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NATO-Protektorat im Elend

Afghanistan - eine Bilanz zur Loja Dschirga zwei Jahre nach Petersberg

Im Folgenden dokumentieren wir einen Beitrag von Matin Baraki über die Lage in Afghanistan. Der Beitrag erschien in zwei Teilen in der Tageszeitung "junge Welt" am 18. und 19. Dezember 2003.


Von Matin Baraki*

Kurz vor Beginn der seit Sonntag tagenden Loja Dschirga, der großen afghanischen Ratsversammlung, jährten sich die "Talks on Afghanistan" auf dem Petersberg bei Bonn vom Dezember 2001 zum zweiten Mal. Derweil die 500 Delegierten, darunter hundert Frauen, einige Wochen lang den von Staats- und Regierungschef Hamid Karsai vorgelegten Verfassungsentwurf behandeln sollen, bietet sich eine Bilanzierung der vergangenen Zeit seit Petersberg 2001 und der vorigen Loya Dschirga von Juni 2002 an - zwei Beratungen, auf denen die Grundlagen für die weitere politische Entwicklung des Landes gelegt wurden.

Wegen der Teilnahme an der Loya Dschirga hatte der Exmonarch Mohammad Sahir seine Rückkehr aus dem römischen Exil nach Kabul zum afghanischen Neujahr am 21. März 2002 angekündigt, diese wurde aber auf persönlicher Intervention durch US-Präsident George W. Bush beim italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi verschoben. Offiziell wurde die unsichere Lage in Kabul angeführt, tatsächlich jedoch sollte seine Anwesenheit im Vorfeld der Loya Dschirga, die eigentliche Wahlkampfzeit, so weit wie möglich abgekürzt werden. Denn Sahir wollte künftiges afghanisches Staatsoberhaupt werden; über BBC ließ er verlautbaren, er sei bereit, jede Aufgabe zu übernehmen, die ihm sein Volk übertragen würde.

Vor Beginn der Loja Dschirga hatten über 800 Delegierte für ihn als möglichen Staatschef gestimmt. Das paßte jedoch den USA aus zwei Gründen nicht. Zum einen wurde Sahir nicht verziehen, daß er es zu Beginn der fünfziger Jahre abgelehnt hatte, Afghanistan dem Bagdadpakt, der späteren CENTO, anzuschließen. "Es [Afghanistan] ragte daher wie ein Keil in den Gürtel der mit den Westen verbündeten Staaten hinein, die an der sowjetischen Südflanke liegen", hob der ehemalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Günter Nollau, hervor. Zum anderen hätte Sahir nicht zuverlässig nach der Pfeife der USA getanzt, zumindest nicht so, wie Interims- Regierungschef Hamid Karsai. Sowohl der ehemalige Monarch als auch der auf dem Petersberg bei Seite geschobene, bis dahin amtierende Präsident Afghanistans, Burhanudin Rabani, wurden durch den gebürtigen Afghanen und Sonderbotschafter von Präsident Bush für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, gründlich "bearbeitet", und dieser verkündete vorgreifend in der Kabuler US-Botschaft den Verzicht Sahers auf eine Kandidatur. Die Neue Zürcher Zeitung bilanzierte: "In der Erinnerung der Delegierten wird haften bleiben, daß der Sondergesandte von Präsident Bush, Khalilzad, den Verzicht Sahir Schahs vorweg in der amerikanischen Botschaft verkündet hatte." Die Monarchisten, favorisiert von Bundesregierung und EU, die sich auf dem Petersberg noch Hoffnungen gemacht hatten, in Afghanistan wieder eine führende Rolle spielen zu können, waren marginalisiert und mußten sich mit ihrer Niederlage abfinden. Die bei den Afghanen hochangesehene Traditionsinstanz Loya Dschirga verkam zu einer Mogelpackung. Außer unrealistischen Versprechungen, wie "jedem Afghanen sein Haus und sein Auto" in Aussicht zu stellen (Karsai), und weiteren inhaltsleeren Lippenbekenntnissen über Sicherheit, Wiederaufbau, Freiheit, Stabilität und Entwicklung des Landes zu einer modernen Gesellschaft, hatte die Versammlung nichts gebracht; von Ablauf und Ergebnissen war die Bevölkerung tief enttäuscht.

