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Karsais Machtpoker

Ende einer Farce: Die Loja Dschirga und die neue Verfassung in Afghanistan

Von Matin Baraki*

Vor knapp drei Wochen beschrieb der Afghanistan-Experte Matin Baraki (Marburg) die politische Situation in Afghanistan vor dem Zusammentritt der Loja Dschirga (siehe "NATO-Protektorat im Elend"). Inzwischen hat die Ratsversammlung ihre wichtigste Aufgabe erfüllt und eine neue Verfassung für das Land verabschiedet. Hierzu nun die neueste Analyse von Matin Baraki.

Nach einjährigen Verhandlungen in der auf dem Bonner Petersberg vereinbarten 36köpfigen Kommission wurde am 3. November 2003, mit 64 Tagen Verspätung, der aus zwölf Kapiteln und 182 Artikeln bestehende afghanische Verfassungsentwurf vorgelegt. Der Text war Interimspräsident Hamid Karsai auf den Leib geschneidert worden. Er wird umfassendere Machtbefugnisse haben als Wladimir Putin und George Bush zusammen. Afghanistan soll ein Präsidialsystem nach US-Muster werden. Diese Machtfülle wird die ethnischen Probleme weiter verschärfen und die »Amerikanisierung« Afghanistan zementieren. Schon beim Entwurf wurde zwischen Islamisten und säkular orientierten Kräften erbittert um die Machtverteilung in der künftigen Regierung, um die Stellung des Islam in der Verfassung gerungen. Abgesegnet wurde die Verfassung am 4. Januar von der »Großen Ratsversammlung«, der Loja Dschirga.

Aus den 5 000 Kandidaten zur Loja Dschirga von 2002 waren 452 Delegierte zur »Großen Ratsversammlung« im vergangenen Dezember gewählt worden, darunter 90 Frauen. 50 Mitglieder wurden von Karsai direkt ernannt. Manipulationen, Gewaltdrohungen und Stimmenkauf waren an der Tagesordnung, von etwa 100 Euro je Stimme war die Rede. »Das war keine Wahl, sondern ein Wettkampf von Kommandeuren mit Geld«, kommentierte ein einheimischer Journalist. Nach Angaben eines UN-Mitarbeiters waren etwa 70 Prozent der direkt »gewählten« Abgeordneten ehemalige Mudschaheddinkommandanten.

Vor Beginn der Loja Dschirga war der Sonderbeauftragte von US-Präsident George Bush für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, zum Washingtoner Botschafter in Kabul ernannt worden. »Erfolg ist die einzige Option!« lautete Khalilzads Arbeitsauftrag. Trotzdem mußte die Eröffnung der Loja Dschirga aus »technischen« Gründen – gemeint war das Gerangel rivalisierenden Kräfte – mehrfach verschoben werden. Am 14. Dezember schließlich konnte im Polytechnikum, das einer Festung glich, die Versammlung durch Karsai eröffnet werden, wobei er sogleich zur Wahl des Versammlungsleiters aufrief. Viele Delegierte waren gegen dieses Ansinnen und forderten zunächst eine Debatte über die Verfahrensweise in der Loja Dschirga: »Wir lassen uns keine Regeln vom Präsidenten aufzwingen«, hieß es. Bei der trotzdem durchgesetzten Abstimmung über den Beratungsvorsitz setzte sich Sebgatullah Modjadedi, ein opportunistischer Islamist, gegen den Fundamentalisten Burhanudin Rabani durch.

Die von der Versammlung gewählten zehn Kommissionen wurden von den Monarchisten, die kaum eine Rolle spielen, boykottiert. Vor der Kommissionsarbeit wollten sie in der Versammlung über das künftige politische System debattieren. Diese Gruppe steht für einen demokratischen Parlamentarismus, den sie als »deutschen Weg« bezeichnen. Die zweite Option, ein Präsidialsystem mit einem Zwei-Kammer-Parlament, wurde von der »amerikanischen Fraktion« um Karsai mit starker Rückendeckung Khalilzads favorisiert. Als dritte Variante, von den Vertretern der Nordallianz gewünscht, galt ein Präsident als Chef der Exekutive, dessen Machtbefugnis jedoch durch ein starkes Parlament beschränkt sein sollte.

Tadschikische Mudschaheddin sagten Karsai in der Loja Dschirga mehrfach offen den Kampf an. Damit es nicht zu einem Eklat kam, wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, in Anwesenheit von Francesc Vendrell, dem EU-, und Lakhdar Brahimi, dem UN-Beauftragten für Afghanistan, wobei allerdings auch der neue US-amerikanische Botschafter Zalmay Khalilzad die Hauptrolle spielte.

