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Wer schoss auf Hamid Karzai?

Die Hauptfrage nach dem Attentat auf den afghanischen Präsidenten Hamid Karzai lautet: Wer steckte dahinter?

Von Pjotr Gontscharow *

Nur eine Frage und zahlreiche mögliche Antworten, wie das in solchen Fällen immer ist. Verständlicherweise konnten die Taliban allein, ohne die Hilfe "Dritter", dabei nicht auskommen. Nur sehr naive Leute können so etwas glauben.

Der Anschlag vom 27. April in Kabul war wie eine Kopie des erfolgreichen Attentats auf den ägyptischen Präsidenten Anwar Sadat im November 1981. Das gleiche Szenarium. Der Ort: Militärparade, Ausführende: Extremisten aus den Reihen der unversöhnlichen Regierungsgegner. Es gibt freilich auch eine afghanische Eigenheit.

Als die Hymne erklang und die Artilleriesalven begannen, wurde auf die Versammelten nicht nur aus Schützenwaffen, sondern auch aus Granatwerfern geschossen. Das ist, wie man die Sache auch betrachten mag, eine schwere Angelegenheit. Welchen Kaliber die Granatwerfer auch haben mochten, ruft der Fakt ihres Vorhandenseins in der strengstens abgesicherten Zone bei jedem Experten den logischen Zweifel hervor, ob die Regierung wirklich stark und ihre Sicherheitskräfte (wenn natürlich sie nicht selbst am Attentat beteiligt waren) kompetent genug seien. Von welcher Sicherheit kann überhaupt die Rede sein, wenn der Präsident am helllichten Tage - und es war wohlgemerkt der Tag des Sieges des afghanischen Volkes im Dschihad! - plötzlich von allen Seiten mit Granaten beworfen wird?

Zum Verständnis dessen, wohin die Spuren des Attentats führen können, wollen wir ein wenig an die Geschichte erinnern. In Kabul wird jetzt alljährlich am 8. Saur (27. April) zu Ehren des Sieges der Mudschaheddin 1992 eine Militärparade abgehalten. Der 16. Jahrestag des siegreichen Dschihad und des Falls der Regierung Nadschibulla fiel zeitlich mit dem 30. Jahrestag eines anderen Ereignisses von Bedeutung für ganz Afghanistan zusammen. Die Rede ist von der Saur-Revolution von 1978.

Die Revolution vom 7. Saur (27. April) lenkte Afghanistans Geschichte in wenig verständliche Bahnen. Wenig verständlich selbst jetzt, 30 Jahre danach. Bisher wird darüber gestritten, ob sie ein bedingungsloses Übel war oder durch die Umstände dazu wurde. So viele Experten, so viele Meinungen. Die meistverbreitete Version: Die afghanische Gesellschaft sei zu den radikalen Reformen, die ihr die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) vorschlug, nicht bereit gewesen. Der Radikalismus der Reformen, der in erster Linie die Traditionen des Islam nicht berücksichtigte, brachte einen ihm adäquaten Widerstand hervor, der sich letzten Endes zu einem Bürgerkrieg auswuchs.

Bereits fünf Jahre nach der Revolution wurde der Akzent von den Reformen auf die Politik der "nationalen Aussöhnung" verschoben: Seit 1987 galt sie als die erklärte Linie der DVPA. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen forderte Nadschibulla die sieben führenden islamischen Gruppierungen zu Verhandlungen auf. Doch zu einer "Aussöhnung" kam es nicht.

Nadschibulla trat 1992 seine Macht an die Mudschaheddin ab. Gerade danach entbrannte in Afghanistan ein großer Bürgerkrieg. Zuerst innerhalb von sieben Gruppierungen, deren Mitglieder bei der Klärung ihrer Beziehungen Kabul völlig zerstörten. 1994 erschien auf der politischen Bühne eine neue Kraft, die Taliban. Keineswegs ohne die Unterstützung der Bevölkerung, die des nicht enden wollenden Krieges müde war, besetzten die Taliban schon 1996 Kabul und dann 90 Prozent des ganzen Landes. Die Zukunft Afghanistans als souveräner Staat stand auf dem Spiel.

Was stört also Kabul, das heute, wie man meinen sollte, den Konsens der politischen afghanischen Elite darstellt, nicht eine postulierte, sondern die gebührende Stabilität und Sicherheit im Lande zu gewährleisten?

Die parlamentarische Opposition, die Vereinigte Nationale Front, die größtenteils durch die Nordallianz vertreten ist, legt der Regierung von Hamid Karzai eine inkompetente Innenpolitik zur Last. Es sei die Schuld des Präsidenten und seines Teams, dass in die höchsten Kreise des Staates und die Sicherheitsdienste regierungsfeindliche Elemente eingedrungen seien, die zur Organisation des Terroraktes beigetragen hätten. Hamid Karzai seinerseits reagierte scharf auf die von ihm nicht gebilligten Verhandlungen mit den Taliban und Hekmatiyar, die die Vertreter der Nordallianz Burhanuddin Rabbani und Marschall Fahim führten.

Eine übliche Situation des gegenseitigen Misstrauens, gleichsam aus der Zeit der Saur-Revolution übernommen, als die beiden Flügel der Regierungspartei DVPA, Khalq und Parcham, sich um die Macht stritten. Eine alte Krankheit. Es entsteht der Eindruck, dass auf Karzai bei der Parade die Geschichte geschossen habe, über die ihre Schüler nichts dazugelernt haben.

Die Konfrontation zwischen Karzai und der ehemaligen Nordallianz ist nach wie vor spürbar, wenn auch das offizielle Kabul bemüht ist, an das für diese Kreise schmerzhafte Thema nicht zu rühren. Karzai hat seinerseits zahlreiche Fragen an die Organe der nationalen Sicherheit in Kabul, in denen die meisten Mitarbeiter eben die Nordallianz vertreten. Wie konnten Granatwerfer in einem Bezirk der Hauptstadt auftauchen, der mit Mitarbeitern aus den Innen- und Sicherheitsbehörden gespickt ist und in dem ein jeder Fremder sofort erkannt wird?

Die Verantwortung für den Beschuss der Militärparade in Kabul hat die Islamische Partei Afghanistans IPA von Gulbuddin Hekmatiyar auf sich genommen, obwohl zuerst gemeldet wurde, dass die Taliban dahinter stecken. Es ist äußerst bequem, den Taliban alles Negative, was in Afghanistan geschieht, in die Schuhe zu schieben, weil sich die "Aufdeckung" eines anderen inneren Feindes nicht ins Hauptszenarium der "allmählichen Stabilisierung" in Afghanistan einfügt. Bemerkenswert ist, dass weder die IPA noch die Taliban ihre Verantwortung verneint haben. Eine solche prahlerische Haltung erklärt sich mit ihrem üblichen Wunsch, unbedingt an dem Fakt selbst, der die Schwäche der Regierung und die Allgegenwart ihrer Gegner demonstriert, mit beteiligt zu sein. Für sie ist es überaus prestigeträchtig.

Nach den Schuldigen wird jetzt gesucht. Möglicherweise von den Schuldigen selbst.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. April 2008


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