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Kreuzzügler unbeliebt

Impressionen aus Kabul im Mai 2013: Für eine Woche reisten Friedensbewegte aus Deutschland nach Afghanistan

Von Claudia Wangerin *

Nach mehr als elf Jahren ­NATO-Krieg in Afghanistan sind Friedensbewegte aus Deutschland nach Kabul gereist. »Um zu lernen«, sagte Christine Hoffmann von der Organisation Pax Christi am Dienstag in Berlin – und »in der Sorge, die eine oder andere Position absolut revidieren zu müssen«. In der Woche vom 16. bis zum 23. Mai bewegten sie sich in der Sieben-Millionen-Stadt mit rund 120000 Bettlern von Treffen zu Treffen. Zu den Gesprächspartnern der siebenköpfigen Reisegruppe gehörten eine Anwältin und eine Psychologin der Frauenhilfsorganisation Medica Afghanistan ebenwie wie der ehemalige Außenminister der radikal­islamischen Taliban, Wahil-Ahmad ­Mutawakil. Außerdem trafen sie Mitglieder zivilgesellschaftlicher Gruppen und Vereine. Die Initiative zu der Reise habe der deutsch-afghanische Anwalt Karim Popal ergriffen, der Überlebende des NATO-Luftangriffs bei Kundus am 4. September 2009 vor Gericht vertritt, berichtete Reiner Braun von den Juristen und Juristinnen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA). Früher hätten sie sich nicht getraut, die Reise anzutreten – es sei auch praktisch kaum möglich gewesen, da sie nicht über die nötigen Kontakte verfügt hätten, um sich halbwegs sicher in Kabul bewegen zu können.

Trotz aller Gegensätze sei ihnen immer wieder bestätigt worden, daß die NATO-Truppen als Besatzer empfunden würden, berichtete Christine Hoffmann. »Müde und abgrundtief enttäuscht« seien die Menschen, die sich vor mehr als zehn Jahren überwiegend gefreut hätten, als »die Amerikaner kamen«, so Hoffmann auf die Frage eines Journalisten, ob die Afghanen denn nicht erleichtert über das Ende des Taliban-Regimes seien. Die Bevölkerung sei heute einem Zwei­frontenkrieg ausgesetzt. Reiner Braun beschrieb die Rücksichtslosigkeit, mit der US-Militärfahrzeuge durch die Stadt gelenkt werden. »Das interessiert die nicht, ob da ein Kind über die Straße geht.«

Die Frauen von Afghanistan Medica zogen laut Christine Hoffmann eine ernüchternde Bilanz – nicht nur wegen der häuslichen Gewalt, von der mindestens jede zweite Afghanin betroffen sei. Auch seien unter der Regierung von Hamid Karsai Vergewaltigungsopfer »wegen Ehebruch« in Haft, und das im zwölften Jahr seit Beginn des Interventionskrieges im Namen der Frauenrechte. Beim Gespräch mit den Taliban sei ihr Adrenalinspiegel am höchsten gewesen, sagte die christliche Friedensaktivistin. »Denn es ist für mich kein Alltag, mit Taliban über Frauenrechte zu diskutieren.« Erstaunt sei sie aber gewesen, als diese »Fehler« zugegeben hätten – zum Beispiel seien sie davon abgerückt, Frauen das Recht auf Bildung zu verweigern, wollten aber weiterhin darauf bestehen, daß weibliche Personen sich nach muslimischer Sitte kleiden. Reiner Braun wies auf den geringen Einfluß der ihm sympathischen säkularen Kräfte in Afghanistan hin. Wer eine säkulare Lösung für das Land wolle, »kann sich entweder begraben lassen oder den Krieg noch 30 Jahre fortführen«. Die Afghanen selbst müßten eine afghanisch-islamische Lösung finden. Viele der Gesprächspartner könnten sich nach dem schnellstmöglichen Abzug der NATO-Truppen eine Übergangslösung für bis zu zwölf Monate vorstellen: UNO-Blauhelmsoldaten aus muslimischen Ländern, die bisher nicht in den Krieg verwickelt waren. Allerdings sei in Afghanistan die Angst vor einem Bürgerkrieg, der das bisherige Ausmaß der Gewalt übersteigen könnte, gar nicht so verbreitet, wie im Westen herbeigeredet. NATO-Soldaten aus christlichen Ländern würden als Kreuzzügler empfunden, betonten Hoffmann und Braun. Afghanistan brauche auch keine deutschen Soldaten, sondern zivile Unterstützung und Entwicklungshilfe.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 29. Mai 2013


