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"Weiter so" in Afghanistan

Bundestag erteilt Mandat - mit erhöhtem Umfang der Truppe und längerer Laufzeit

Am 16. Oktober 2008 verhandelte der Bundestag in zweiter und dritter Lesung über die Ausweitung und Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr. Dazu dokumentieren wir im Folgenden drei Berichte.



Mehr Soldaten nach Afghanistan

Bundestagsmehrheit für Fortsetzung des ISAF-Mandats - doch Nachdenklichkeit ist spürbar

Von René Heilig *

Bis zu 4500 Bundeswehrsoldaten, 1000 mehr als bisher, sollen in den kommenden 14 Monaten am Hindukusch die Demokratisierung Afghanistans sowie Deutschlands Sicherheit verteidigen. So beschloss es gestern der Bundestag. Sogar Protagonisten des Regierungsantrages klangen nachdenklicher als bisher.

Der Einsatz, so SPD-Fraktionsvize Walter Kolbow, sei auf die Bedürfnisse der kommenden 14 Monate zugeschnitten. Das stimmt -- zumindest aus Sicht der Regierungskoalition, merkt der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Dietmar Bartsch, an. Dass der ISAF-Einsatz der Bundeswehr diesmal nicht -- wie üblich -- um 12, sondern um 14 Monate verlängert wird, sei »ein Wahlkampfmanöver«. Die Regierung habe zwar eine Mehrheit im Bundestag, aber in Sachen Hindukusch-Einsatz keine Mehrheit in der Bevölkerung. Union und SPD fürchteten daher eine erneute Debatte kurz vor der kommenden Bundestagswahl.

Da hat der Linke sicher Recht, schließlich hält auch Unions-MdB Andreas Schockenhoff die 70 Prozent der Bevölkerung, die den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ablehnen, für eine »katastrophale Zahl«. Dennoch stimmten er und seine Fraktion sowie die Mehrheit der SPD- und der FDP-Bundestagsabgeordneten für eine Verlängerung und Aufstockung des deutschen ISAF-Beitrages, der von schnellen Eingreiftruppen bis zu Tornado-Aufklärern reicht.

Bereits in Schockenhoffs Pro-Verlängerungsrede war Nachdenklichkeit spürbar. Sätze wie »In Afghanistan läuft uns die Zeit weg« und »Wenn wir militärisch nicht mehr leisten können, müssen wir mehr Softpower zu Verfügung stellen« wären unlängst in der Union noch als Sakrileg behandelt worden. Nicht nur weil sie von CSU-Abgeordneten wie Peter Ramsauer getrieben wird, verlangt die Union mehr Augenmerk für ziviles Engagement in Afghanistan. Die Mammutaufgabe, Afghanistan zu stabilisieren, könne das Militär nur zu 20 Prozent übernehmen. Der Rest müsse durch zivile Anstrengungen erreicht werden. Es gebe viele Rückschläge, Korruption grassiere, Drogenwirtschaft floriere. Freilich trifft die Union sich mit der FDP-Militärexpertin, Birgit Homburger: »Ohne Militär geht es nicht.«

Das sahen Paul Schäfer und Wolfgang Gehrcke von der Linksfraktion, die gegen den neuerlichen Afghanistan-Einsatz stimmte, anders. Schäfer, der unter anderem die Zunahme der Bombenangriffe in Afghanistan von 176 im Jahre 2005 auf 3247 im vergangenen Jahr anprangerte, forderte die Abgeordneten zur Einsicht auf: »Wenn man sich in einer Sackgasse befindet, muss man umkehren und einen anderen weg einschlagen.« Es sei notwendig, die Sprache der Gewehre durch die der Diplomatie zu ersetzen.

Daran knüpfte Gehrcke an, der die so oft im Munde geführte »Selbstbestimmung der Afghanen« als Heuchelei benannte. Es sei notwendig, nationale Versöhnung voranzutreiben. Grundlage muss ein Waffenstillstand sein, der dazu beitrage, dass die Anstrengungen für Bildung, für den Ausbau der Frauenrechte sowie für den Aufbau einer tauglichen Polizei und Justiz verstärkt werden kann.

