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Nur ein Abzug wäre hilfreich

Die Kritik im Heimatland wächst / Matin Baraki über Alternativen zum Krieg / Der gebürtige Afghane ist Lehrbeauftragter an mehreren hessischen Universitäten



ND: Was sind die Gründe für den Kriegseinsatz in Afghanistan? Wird die Sicherheit der Bundesrepublik wirklich am Hindukusch verteidigt, oder sind geopolitische und ökonomische Hintergründe entscheidend?

Baraki: Man sollte die Verteidigungspolitischen Richtlinien der Bundesrepublik Deutschland von 1992, die Europäische Sicherheitsstrategie oder das kürzlich erschienene Weißbuch der Bundeswehr lesen. Dort ist unmissverständlich formuliert: Wenn die Interessen der Bundesrepublik Deutschland es verlangen, wird die Bundeswehr in jedem beliebigen Teil der Welt operieren. Afghanistan ist dabei gleichsam ein Türöffner für künftige Großmachtambitionen. Das Land ist von großer geostrategischer Bedeutung. Die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens, der Kaukasus, Mittel- und Südasien sowie China sind von Afghanistan aus zu erreichen. Die Sicherung geopolitischer Interessen der NATO-Staaten ist entscheidend. Taliban, Al-Qaida oder mögliche humanitäre Hilfe sind weniger relevant für den Einsatz.

Afghanistan war historisch ein Spielball der Großmächte. Sie unterstreichen in Ihren Arbeiten mehrfach die ausländische Besatzung als das zentrale Problem des Landes, bezeichnen Afghanistan sogar als ein NATO-Protektorat. Ist eine positive wirtschaftliche und politische Entwicklung für Sie unter gegenwärtigen Voraussetzungen überhaupt möglich?

Nein. 99 Prozent aller Produkte, die auf dem afghanischen Markt angeboten werden, sind Importe. Die nationale Wirtschaft Afghanistans ist nach mehr als 30 Jahren Krieg komplett zerstört und hat unter den heute existenten, kolonial-ähnlichen Voraussetzungen keine Chance, sich zu regenerieren. Der einzige Produktionszweig, der in Afghanistan floriert, ist der Drogenanbau. Afghanistan ist durch jahrzehntelange Kriegspolitik zu einem Drogen-Mafia-Staat verkommen. Unter diesen wirtschaftlichen Verhältnissen und mit der Marionettenregierung in Kabul hat dieses Land keine Perspektive.

In der Friedensbewegung vertritt man die Meinung, dass karitative und humanitäre Hilfe nur unter Ausschluss des Militärischen geleistet werden kann. Wie stehen Sie zu dieser Forderung?

Seit das Militär karitative und humanitäre Hilfsorganisationen begleitet, sind diese gefährdet. Die Afghanen sehen sie nicht als Helfer, sondern als Handlanger ausländischer Militärs. Gerade das Militär gefährdet die Hilfe der Organisationen vor Ort. Bevor NATO und ISAF im Land operierten, haben die Nichtregierungsorganisationen ihre Arbeit ungestört geleistet. Erst durch ausländische Militäroperationen ist die humanitäre Hilfe in Gefahr.

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt die Beteiligung Deutschlands am Krieg ab. Trotzdem hält die herrschende Politik am Einsatz fest. Ist der Vorwurf einer antidemokratischen Politik der Bundesregierung berechtigt?

Absolut. Wenn die Mehrheit eines Volkes ihre eigene Regierung und deren Politik nicht akzeptiert, ist diese nicht legitimiert. Was die Bundesregierung macht, steht in diametralem Widerspruch zu den Interessen der Menschen in Deutschland.

Für Grüne und SPD ist höchstens die Operation Enduring Freedon (OEF) fragwürdig; ISAF ist bei beiden nach wie vor unumstritten. Ist eine Trennung beider Missionen zulässig?

Es existiert faktisch nur eine einzige Mission. ISAF und OEF sind praktisch miteinander verschmolzen. Beide führen einen Krieg. OEF-Truppen bombardieren flächendeckend das Land und verwüsten es. Die afghanische Bevölkerung empfindet Soldaten beider Operationen als Besatzung. Die alleinige Mission in Afghanistan ist der Anti-Terrorkrieg. Dort hat die Bundesrepublik keine Befehlsgewalt und nur die Aufgabe, Interessen der USA umzusetzen.