Am Hindukusch gibt es nur eine afghanische Lösung

Vertreter der deutschen Friedensbewegung erstmals in Kabul / Ende der Besatzung gefordert

Von Klaus Joachim Herrmann **


Frieden am Hindukusch gebe es nur bei einem Abzug der Interventionstruppen und als innerafghanische Lösung, folgerten Vertreter der deutschen Friedensbewegung aus ihrem ersten Besuch in Kabul.

»Hättet ihr mal eure Lehrer geschickt«, gibt Reiner Braun, Geschäftsführer der Deutschen Sektion der International Association Of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA), einen afghanischen Gesprächspartner wieder. Die NATO-Mission sei gescheitert. Die Hoffnungen zu Zeiten der Intervention US-amerikanischer Streitkräfte 2001 seien »abgrundtiefer Enttäuschung« und Zorn gewichen.

Von tiefer Kriegsmüdigkeit am Hindukusch und dem Wunsch nach einem Ende der Besatzung durch westliche Truppen berichtet auch Christine Hoffmann, Generalsekretärin von Pax Christi: »Soldaten werden nicht als jene wahrgenommen, die Frieden schaffen wollen.« Verstanden werde der Einsatz als Kampf gegen den Islam, sei sie gewarnt worden. »Religion«, so die Pax-Christi-Spitzenfrau, »darf nicht für kriegerische Auseinandersetzungen instrumentalisiert werden.«

Eine Delegation der deutschen Friedensbewegung hatte sich Mitte Mai eine knappe Woche in der afghanischen Hauptstadt aufgehalten. An diesem Dienstag berichten die beiden Vertreter Journalisten in Berlin über Dutzende Gespräche – vom Minister im Präsidialamt über Friedens-, Frauen- und Solidaritätsorganisationen bis zu Taliban.

In allen Begegnungen suchte die Friedensbewegung Aufschluss über die Situation und die Chancen für den Frieden, wenn die NATO wie angekündigt ihre Truppenstärke bis Ende kommenden Jahres deutlich verringert. Befürchtungen, es könne danach ein Bürgerkrieg ausbrechen, seien von afghanischen Gesprächspartnern als westliche Propaganda zurückgewiesen worden. Vielmehr werde zunehmend über sich abzeichnende Möglichkeiten diskutiert. Dabei könne es nur eine afghanische Lösung geben.

»Afghanistan ist das Haus der Afghanen«, bekräftigt Christine Hoffmann. Sie müssten als Verhandlungspartner ernst genommen werden. Eine dauerhafte Präsenz westlicher Truppen und weitere Militärbasen würden allgemein abgelehnt, die Besatzung müsse ein Ende haben. »Wir sind kriegsmüde«, sei mehrfach nachdrücklich bekannt worden. »Keiner will mehr Krieg.«

Eine friedliche Zukunft des Landes könne es bei Einbeziehung aller wichtigen politischen Kräfte geben, hieß es. Laut Reiner Braun wären das die Regierung des Präsidenten Hamid Karsai, die islamische Opposition und Vertreter der Stämme, Kräfte um den Stammesführer Gulbuddin Hekmatyar und auch die Taliban. Eine Regierung der nationalen Einheit sei möglich, um einen Übergang bis hin zu freien Wahlen einzuleiten. Denkbar sei dabei der zeitweilige Einsatz einer UNO-Truppe.

Noch jahrzehntelang werde Afghanistan Hilfe benötigen. Was gebraucht wird, müsse in die Hände derer gelegt werden, die dort tätig sind, unterstreicht Christine Hoffmann. Die Friedensbewegung will sich weiter für den vollen Truppenabzug einsetzen – auch auf der Straße. Geplant ist für Oktober in Brüssel ein Kongress mit afghanischen Exilorganisationen.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 29. Mai 2013


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