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Tödlicher Anschlag in Kundus

Fünf Kinder und zwei Bundeswehrsoldaten kamen ums Leben / Taliban bekannten sich

Bei einem Selbstmordanschlag nahe der afghanischen Stadt Kundus wurden am Montag (20. Okt.) zwei deutsche Soldaten und fünf Kinder getötet. Das bestätigte der Provinzgouverneur Mohammad Omar. Zwei weitere Bundeswehr-Soldaten und zwei Kinder seien verletzt worden. Die Taliban bekannten sich zu der Tat, nannten aber eine weit höhere Opferzahl.

Die Internationale Schutztruppe ISAF bestätigte den Tod von zwei ihrer Soldaten und fünf Kindern in der Provinz Kundus. Aus dem Verteidigungsministerium in Berlin verlautete auch nach mehr als vier Stunden lediglich, dass auf Soldaten der Bundeswehr ein Anschlag verübt worden sei. Der Vorfall habe sich gegen 13 Uhr Ortszeit (10.30 Uhr MESZ) ereignet. Ein Selbstmordattentäter auf einem Fahrrad habe sich in die Luft gesprengt. Nach dpa-Informationen hat Verteidigungsminister Franz Josef Jung seinen Herbsturlaub abgebrochen.

Nach Angaben von Gouverneur Mohammed Omar war die Patrouille auf einer Hauptverkehrs-straße im Bezirk Schahar-Dara unterwegs. Nach dem Anschlag seien zwei Verdächtige festgenommen worden. Der Gouverneur machte »Terroristen« für die Tat verantwortlich. Die radikalislamischen Taliban bekannten sich durch ihren Sprecher Sabihullah Mudschahid zu der Tat.

Zuletzt war Ende August ein deutscher Soldat getötet worden. Im August 2007 kamen drei deutsche Polizeibeamte bei einem Anschlag ums Leben.

Ebenfalls am Montag wurde eine Mitarbeiterin einer christlichen Hilfsorganisation in der Hauptstadt Kabul getötet. Der Sprecher des afghanischen Innenministeriums, Semarai Baschari, erklärte, zwei auf einem Motorrad sitzende Bewaffnete hätten eine Mitarbeiterin von Serve Afghanistan mit mehreren Schüssen getötet. Laut britischer Botschaft in Kabul handelte es sich bei dem Opfer um eine britische Staatsbürgerin. Die Taliban bekannten sich auch zu diesem Anschlag. »Wir haben sie getötet, weil sie für eine Organisation arbeitete, die das Christentum in Afghanistan predigte«, sagte der Sprecher.

Das Kinderhilfswerk UNICEF veröffentlichte unterdessen in Köln eine Studie, wonach afghanische Polizisten Kinder und Jugendliche oft misshandeln. 36 Prozent der befragten 247 Minderjährigen hätten über Schläge und Misshandlungen durch die Polizei geklagt, 62 Prozent sagten, sie wurden im Gefängnis nachts angekettet. »Physische Gewalt, Missbrauch und Folter sind üblich während Haft und Verhör«, zitiert das ARD-Politmagazin »Report Mainz« aus der Studie, die von der Bundesregierung mitfinanziert wurde. Zwischen März 2007 und März 2008 wurden demnach 1674 Kinder in Afghanistan von der Polizei festgenommen. Das Jugendstrafrecht in Afghanistan müsse reformiert und die Ausbildung der Polizei verbessert werden, forderte UNICEF. Das Auswärtige Amt erklärte nach Angaben von »Report Mainz«, bei der afghanischen Polizei gebe es »sicherlich Misshandlungen«. Die Gewerkschaft der Polizei räumte Probleme bei der Polizeiausbildung am Hindukusch ein. »Es ist uns natürlich nicht gelungen, eine Polizei in der Größenordnung von 80 000 Leuten auszubilden, die rechtsstaatlich wirklich einwandfrei handeln«, sagte ihr Chef Konrad Freiberg dem Magazin. Seit 2002 haben deutsche Experten rund 24 000 afghanische Polizisten aus- und fortgebildet.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Oktober 2008