Für den 30. Dezember 2003 waren das Ende der Diskussion und die Schlußabstimmung vorgesehen, die jedoch wegen 17 noch offenen Fragen verschoben wurde. Es ging u. a. um die Kompetenz des Präsidenten und der Gouverneure, der Provinzparlamente, die Stellung der Minderheitensprachen, doppelte Staatsangehörigkeit der Minister, die Wirtschaftsform, die Bezeichnung der Staatsangehörigen als »Afghanen« oder »Afghanistanis«, die Wahl eines provisorischen oder eines regulären Parlaments sowie die gleichzeitige Durchführung der Wahlen des Parlamentes und des Präsidenten. Brahimi hatte in der Loja Dschirga Flugblätter verteilen lassen, in denen Parlamentswahlen im Jahr 2004 für unmöglich erklärt wurden. Es soll nur der Präsident, genauer Karsai gewählt werden, der dann auf unabsehbare Zeit ohne Parlament regieren wird.

Die Anhänger Karsais spielten die ethnische Karte und provozierten so die Polarisierung der Delegierten. Ihre Absicht war, die paschtunischen Abgeordneten geschlossen hinter sich zu bringen. Als Modjadedi am 1. Januar 2004 eine Abstimmung anordnete, wurde diese von 226 der 502 Delegierten boykottiert, unter ihnen Vertreter ethnischer Minderheiten, Unabhängige und Demokraten, weil bereits geschlossene Kompromisse in der Beschlußfassung nicht berücksichtigt wurden. So fehlte beispielsweise der Schutz der Minderheiten. Die benachteiligten Opponenten Karsais kündigten an, die Ergebnisse der Loja Dschirga nicht zu akzeptieren. Um ein Scheitern zu verhindern, wurde die Sitzung bis zum 3. Januar unterbrochen. Wieder wurde hinter verschlossenen Türen in Anwesenheit von Khalilzad, Brahimi und Vendrell gepokert. Bei Bevölkerung und Delegierten wird ein bitterer Beigeschmack wegen dieses massiven Drucks, der seitens UNO, USA und EU auf die Versammlungsteilnehmer ausgeübt wurde, bleiben. Ein frustrierter Delegierter meinte: »Das eigentliche Spiel findet außerhalb der Loja Dschirga statt.« Auf einer Pressekonferenz widersprach Karsai den Vorwürfen, daß Minister sich in die Angelegenheiten der Dschirga einmischten. Ein Delegierter, Ekram Echpelwak, nannte der BBC allerdings sogar die Namen einzelner Minister, so des Finanzministers Aschraf Ghani und des Wiederaufbauministers Amin Farhang, die den Abgeordneten vorschrieben, was sie zu tun hätten.

Die Mäuse kreißten und gebaren schließlich einen Berg. Einen Berg von Unheil, der noch lange auf den Schultern des afghanischen Volkes lasten wird. Am 4. Januar 2004 um 15 Uhr Ortszeit trat Modjadedi vor die Delegierten und verkündete den hinter verschlossener Tür ausgehandelten Kompromiß, ohne dessen Inhalt bekanntzugeben. Eine formale Abstimmung wurde nicht mehr durchgeführt, denn es war nicht abwegig, daß es zahlreiche Gegenstimmen oder Enthaltungen gegeben hätte. Um solche Unwägbarkeiten auszuschließen, forderte Modjadedi die Delegierten auf, sich zu erheben. Daraufhin stand die Mehrheit auf, was er als Zustimmung zur Verfassung interpretierte. Wortmeldungen aus den Reihen der Delegierten ließ er nicht mehr zu, statt dessen erteilte er sofort das Wort an Khalilzad, an Brahimi und zuletzt an Karsai.

Verfassung von US-Gnaden

Laut der Verfassung wird Afghanistan eine Islamische Republik (Art. 1). Reformer und säkular orientierte Kräfte hatten vergeblich in der Loja Dschirga dagegen opponiert. Rauf Mehdi, der in der Ratsversammlung afghanische Flüchtlinge in Iran vertrat, hatte 146 Unterschriften gesammelt, um die beabsichtigte Bezeichnung »islamisch« aus dem Staatsnamen zu entfernen. Es sah sich jedoch niemand in der Lage, solch einen Antrag vor aller Augen und Ohren in der Loja Dschirga zu begründen. Mehdi wurde in einem Gespräch durch die Ultra-Islamisten Sayaf und Rabani bedroht, als Ungläubiger und Kommunist bezeichnet. Auch andere Delegierte, wie Frau Malalei Schoja, sogar Haschmat Ghani, der Bruder des mächtigen Finanzministers, erhielten Drohungen. Modjadedi bezeichnete Mehdi und dessen Anhänger schließlich als Ketzer, die zu bestrafen seien – die Taliban lassen grüßen. Damit war Mehdi vogelfrei.

