem Agenten des pakistanischen ISI, der zudem noch die Rückkehr der Taliban protegiert hat.

Der Polizeichef von Kabul, Muhammad Akrem Khakrezwal, der ein guter Freund von Ihnen war, wurde im vergangenen Jahr bei einem Moscheebesuch in Kandahar ermordet. Offiziell wurde von der Tat eines Selbstmordattentäters gesprochen. Sie halten das für unglaubwürdig, zumal die zuständigen Behörden keinerlei Interesse gezeigt haben, dieses Verbrechen aufzudecken. Von wem und warum wurde Akrem Khakrezwal getötet?

Ich habe keinen Zweifel daran, daß der Mord an Khakrezwal vom pakistanischen Geheimdienst geplant und in Auftrag gegeben wurde – in Komplizenschaft mit der Provinzregierung Kandahars. Khakrezwal wurde ermordet, weil er zehn Jahre lang alles versucht hat, um die pakistanischen Machenschaften in Afghanistan aufzudecken. Er war ein echter Brückenbauer, jemand, der mit den Leuten aus allen Ecken Afghanistans zurechtkam und von ihnen anerkannt wurde, ungeachtet ethnischer Unterschiede. Und er war ein vielversprechender Beamter, der mit Sicherheit eine große politische Karriere vor sich hatte.

Viele der Menschen in Kandahar, die noch 2004 große Hoffnung auf ihren paschtunischen Stammesgenossen Karsai gesetzt hatten, sagen heute, daß sie ihr Vertrauen in die Regierung in Kabul verloren haben.

Präsident Karsai hatte niemals den Mut, den Vereinigten Staaten die Stirn zu bieten und mit dem Mandat des Volkes, das ihn damals noch stützte, sich gegen die Herrschaft der Kriegsfürsten zu stellen, die Amerika ihm diktieren wollte. Karsai hat es ebenfalls nie gewagt, sich gegen Pakistan zu erheben. Nach dem Frühjahr 2003 hat er, so scheint es, aufgegeben und zugelassen, daß Korruption und Stümperei seine Regierung verschlingen.

Der Titel Ihres Buches, in dem Sie Ihre Erfahrungen in Afghanistan schildern, lautet: »Die Bestrafung der Tugend«. Was hat Sie dazu bewogen?

Er bezieht sich – nicht ohne Galgenhumor – auf die berüchtigte Religionspolizei der Taliban: dem Ministerium »für die Förderung der Tugend und die Bestrafung der Lasterhaftigkeit«. Als mein im vergangenen Jahr ermordeter Freund Muhammad Akrem einmal von einem der Warlords – der daraufhin zur Belohnung auch noch zum Gouverneur der Provinz ernannt wurde – im Polizeihauptgebäude in Masar-i-Scharif belagert wurde, habe ich im Scherz zu Akrem gesagt, daß diese Regierung geradezu das Gegenteil davon sei: die Förderung der Lasterhaftigkeit und die Bestrafung der Tugend.

Das Gespräch führte Andrea Bistrich

* Aus: junge Welt, 9. Dezember 2006


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