Das faktisch zu einem NATO-Protektorat verkommene Land wurde unterdes zum Tummelplatz für entwicklungspolitische Agenturen, für Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Agenten aus aller Welt. In Kabul treiben derzeit über 800 NGOs, die mit unbegrenzter Vollmacht ausgestattet und niemandem im Lande rechenschaftspflichtig sind, die Miet- und Nahrungsmittelpreise in für einfache Afghanen unbezahlbare Höhen. Großen Teilen der Bevölkerung, deren Alltag nach wie vor von Not, Armut und Unsicherheit geprägt ist und die in Ruinen dahinvegetieren, fragen, wo die Milliarden Dollar, die seit Anfang 2002 nach Afghanistan geflossen sind, wohl geblieben sein könnten. Das Gros der in Tokio (Januar 2002) zugesagten Wiederaufbauhilfe von 5,25 Milliarden bleibt bei der Weltbank geparkt, da die Geberländer kein Vertrauen zur afghanischen Übergangsregierung "Afghan Transitional Authority" (ATA) haben und befürchten, das Geld könnte in dunklen Kanälen verschwinden. Außerdem konnte kein glaubhaftes Wiederaufbauprogramm vorgelegt werden. Das Geld, das bis jetzt nach Kabul geflossen ist, wurde für die Verwaltung der zahllosen NGOs wie für die Gehälter der höchsten Beamten der ATA verausgabt. Korruption und Vetternwirtschaft sind an der Tagesordnung. Die UN beschuldigen gar Minister, sich unrechtmäßig Land von afghanischen Bürgern angeeignet zu haben, ganze Straßenzüge in Kabul gehören dem einen oder anderen Minister.

Die Wiedereröffnung von Schulen kann zwar als Erfolg gelten. Nach offiziellen Angaben gehen rund drei Millionen Kinder zur Schule, doch unterscheiden sich viele davon kaum von Koranschulen. Auch fehlt es an qualifizierten Lehrkräften, an Gebäuden und Einrichtungen. Hinzu kommt: Jede Woche werden mehrere Schulen von den Islamisten zerstört. Neben den katastrophalen gesundheitlichen Verhältnissen im Lande ist zudem die Situation von Mädchen und Frauen auch zwei Jahre nach dem Sturz der Taliban weiterhin beklagenswert; sie dürfen zwar offiziell wieder arbeiten, aber kaum eine Frau traut sich ohne Burqa aus dem Haus: Ein Schutz der Frauen gegen Gewalt ist praktisch nicht vorhanden. Die Tätigkeit von Journalisten und neugegründeter Parteien wird, wenn sie den Islamisten nicht genehm ist, als "unislamisch" verboten; zwei Journalisten wurden gar zum Tode verurteilt.

Warlords als Machthaber

Nach Angaben der afghanischen Zentralbank betrug das Budget Afghanistans für 2001/2002 insgesamt 2 195 Millionen Dollar. Nur 102 Millionen davon wurden aus eigenen Staatseinnahmen erzielt; 2093 Millionen Dollar hingegen aus ausländischen Quellen finanziert. Für das laufende und das kommende Jahr wurde eine Summe von 2 268 Millionen Dollar geplant, bei einer Eigenbeteiligung von 200 Millionen, einem Fehlbetrag von 704 Millionen und einer Auslandsfinanzierung von 1 364 Millionen. Der afghanische Staat ist faktisch bankrott, obwohl im Lande genug Geld ist. Nach Angaben von Präsident Karsai kassieren die Zollbehörden jährlich rund 600 Millionen Dollar, die sie aber nicht nach Kabul abführen. Die Warlords von Herat und Kandahar, Esmael Khan und Gul Agha Schersei, kassieren täglich eine Million aus den Zollabgaben. Vor diesem Hintergrund bestellte die Administration alle 32 Provinzgouverneure zur "Klärung der Finanzlage" des Landes nach Kabul. Karsai drohte mit seinem Rücktritt, schließlich sogar mit der Auflösung der Regierung durch eine Loja Dschirga und forderte von den nur zwölf erschienenen Gouverneuren, daß die Zolleinnahmen in voller Höhe unverzüglich nach Kabul überwiesen werden müßten. Die Gouverneure jedoch waren davon nicht sonderlich beeindruckt. Erst nach monatelangen Verhandlungen und unter verstärktem ausländischen Druck sah sich der Warlord von Herat genötigt, die lächerliche Summe von 20 Millionen Dollar an Kabul zu überweisen.

Im Handel ist zwar ein Aufschwung zu konstatieren, aber mit defizitärer Bilanz auf afghanischer Seite. Nach Angaben der Zentralbank importierte Afghanistan im Fiskaljahr 2002/03 Waren im Werte von 2 452 Millionen Dollar, der Wert der Exporte betrug nur 100 Millionen. Damit ist Afghanistan zu einer Exportoase für die Industrieländer geworden. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr die Wirtschaft des Landes am Boden liegt. Auch das im letzten Jahr verabschiedete, für ausländische Investoren sehr attraktive Investitionsgesetz hat nicht den erwünschten Erfolg gebracht. Zwar sind reichlich Geschäftslizenzen ausgestellt worden, aber es werden kaum Investitionen getätigt, weil die nötige Infrastruktur fehlt und die Situation weiter unsicher ist.