Die Scharia, das islamische Recht, wird in der Verfassung zwar nicht explizit festgeschrieben, kommt jedoch durch die Formulierung »Kein Gesetz kann im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam stehen« (Art. 3), die jeder nach seiner Vorstellung interpretieren kann, durch die Hintertür wieder zur Geltung. Dies wird den Fundamentalisten die Möglichkeit eröffnen, z. B. die untergeordnete Rolle der Frau daraus abzuleiten. Denn welche Instanz, welches Gremium wird darüber befinden, und was soll als Maßstab dafür gelten, was islamisch oder unislamisch ist? Schon vor Beginn der Loja Dschirga machten die Islamisten Stimmung. »Wenn wir Muslime sind, dann ist das einzige Gesetz die Scharia. Wenn einem Dieb die Hand abgehackt wird, muß er dankbar sein, daß ihn Gottes Befehl von der Sünde befreit hat. Wenn eine Frau wegen unehelichen Verkehrs gesteinigt wird, soll sie mit jedem Stein rufen: ›Gott sei Lob, mein Leib wird gereinigt!‹«, predigte der einflußreiche Großmullah Tschakari in einer Kabuler Moschee. Scharia und Menschenrechte vertragen sich ebensowenig wie Feuer und Wasser.

Präsident wie Kabinettsmitglieder müssen afghanische Bürger sein, von afghanischen Eltern stammen und nicht gegen nationale Interesse des Landes und Menschenrechte verstoßen haben (Art. 65 und 73). Demzufolge hätte die gesamte Administration, einschließlich Karsai, ausgewechselt werden müssen. In ihr sitzen nicht nur Afghanen mit Pässen aus den USA, der EU, Australien und Kanada, sondern auch zahlreiche Kriegsverbrecher und Heroinbarone. Mit Zustimmung des Parlaments können aber Minister ihre ausländischen Staatsbürgerschaften behalten. Da es in absehbarer Zeit kein Parlament geben wird, werden EU- und US-Bürger in Afghanistan weiter mitregieren.

Dem Präsidenten Afghanistans werden mit dem Grundgesetz statt einer nun zwei Stellvertreter zur Seite stehen. Es wird eine Verfassungskommission, deren Aufgaben nebulös bleiben, gebildet. Der Präsident ist nicht mehr nur dem Volk, sondern auch dem Parlament verantwortlich, und seine Außenpolitik benötigt dessen Zustimmung. Er wird die Minister, den Obersten Ankläger und den Präsidenten der Nationalbank ernennen. Die Nationalhymne wird mit »Allahu Akbar« (Gott ist groß) eingeleitet und in Paschtu gesungen. Vier Minderheitensprachen werden als weitere Amtssprachen, in den Gebieten, in denen sie mehrheitlich gesprochen werden, anerkannt.

Artikel 6 verpflichtet den Staat, neben dem Schutz der Persönlichkeit und der Menschenrechte die Realisierung der Demokratie und den Aufbau einer auf sozialer Gerechtigkeit und Wohlstand basierenden Gesellschaft zu gewähren. Unter den jetzigen afghanischen Bedingungen kann dies nur als Hohn und Demagogie bezeichnet werden.

Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist in der Verfassung zwar verankert, aber Papier ist geduldig und die afghanische Realität viel komplizierter. Selbst in der Loja Dschirga wurden die Frauenrechte nicht geachtet. Nirgends in der Welt ist die Diskrepanz zwischen geschriebener Verfassung und Verfassungswirklichkeit größer als in Afghanistan. Kabul ist weit, das Recht der Stämme bleibt weiterhin unangetastet, und die Warlords müssen sich nicht an das halten, was unter der Regie ausländischer Mächte beschlossen wurde – außer, es würde mit NATO-Bajonetten durchgesetzt. Erst kürzlich ist in Brüssel die völlige Besetzung Afghanistans beschlossen worden.

Weder mit der neuen Verfassung noch mit einem NATO-Einsatz werden die Probleme des Landes gelöst werden können. Sollten die unterlegenen Gegner Hamid Karsais tatsächlich auf die faktische Spaltung Afghanistans hinarbeiten, würde dies zum Bürgerkrieg und unweigerlich zur Verwicklung der NATO führen. Daher sind die Stellungnahmen aus Berlin zum Abschluß der Loja Dschirga wohl nur Zweckoptimismus.

Aus: junge Welt, 7. und 8. Januar 2003

* Dr. phil. Matin Baraki ist Lehrbeauftragter für Internationale Politik an den Universitäten Marburg und Kassel und Afghanistan-Experte. Er referierte mehrmals bei den "Friedenspolitischen Ratschlägen" in Kassel.


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