Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Ratlos in Berlin und Kundus

Hoffnungsloses Unterfangen: Auswärtiger Ausschuß bemüht sich um Einschätzung der Lage in Afghanistan

Von Jörn Boewe *

Kriterien für die Bewertung des Afghanistan-Einsatzes« sollte eine Expertenanhörung im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages am Dienstag morgen (23. Nov.) liefern. So stand es in der Tagesordnung. »Wir haben Sie eingeladen, weil wir hier eine Afghanistan-Politik machen, Regierung wie Opposition, mit Ausnahme der Linken, die von der Mehrheit der Bevölkerung zunehmend kritisch hinterfragt wird«, brachte es der SPD-Abgeordnete Johannes Pflug auf den Punkt. Im Januar steht die Verlängerung des Mandats für den Militäreinsatz auf der parlamentarischen Agenda, und um die Abgeordneten einzustimmen, will die Bundesregierung im Dezember einen Afghanistan-»Fortschrittsbericht« vorlegen.

Tatsächlich ging es dann nicht um Kriterien, sondern die Einschätzung der Lage schlechthin. Am Ende war klar: Kein Mensch kann erklären, was »wir« dort eigentlich verloren haben. Es gehe nur noch um »eine ›Road Map‹ für einen gesichtswahrenden militärischen Teilabzug der US- und ISAF-Truppen bis 2014«, stellte die Politologin Citha Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik klar. Vom international gesponserten »Wiederaufbau« zeichnete sie ein düsteres Bild: So fördere die »enorme internationale Hilfe indirekt die Korrup­tion in Afghanistan«. NGOs kämpften um Einfluß, insbesondere »US-Gelder überfluten die Provinzen«, um »von deutscher Seite ausgebildetes Personal abzuwerben«, wobei generell »die lokalen Preise verdorben« würden. Präsident Hamid Karsai »hält schützend seine Hand über korruptionsgefährdete Kabinettsmitglieder« und habe ein »informelles Patronagesystem« geschaffen, das stark mit der Drogenmafia verflochten sei.

Ihr Kollege Jan Koehler von der FU Berlin ging stärker auf die militärischen Aspekte ein. Seiner Einschätzung nach hat »die Eskalation von Sicherheitsoperationen seit einem Jahr zu mehr Unsicherheit geführt«. Zwar seien »die Taliban im großen und ganzen im Norden Afghanistans immer noch unbeliebt«, dennoch »werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach militärisch und politisch unbesiegt an der künftigen Gestaltung des Staates beteiligt sein«, so sein Fazit. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei, immer noch aktiv als Berater des Außen- und Verteidigungsministeriums, monierte, eine »mit afghanischer Seite und Verbündeten abgesprochene ›Road Map‹«, die »auf eine Übergabe der Verantwortung im Sicherheitsbereich« orientiere, sei »nicht erkennbar«. Zudem sei »die afghanische Polizei bis 2014 gewiß nicht operationsfähig«. Babak Khalatbari von der Konrad-Adenauer-Stiftung aus Islamabad plädierte indes für eine differenzierte Bewertung: »Wenn mehr Polizei ausgebildet wird, ist das gut. Wenn das aber dazu führt, daß mehr Menschenrechtler festgenommen und gefoltert werden, ist das natürlich ganz anders zu bewerten.«

So wurde in den Expertenbeiträgen durchaus deutlich, wohin die Reise geht. Bei den Parlamentariern machte sich, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt, quer durch die Fraktionen ein gewisses Unbehagen breit. »Wie kann ein Fortschrittsbericht erstellt werden, wenn der Ausgangspunkt überhaupt nicht erfaßt wurde?« wollte der Abgeordnete Jan van Aken (Die Linke) wissen. Und der Grüne Hans-Christian Ströbele: »Woher kommt das Vertrauen, daß, wenn man 134000 afghanische Soldaten ausbildet, die nach Abzug der NATO weiterhin das tun, was wir für richtig halten?« Verwirrung aber auch bei der Koalition: »Werden die Taliban jetzt eigentlich stärker oder schwächer?«, hätte der FDP-Abgeordnete Rainer Stinner gern gewußt. »Es gibt da ja die eine und auch die genau umgekehrte These.« Das Problem konnte am gestrigen Sitzungstag nicht geklärt werden.

* Aus: junge Welt, 24. November 2010

Sachverständige für stärkere Rolle von "Reform-Mullahs" in Afghanistan

Auswärtiger Ausschuss (Anhörung) - 23.11.2010 **

Berlin: (hib/RP) Unter dem Eindruck der wachsenden Skepsis der Bevölkerung gegenüber dem Afghanistan-Einsatz und einer forciert geführten Abzugsdiskussion befasste sich der Auswärtige Ausschuss am Dienstag in einer Öffentlichen Anhörung zum Thema ”Kriterien zur Bewertung des Afghanistan-Einsatzes“. In den Stellungnahmen der Gutachter wurde die Ungewissheit über die weiteren Perspektiven bis zur Übergabe der Verantwortung an die afghanische Seite deutlich. Die Gutachter waren sich darin einig, dass die Mindestanforderungen, die an die Effizienz und die Legitimität der afghanischen Institutionen gestellt werden müssen, nur partiell von der Regierung in Kabul erfüllt werden.