Der SPD-Abgeordnete Rainer Arnold fühlte sich zu der Feststellung herausgefordert, die Opposition stehle sich »billig und schändlich« aus der Verantwortung. Doch war sein Argwohn mehr gegen die Grünen gerichtet. Für die sprach der ehemalige Umweltminister Jürgen Trittin, der heute für seine Partei Außenpolitik betrachtet. Er erwähnte zwar, dass die Mehrheit seiner Fraktion dem Regierungsantrag nicht zustimmen werde, dennoch griff er die LINKE an. Ein sofortiger Abzug trage nicht zu Frieden, wohl aber zum Wiederaufleben des Bürgerkrieges bei. Trittin, der bestritt, dass die Bundeswehr in ihrem Bereich einen Krieg führt, verlangte von der Regierung »Zeitangaben« und »Zielvorgaben«, damit klar sei, wann die Verantwortung an die afghanischen Behörden übergeben werden kann.

442 Abgeordnete stimmten für den Regierungsantrag, 96 dagegen, 32 enthielten sich.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Oktober 2008


Verschärfter Kriegskurs

Von Jörn Boewe **

Zum mittlerweile siebten Mal hat der Bundestag am Donnerstag abend das Mandat für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr verlängert. Gleichzeitig wurde die Obergrenze von bislang 3500 auf 4500 Soldaten erhöht. Mit einer Mehrheit von 442 Ja-Stimmen zu 96 Nein-Stimmen bei 32 Enthaltungen votierten die Abgeordneten für die Erweiterung und Verlängerung des Mandats für die »Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe« (ISAF). Die Mehrheit der Abgeordneten von CDU/CSU, SPD und FDP stimmten für die Regierungsvorlage. Geschlossen dagegen votierte Die Linke. Zahlreiche Grünen-Abgeordnete stimmten mit Nein oder enthielten sich.

Die Truppenverstärkung »im Interesse der Sicherheitslage unserer Soldaten« sei notwendig, weil die Lage insgesamt »kritischer« geworden sei, erklärte Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) vor Beginn der Parlamentsdebatte im ARD-»Morgenmagazin«. Die Aufstockung bedeute jedoch nicht, »daß jetzt 1000 Soldaten unmittelbar mehr nach Afghanistan gehen«. Zunächst solle durch die Ausweitung des Mandats »mehr Flexibilität« geschaffen werden. Dies sei u.a. nötig, weil da die Bundeswehr bei der Präsidentenwahl im kommenden Jahr in Afghanistan womöglich zusätzliche Sicherungsfunktionen übernehmen solle. Mit dem neuen Mandat sei die Bundeswehr aber für »entsprechende Reaktionen in Afghanistan gerüstet«, sagte Jung.

Für die SPD warb Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczo­rek-Zeul für die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes. Ein Truppenabzug würde Bürgerkrieg und »das Massakrieren von Frauen« nach sich ziehen, sagte sie in der Schlußdebatte des Bundestages. Sie habe 2001 versprochen, »daß wir an der Seite der afghanischen Frauen stehen werden und bleiben werden«. An diese Verpflichtung fühle sie sich gebunden. Kritik äußerte Wieczorek-Zeul am Vorgehen der USA im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Es sei »falsch und unproduktiv«, wenn das US-Militär dort unterschiedslos Raketenangriffe auf Stammesgebiete vornehme und »mutmaßlich Militante erschießt«.

Die Abgeordnete Inge Höger, Vertreterin der Linksfraktion im Verteidigungsausschuß, erklärte, die Truppenverstärkung bringe »Afghanistan nur noch mehr Unsicherheit«. Die Zahl getöteter Zivilisten habe von Jahr zu Jahr zugenommen: »In den ersten acht Monaten dieses Jahres sind nach UN-Angaben in Afghanistan 1445 Zivilisten ums Leben gekommen – davon 395 bei Luftangriffen der US-Truppen und der NATO«, betonte Höger. ISAF-Soldaten seien »an offensiven militärischen Auseinandersetzungen mit Aufständischen beteiligt. Der Weg der ISAF, »mit offenen Feldschlachten Frieden erzwingen zu wollen«, sei »grundsätzlich falsch«. Höger verwies darauf, daß die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland den Bundeswehreinsatz in Afghanistan ablehne.

Bislang war das Mandat immer um ein Jahr verlängert worden – diesmal gilt es jedoch für 14 Monate. Damit soll vermieden werden, daß die nächste Entscheidung über eine weitere Verlängerung in die Zeit der Bundestagswahl und Regierungsneubildung 2009 fällt.

Ebenfalls gestern (16. Okt.) tötete ein afghanischer Polizist einen US-Soldaten. Wie die US-Streitkräfte mitteilten, schoß der Polizist in der Ostprovinz Paktia auf eine amerikanische Patrouille und warf eine Handgranate. Die Truppen erwiderten das Feuer und töteten den Mann. Es war bereits das zweite Mal innerhalb eines Monats, daß US-Truppen von afghanischen Polizisten angegriffen wurden.