Kommentare ** Die DRESDNER NEUESTEN NACHRICHTEN blicken zum Hindukusch, wo zwei deutsche Soldaten und fünf Kinder bei einem Angriff der Taliban getötet wurden:
"Der neuerliche Anschlag in Kundus macht einmal mehr deutlich, dass die Sicherheitslage auch im Norden Afghanistans immer schlechter wird. Das tragische Ereignis wird die Debatte um den Afghanistaneinsatz weiter forcieren. Zu den Schlussfolgerungen muss die bestmögliche Ausrüstung für die Soldaten und ein Umdenken bei der Strategie gehören. Wenn es nicht gelingt, Herz und Verstand der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen und die Stammesfürsten zu überzeugen, ihren Beitrag zur Sicherheit zu leisten, steht die Mission auf verlorenem Posten",
sind die DRESDNER NEUESTEN NACHRICHTEN überzeugt.

Die FRANKFURTER RUNDSCHAU schreibt:
"Der feige Anschlag zeigt, dass die Attentäter nicht einmal mehr unbeteiligte Zivilisten schonen. Das deutsche Engagement am Hindukusch wird noch gefährlicher. Eine Lehre sollte die hie- sige Politik nun aber nicht ziehen: nämlich, dass dieser er- neute Anschlag das deutsche Engagement im Ganzen infrage stellt. Im achten Jahr verrichtet die Bundeswehr in Afghanistan ihren Dienst. Es ist ein gefährlicher, aber auch ein wichtiger Dienst -- so lange er sein Ziel nicht aus den Augen verliert: Afghanistan und die dortigen Behörden in die Lage zu versetzen, irgendwann selbst die Kontrolle zu übernehmen. Es wird seine Zeit brauchen und Leben kosten. Leider",
hält die FRANKFURTER RUNDSCHAU fest.

In der RHEINISCHEN POST aus Düsseldorf lesen wir:
"Wer skrupellos selbst vor den Unschuldigsten unter seinen eigenen Landsleuten nicht Halt macht, der kennt auch keine Grenzen, wenn verblendete Hirne in den Kampf gegen die westliche Zivilisation nach Deutschland geschickt werden. Deshalb darf Afghanistan nicht wieder die Keimzelle für den globalen Terrorexport werden."

Der Bremer WESER-KURIER argumentiert:
"Der blinde Hass der Islamisten unterscheidet nicht zwischen zivilen und militärischen Feinden. Also macht es auch keinen Sinn, die zivile und militärische Hilfe für Afghanistan politisch gegeneinander aufzurechnen. Es gibt keine bequeme Alternative: Man kann das Land und seine Menschen nur völlig aufgeben oder darum kämpfen - mit allen Mitteln",
führt der WESER-KURIER aus.

Die Soldaten wüssten um die Gefahr des Einsatzes, erläutert die BERLINER MORGENPOST:
"Ausschließlich Freiwillige sind im Einsatz, und sie wurden für den Ernstfall ausgebildet. Nur die Politiker, die das Mandat erteilen, drücken sich um die Realität vor Ort. Selbst Regierungsmitglieder tun sich schwer, das Wort Kampfeinsatz zu gebrauchen, geschweige denn Kriegseinsatz, der der Wahrheit weit näher kommt als alle Wiederaufbaurhetorik",
kritisiert die BERLINER MORGENPOST.

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG heißt es:
"Die Auftraggeber nehmen zivile Opfer bewusst in Kauf. So können sie auf perfide Weise Zwietracht säen zwischen den fremden Soldaten und der einheimischen Bevölkerung. Denn der Zorn der Einheimischen richtet sich nicht notwendigerweise gegen die Attentäter, sondern gegen die Anwesenheit der Fremden, die in ihren Augen solche Anschläge provoziert. Und je mehr die fremden Soldaten auf den eigenen Schutz achten müssen, desto größer wird ihre Distanz zu den Einheimischen. Der neue Anschlag belegt auf traurige Weise, dass sich die Sicherheit und die allgemeine Lage in Afghanistan in einer Abwärtsspirale bewegen. Ein Patentrezept zur Umkehrung dieses Trends gibt es nicht."
So weit die FAZ.