Gäbe es Schulnoten für Präsident Karsais Bemühungen um eine ”bessere Regierungsführung“, so Citha D. Maaß von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, würde er die Note 6 erhalten. Exemplarisch seien die enge Verflechtung mit der Drogen- und Schattenwirtschaft und die in großem Stil gefälschten Wahlen, mit deren Ergebnis sich der Westen abgefunden habe. Die Bindung an Karsai, über den man inzwischen die Kontrolle verloren habe, sei damit unabwendbar. Da damit zu rechnen sei, dass der Übergabeprozess die Konsolidierung von informellen Patronagenetzwerken von Präsident Karsai und der von ihm kooptierten Machthaber begünstigen werde, könnten auch Reformen immer weniger von außen, d.h. durch die internationalen Geber, eingefordert werden. Deshalb sollte der Schwerpunkt auf die Stärkung von innerafghanischen Reformkräften gelegt werden, die in einem generationenlangen Prozess Veränderungen ”von innen“, d.h. aus der afghanischen Gesellschaft heraus, einfordern. Mangels einer formalen Rolle von politischen Parteien seien ”Reformkräfte“ in einem breiten gesellschaftlichen Sinn zu definieren: junge Afghanen und Afghaninnen, wirtschaftlich überlebensfähige afghanische NGOs, zivilgesellschaftliche Gruppen, aufgeschlossene Parlamentarier und Parlamentarierinnen, aber auch: traditionelle Autoritäten wie z.B. reformorientierte Dorf- und Stammesälteste und Geistliche (”Reform-Mullahs“).

Babak Khalatbari von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Islamabad hält gleichwohl eine Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Kräfte im Jahr 2011 schon in bis zu 10 Provinzen möglich. Der Idee, einen Fonds für integrationswillige Militante aufzulegen, stehe er allerdings skeptisch gegenüber. Schon jetzt mache sich unter afghanischen Soldaten und Polizisten ein gewisser Unmut bemerkbar. Es werde hinterfragt, warum reumütige Radikalislamisten mit finanziellen Anreizen bedacht werden, wenn gleichzeitig Staatsdiener täglich ihr Leben für ein Monatsgehalt von rund hundert Dollar riskierten. Ein mögliches Versagen der afghanischen Armee und der Polizeikräfte, die in Zukunft eine Schlüsselrolle in Afghanistan einnehmen sollen, könnte den Kollaps des Landes zur Folge haben.

Entgegen Babak Khalatbari sehen Citha D. Maaß und Jan Koehler vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin den Zenith der Machtentfaltung der Taliban längst nicht überschritten. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei verwies auf das offenbar unerschöpfliche Reservoir der Taliban, deren Kämpfer immer jünger und immer radikaler seien und mit dem gesteigerten Operationstempo mithalten könnten. Im nächsten Frühsommer, so Nachtwei, schlage die Stunde der Wahrheit und es werde sich erweisen, ob sich die jüngsten Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft gelohnt haben.

Übereinstimmend wurde die jüngst erfolgte Strategie der ”decapitation“, d.h. der Tötung oder Gefangennahme von Taliban-Kommandeuren auf mittlerer Ebene durch Spezialkommandos als kontraproduktiv bewertet, da damit nicht nur eine Vielzahl neuer Kämpfer nachwachsen würde, sondern potenzielle Verhandlungspartner abhanden kämen. Im übrigen stehe die Forderung an die Taliban, bei einer Machtbeteiligung eine gewisse ”Rote Linie“ - Verfassung, Menschenrechte, Rechte der Frauen - nicht zu überschreiten, unverkennbar zur Disposition - wobei, so Jan Koehler, die Menschenrechte nicht nur von den Taliban, sondern von erheblichen Kräften in Karsais Regierung in Frage gestellt würden.

Das Projekt einer Evaluierung des politisch-militärisch-zivilen Afghanistan-Einsatzes sahen alle Sachverständigen als überfällig an, wiesen aber zugleich aber auf die erheblichen methodischen Probleme des von der Bundesregierung vorgelegten Kriterienkatalogs bei einer Bewertung der Wirksamkeit des deutschen und internationalen Engagements und damit des Sinns des Einsatzes hin.

** Quelle: Pressestelle des Deutschen Bundestags, 23. November 2010; www.bundestag.de




Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Seite "Deutsche Außenpolitik"

Zur Bundeswehr-Seite

Zur Seite mit den Bundestagsdebatten

Zurück zur Homepage