Hingegen nehmen die Produktion von und der Handel mit Drogen rasant zu. Während 2001 etwa 185 Tonnen Opium produziert wurden, waren es nach UNO-Angaben 2002 geschätzte 3 500 Tonnen. Durch Drogengeschäfte wurden in Afghanistan rund 1,2 Milliarden Dollar Gewinn erzielt, neue UNO-Angaben sprechen sogar von etwa zwei Milliarden. Stellt man die 1,3 Milliarden Dollar für 2002 für Afghanistan zugesagte internationale Hilfe dem gegenüber, wird klar, welche Dimensionen die Drogengeschäfte haben. UN-Experten schätzen, daß zwei Drittel des weltweit gehandelten sowie etwa 90 Prozent des in Europa verbrauchten Heroins aus Afghanistan kommen. Für 2003 wurde eine neue Rekordernte von über 4600 Tonnen Opium erwartet.

Da es bei Drogenproduktion und beim Drogenhandel eine Personalunion von Warlords, Politikern und hohen Sicherheitsbeamten gibt, spricht der afghanische Finanzminister Ashraf Ghani von einem "Drogenmafia-Staat". Mohammad Scharif, Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, konstatierte: "Die Drogenbekämpfungspolitik der westlichen Geberländer ist ein eklatanter Mißerfolg." Weder die Briten, die in Rahmen der Arbeitsteilung der Besatzer für die Drogenbekämpfung zuständig sind und dafür 100 Millionen Euro zur Verfügung hatten, noch die Übergangsregierung "Afghan Transitional Authority" (ATA) konnten den Bauern eine Alternative zum Mohnanbau bieten. Es wurden ihnen einmalig 13 000 Dollar je Hektar als Ausgleich versprochen, was sie jedoch ablehnten. Denn sie sind zumeist beim Großgrundbesitzer, bei Geldverleihern, aber auch bei den Drogenbaronen hoch verschuldet. Die über 600 000 Tonnen US-Nahrungsmittelhilfe seit dem Sturz der Taliban, die nur selten die Ärmsten erreicht und von den Verteilern auf örtlichen Märkten verkauft wird, treibt die Preise für einheimische Produkte in den Keller und ruiniert die Bauern zusätzlich. Vom Weizenanbau können sie nicht mehr leben. Verständlich, daß viele Bauern den Taliban nachtrauern.

Als eine der wichtigsten Voraussetzungen der Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung sowie der nationalen Einheit und als unerläßlich für den Wiederaufbau gilt der Aufbau einer afghanischen Nationalarmee. Wie die ATA bekanntgab, wurden etwa 25 000 Soldaten aufgestellt. Nach Angaben von CARE International waren es Anfang 2003 aber nur 1700 Soldaten, im November 2003 ging man von 6000 aus, eine Stärke, die den Warlords auch weiterhin kaum den Schlaf rauben dürfte. Da die ATA den Sold selten zahlt, gehen viele nach ihrer guten Ausbildung in Kabul zu ihren Warlords zurück, denen das keine Probleme bereitet. Damit fördern die westlichen Länder direkt, wenn auch möglicherweise ungewollt, die militärische Stärkung der Warlords, die sich gegen die Karsai-Administration gestellt haben und weiterhin stellen. Die geplante Entwaffnung von über 100 000 Milizionären der mächtigen Warlords - eine der Hauptforderungen der "Talks on Afghanistan" - hat gerade einmal ansatzweise begonnen.

Sicherheit ist trotz der Anwesenheit der internationalen Schutztruppe ISAF selbst in Kabul nicht gewährleistet, von der Situation in den Provinzen ganz zu schweigen. "Die Lage in Afghanistan verschlechtert sich täglich", wie Human Rights Watch unlängst konstatierte. Außerhalb Kabuls werden selbst Mitarbeiter von NGOs regelmäßig überfallen, sie werden ausgeraubt, wenn es glimpflich ausgeht, oft aber auch ermordet. Daraufhin stellten UN-Mitarbeiter ihre Fahrten in einigen Provinzen ein. Selbst der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, bezeichnet die Menschenrechtssituation in Afghanistan nach 18 Monaten ATA- Tätigkeit als schlecht. Er resümierte, daß es ohne Sicherheit keine Wahlen 2004, keine Verfassung, keinen wirtschaftlichen Aufbau, weder Recht noch Schutz geben wird.

* Dr. phil. Matin Baraki ist Lehrbeauftragter für Internationale Politik an den Universitäten Marburg und Kassel und Afghanistan-Experte. Er referierte mehrmals bei den "Friedenspolitischen Ratschlägen" in Kassel.


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