Die humanitäre Lage im Land ist katastrophal, Experten sprechen von einer »Irakisierung« Afghanistans. Würde sich nach Abzug der internationalen Kampftruppen die Situation nicht noch verkomplizieren? Stünde dann nicht eine erneute Machtübernahme fundamentalistischen Taliban bevor?

Ein Abzug der Bundeswehr würde die Situation in Afghanistan in keiner Weise verschlechtern. Sie könnte das Land sofort verlassen. Vor dem vollständige Abzug der internationalen Besatzungstruppen müssen entsprechend politische Rahmenbedingungen geschaffen werden. Mittels demokratischer Wahlen auf einer Loyadjirga sind eine Kommission für eine neue Verfassung und neue Parteien- und Wahlgesetze zu bestimmen. Eine provisorische Regierung muss gewählt werden. Wenn diese politischen Schritte getan sind, müssen sich die Militäreinheiten der NATO aus Afghanistan zurückziehen. Ist die Sicherheitslage wider Erwarten angespannt, kann das Land von den nichtpaktgebundenen Staaten oder von der Konferenz islamischer Staaten kurzzeitig Militärschutz erbitten. Fest steht: Soll in Afghanistan eine Perspektive für den Frieden bestehen, müssen die internationalen Besatzer ihre Interessen in Afghanistan aufgeben und abziehen.

Seit der Intervention 1992 in Somalia ist die Bundesrepublik international an immer mehr Kriegseinsätzen beteiligt. Afghanistan ist dabei der vorläufige Höhepunkt. Wo ist demnächst militärisches Engagement zu erwarten?

Das kann in jedem beliebigen Teil der Welt sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Bundesrepublik sich mehr als bisher in Irak engagiert. Nicht auszuschließen ist, dass die USA unter deutscher Beteiligung einen Krieg gegen Iran führen. Syrien, Libanon, Sudan oder andere afrikanische Staaten finden in den verteidigungspolitischen Richtlinien des Verteidigungsministeriums indirekt ebenfalls Berücksichtigung. Die Transformation der Bundeswehr ist so konzipiert, dass deutsche Streitkräfte im Verbund von NATO oder EU überall in der Welt innerhalb kürzester Zeit eingesetzt werden können.

Fragen: Christian Klemm



Viel Blech für viel Treue

Rund 7400 Bundeswehrsoldaten sind derzeit an Auslandseinsätzen beteiligt. Das größte Kontingent – 2970 Soldatinnen und Soldaten – operiert unter ISAF-Kommando in Afghanistan. Hinzu kommen 283 Uniformierte, die den Einsatz der RECCE-Tornados am Hindukusch sicherstellen. Diese deutschen Aufklärungsflugzeuge liefern sowohl der ISAF wie den an der »Operation Enduring Freedom« (OEF) beteiligten Stäben Informationen. Immer wieder sind deutsche Spezialeinheiten an OEF-Einsätzen beteiligt. Doch über deren Aktionen werden nur die Obleute des Bundestagsverteidigungsausschusses unterrichtet.

Nach wie vor sind 567 Soldaten unter EU-Kommando in Bosnien-Herzegowina stationiert, in Kosovo hält Deutschland 2269 Uniformierte unter Waffen. Dass Auslandseinsätze inzwischen zur Normalität deutscher Außen- und Sicherheitspolitik geworden sind, belegen Einsatzmedaillen für die beteiligten Soldaten. (Foto: BW) Bisher gibt es 31 Spangen für 31 Auslandseinsätze der Bundeswehr. Das Blech ist bisher 167 437 mal verliehen worden. Mehrfachteilnahmen an Auslandseinsätzen können seit 2004 durch die neuen Stufen der Einsatzmedaille Silber und Gold gewürdigt werden: Bronze gibt es nach wie vor nach 30, Silber nach 360 und Gold nach 690 Tagen Dienst in einem Auslandseinsatz. hei



* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2007


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