** Aus: junge Welt, 17. Oktober 2008


Allen geht es um die Menschenrechte – oder?

Der Westen hat in Afghanistan ein blutiges Chaos angerichtet – und keine Lösungen parat

Von René Heilig ***


Gestern (16. Okt.) wurde im Bundestag mal wieder Sterben angeordnet. Eine Mehrheit war nämlich der Auffassung, dass die Bundeswehr weiter in Afghanistan bleiben soll. Allerdings etwas stärker als bisher.

Man kann der Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages eines gewiss nicht vorwerfen – nämlich, dass sie mit Verstand, geschweige Sachverstand abgestimmt haben. Sonst wäre es ihnen nicht entgangen, wie ähnlich sich Bundesregierung und Talibanführung in der alles entscheidenden Frage sind. Die lautet: Wie kann das Sterben am Hindukusch beendet und Afghanistan dorthin geführt werden, wo es – erinnert man sich an die vollmundigen Versprechen zu Beginn der ISAF-Mission – längst sein müsste: Irgendwo am Eingang zum Paradies.

In der gestrigen Debatte drehte sich vieles um die Menschenrechte der Afghanen. Die einen wollen mehr Soldaten hinschicken, um sie zu verteidigen, die anderen wollen – aus demselben Grund – alle ausländischen Soldaten aus Afghanistan zurückholen.

Was haben die Afghanen davon? Seit Jahren des Krieges nicht einmal mehr die Hoffnung auf Wiederaufbau. Denn der ist der westlichen Allianz gänzlich aus dem Blickfeld geraten. Wiederaufbau betrifft beispielsweise die Wirtschaft. Natürlich war der Export des Landes auch in besten Zeiten immer schon landwirtschaftlich geprägt. Doch Bäume und Sträucher sind längst zu Feuerholz gemacht worden. Auf den kargen Böden wächst allenfalls profitabler Mohn. Aus Afghanistan kamen im vergangenen Jahr 93 Prozent der Weltopiumproduktion. Das belegen Daten aus dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC). Und die Auswirkungen kann man in fast jeder westlichen Großstadt erleben.

Es stimmt, die Bauern bekommen nur einen Bruchteil vom Erlös des Übels. Die Masse aus diesem und anderen Geschäften, beispielsweise dem Menschenhandel, fließt den Taliban und anderen Warlords zu. Die dafür Waffen und Munition – also Tod – einkaufen, um ihre Macht zu stärken.

Das weiß man auch bei der NATO und hat sich nun nach siebenjähriger Intervention entschlossen, das Drogenproblem zu beheben. Fragt sich, warum man all die Jahre zugeschaut hat, wenn der Mohn blühte. Aus einem einzigen Grund, der nach wie vor gilt. Wer den Bauern die einzige Existenzgrundlage nimmt, ohne ihnen Alternativen zu bieten, stärkt die gegnerische Seite. Und von Alternativen, also einen landesweiten Wiederaufforstungsprogramm oder einer freizügigen Kreditvergabe an kleine Bauern, damit sie Saatgut und Pflüge kaufen können, ist nichts zu spüren. Nach wie vor verweigert sich der Westen einem Vorschlag, der den kontrollierten Aufkauf des gesamten afghanischen Opiumanbaus durch ein UN-Programm propagiert. Man könnte es an Pharmariesen verkaufen, die daraus Schmerzmittel herstellen. Der Erlös aus dem Deal könnte für Bildungs- und Gesundheitsprojekte in Afghanistan eingesetzt werden.

Man könnte so auch das Studium von künftigen Polizisten, Richtern, Staats- und Rechtsanwälten bezahlen. Nichts braucht Afghanistan so nötig wie einheimische Fachleute gegen Terror und Korruption. Doch auch auf diesem Gebiet hat die westliche Angriffsgemeinschaft in den vergangenen Jahren kläglich versagt.

Sicher, es geht dem Westen nicht um uneigennützige Hilfe. Und Menschenrechte sind oft auch nur Mittel zum Zweck. Man will Afghanistan als strategische Militärbasis erhalten. Die Sicherung eines von Russland unabhängigen Öl- und Gasstromes hat Vorrang. Zudem will man das Land zu einem NATO-dominierten Pufferstaat gegen Iran ausbauen. Doch so, wie man das im Moment anstellt, bestehen auch dabei wenig Erfolgsaussichten.

*** Aus: Neues Deutschland, 16. Oktober 2008


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