** Alle Auszüge aus der Presseschau des Deutschlandfunks, 21.10.2008; www.dradio.de

Weitere Kommentare:

Am Abgrund

Von Olaf Standke

Es ist ein äußerst düsteres Bild, das USA-Geheimdienste in ihrer jüngsten Studie von der Lage am Hindukusch zeichnen. Und jeden Tag kommt ein schreckliches Detail hinzu. Gestern war es der grausame Tod afghanischer Kinder und zweier Bundeswehrsoldaten, am Wochenende massakrierten Taliban über 30 Zivilisten, eine Entwicklungshelferin wurde in Kabul auf offener Straße erschossen. Jedes Opfer, ob zivil oder in Uniform, ist eines zu viel.

Afghanistan befinde sich in einer »Abwärtsspirale«, sagt der Geheimreport. Eine Situation, für die vor allem die USA und ihre Verbündeten Verantwortung tragen. Auch Deutschland, das sein militärisches Engagement weiter ausbauen will. Die Bundesregierung und die Mehrheit im Bundestag stimmten in der Vorwoche für eine absehbare Eskalation am Hindukusch. Denn mehr Soldaten haben bisher nur zur Ausweitung der Kämpfe, zu mehr Gewalt und Instabilität geführt. Statt einer weiteren Truppenaufstockung ist ein Rückzug der ausländischen Truppen dringlicher denn je. Afghanistan braucht die Konzentration auf zivile Konfliktlösungen, eine entwicklungspolitische Offensive, nachhaltige wirtschaftliche Hilfe im Kampf gegen die zunehmende Verelendung, Unterstützung beim Aufbau einer korruptionsfreien Verwaltung und fähiger eigener Sicherheitskräfte. Nur so wird der Weg frei für eine politische Lösung durch die afghanische Bevölkerung selbst. Denn es ist ihr Land, das am Abgrund steht.

Neues Deutschland, 21. Oktober 2008


Afghanistan: Bundeswehr in der Pflicht

von Markus Bernath (Auszug)

Die deutsche Bundeswehr zahlt einen hohen Preis für ihren Einsatz in Afghanistan. Und die Afghanen zahlen einen hohen Preis dafür, dass sie mit größenwahnsinnigen Terroristen, die den Islam für sich in Anspruch nehmen, in einem Land leben müssen. (...)
Erst vor wenigen Tagen hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier wieder 330 Soldaten auf ihrem Flug nach Afghanistan verabschiedet. "Sie gehen dorthin, weil sich die Bundesrepublik verpflichtet hat, diesem Land zu helfen, eine finstere Vergangenheit zu besiegen", erinnerte Steinmeier, mittlerweile Kanzlerkandidat der SPD.
Der Satz hätte ebenso gut an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet sein können, die ihren - ohnehin nie großen - Glauben an den Sinn des Afghanistan-Einsatzes verliert. (...)
Hartnäckig hält die deutsche Regierung an ihrer Überzeugung fest, die friedliche Präsenz der Bundeswehr in den nördlichen Provinzen Afghanistans sei stabilisierend und werde deshalb die Bevölkerung auf die Seite der Deutschen ziehen. Die Sicherheitslage, die sich unentwegt verschlechtert, lehrt Berlin eine andere Wirklichkeit.

DER STANDARD, 21.10.2008


Peter Blechschmidt kommentiert in der Süddeutschen Zeitung:

(...) Der Anschlag vom Montag zeigt zweierlei: Skrupellos nehmen die Taliban sogar den Tod der eigenen Kinder in Kauf bei dem Versuch, unter der einheimischen Bevölkerung Stimmung gegen die ausländischen Soldaten zu machen. Und sie zeigen, wie illusionär die Vorstellung ist, man könne zivilen Aufbau ohne militärischen Schutz voranbringen.
Wenn man sich in Deutschland streitet, ob in Afghanistan nun Krieg herrscht oder nicht, so hilft das den Soldaten im Einsatz nicht weiter. Sie wünschen sich, dass man sich in der Heimat darüber im Klaren ist, dass es für sie um Kampf geht, um Leben und Tod. Sie wollen die bestmögliche Ausrüstung, angemessene Fürsorge für sich und ihre Angehörigen, und sie wollen jenen moralischen Rückhalt, von dem sie glauben, dass sie ihn verdienen.
(Süddeutsche Zeitung, 21. Oktober 2008)




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