Maulkorb für Malalai
Frauen in Afghanistan. Ein Interview mit Shahla Asad
Die Wochenzeitung "Freitag" veröffentlichte am 16. Januar 2004 ein Interview mit Shahla Asad, Vorsitzende der Revolutionären Assoziation der Frauen Afghanistans (RAWA, Information über RAWA am Ende des Textes), über die neue Verfassung und fundamentalistisches Störfeuer gegen die gleichen Rechte von Männern und Frauen. Wir dokumentieren das Gespräch im Folgenden.
FREITAG: Betrachten Sie die vorliegende afghanische Verfassung als
Erfolg?
SHAHLA ASAD: Das ist eine Frage des Standpunktes. Erst einmal
wird sich am täglichen Leben unserer Frauen überhaupt nichts ändern. Die
entscheidende Frage ist doch: wer sitzt in der Regierung und trägt dort
Verantwortung. Leider ist es derzeit so, dass nach dem Sturz des Taleban
die fundamentalistischen Gruppen der früheren Nordallianz an deren Stelle
getreten sind. Es gibt eine kaum veränderte Situation - noch immer
müssen die meisten Frauen die Burka tragen, noch immer ist es gefährlich
für sie, Jobs anzunehmen, in die Schule oder auf die Straße zu gehen.
Noch immer gibt es in verschiedenen Landesteilen Fälle von Kidnapping
und Mord an Frauen.
Spielt es keine Rolle, dass in der neuen Verfassung gleiche Rechte für
Frauen und Männer verbrieft sind?
Wichtiger wird sein, wie die fundamentalistischen Gruppen, die in der
Regierung eine beträchtliche Rolle spielen, die Verfassung in der Realität
achten.
Haben nicht auch die meisten Delegierten der Loya Jirga unter gleichen
Rechten für Männer und Frauen etwas anderes verstanden als Sie?
Es gab mehr als 500 Delegierte, und die hatten natürlich unterschiedliche
Ansichten. Aber die Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder der Loya
Jirga sind von Warlords oder militärischen Führern der Nordallianz entsandt
worden. Unsere Repräsentanten waren das auf keinen Fall.
Der Islam ist nun Staatsreligion, so steht es in der Verfassung. Welche
Rolle wird künftig das islamische Recht - die Scharia - spielen?
Bevor 1992 die Nordallianz die Macht übernahm, war Afghanistan niemals
offiziell ein islamischer Staat. Heute erleben wir, dass Afghanistan ein
islamisches Land bleiben soll und die
Scharia anwendet. Das heißt, die
Fundamentalisten können die Religion als Waffe gegen die Frauenrechte in
der Gesellschaft einsetzen, um ihren politischen Willen durchzusetzen.
Wie beurteilen Sie die in der Konstitution verankerte starke Position des
Präsidenten?
Wir können eine Regierung aus Warlords und fundamentalistischen
Gruppen nicht akzeptieren. Deshalb ziehen wir es vor, dass ein Präsident
oder eine Präsidentin im Verhältnis zum Parlament über mehr Macht
verfügt. Das mag nicht sehr demokratisch sein, aber wir haben das Gefühl,
es ist das Einzige, was uns in naher Zukunft ein gewisses Maß an
Stabilität verspricht.
Die Delegierte Malalai Joya hielt Mitte Dezember in der Loya Jirga eine
scharfe Rede. Seitdem - so heißt es - stehe sie unter dem Schutz der
Vereinten Nationen. Was hat es damit auf sich?
Schon zu Beginn der Verfassungsgebenden Versammlung wandte sich
Malalai gegen die fundamentalistischen Kriminellen und forderte, sie für
ihre Verbrechen zu bestrafen und zu verhindern, dass diese Leute jemals
wieder Regierungsverantwortung übernehmen. Das ist nicht nur Malalais
Meinung, sondern auch die vieler Frauen in Afghanistan. Wir konnten an
den Reaktionen der Fundamentalisten sehen, Malalai würde die Loya Jirga
verlassen müssen. Tatsächlich erhielt sie bis auf weiteres Redeverbot, und
die internationale Gemeinschaft schwieg dazu. Es war das erste Mal, dass
eine mutige Frau in einem solchen Gremium lautstark gegen die
Fundamentalisten aufzutreten wagte.
Rechnen Sie noch 2004 mit Parlamentswahlen?
Das ist im Moment eher fraglich. Die Lage in Afghanistan ist instabil, so
dass unklar ist, ob und wie die in der Verfassung verankerte Meinungs- und
Redefreiheit umgesetzt wird. Viele Regionen außerhalb Kabuls stehen
unter fundamentalistischer Kontrolle, auf die Zusammensetzung des
Parlaments dürfte das nicht ohne Einfluss sein.
Werden prozentual ebenso viele Frauen im Parlament sitzen wie jetzt in
der Loya Jirga, wenn die afghanischen Frauen ihr Wahlrecht ausüben?
Die Verfassung fordert gleiche Rechte für alle und gesteht folglich den
Frauen das Wahlrecht zu. Ob das in der Praxis so sein wird, hängt davon
ab, wie die Parteien, die das Sagen habe, das Thema behandeln. Es gibt
Parteien und Interessensgruppen die sich für die Rechte der Frauen
einsetzen, doch alles hängt von der Sicherheit im Alltag ab. Erst wenn die
fundamentalistischen Kräfte den Menschen erlauben, in Frieden zu leben,
werden wir uns auf die Entwicklung des politischen Bewusstseins
konzentrieren können - und letztlich auch auf Wahlen und eine gewählte
Regierung.
Also hängt alles davon ab, ob all jene, die Macht ausüben, die
Menschenrechte so respektieren, wie die neue Verfassung das fordert.
So wie wir diese politischen Führer kennen, werden sie das niemals tun.
Sie werden stattdessen die Religion dazu benutzen, um Menschenrechte
einzuschränken. Ihre Einstellung gegenüber Frauenrechten und dem
Verlangen nach einer säkularen Gesellschaft unterscheidet sich nicht von
den Auffassungen der Taleban und der Nordallianz.
Das Gespräch führte Michael Liebler
RAWA
RAWA wurde 1977 in Kabul von linken Intellektuellen gegründet, um für Frauenrechte und
ein säkularisiertes Afghanistan zu kämpfen. RAWA-Aktivistinnen schmuggelten während der
Taleban-Herrschaft Informationen und Bildmaterial ins Ausland. Derzeit arbeitet RAWA
weiterhin verdeckt für Aufklärung und Frauenbildung.
Aus: Freitag 04, 16. Januar 2004
Siehe auch:
Frauen in Afghanistan: Keine Befreiung in Sicht / Afghanistan: "No-one listens to us and no-one treats us as human beings". Justice denied to women
Vergewaltigungen, Zwangsheirat und Gewalt in der Familie weit verbreitet. Ein Bericht von amnesty international (8. Oktober 2003)
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