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Afghanistan-Einsatz wird verlängert und aufgestockt

Dokumentiert: Nein-Stimmen nehmen leicht zu - Antrag der Linken, die Truppen abzuziehen, abgeschmettert

Am 16. Oktober 2008 beriet der Bundestag in zweiter und dritter Lesung über die Fortsetzung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan im Rahmen von ISAF. Hierzu lag der entsprechende Verlängerungs- und Erweiterungsantrag der Bundesregierung vor (siehe: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte ...). Die Fraktion Die Linke beantragt die Nicht-Verlängerung und den Beginn des Abzugs aus Afghanistan. Diesen Antrag dokumentieren wir im Folgenden im Wortlaut. Er wurde vom Bundestag abgelehnt.
Stattdessen nahm das Hohe Haus den Verlängerungsantrag der Bundesregierung an. Die namentliche Abstimmung ergab folgendes Ergebnis (in Klammern das Ergebnis der letzten Abstimmung im Oktober 2007):

  • Abgegebene Stimmen: 570 (580)
  • Ja: 442 (453)
  • Nein: 96 (79)
  • Enthaltungen: 32 (48)
Und hier geht es zum Abstimmungsverhalten aller Abgeordneten nach Fraktionen:
pdf-Datei




Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode
Drucksache 16/10479
07.10.2008

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar Bisky, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel, Inge Höger, Dr. Hakki Keskin, Michael Leutert, Dr. Norman Paech, Alexander Ulrich und der Fraktion DIE LINKE.
zu der ersten Beratung des Antrags der Bundesregierung – Drucksache 16/10473
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 1833 (2008) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
  1. Die militärische Strategie der NATO in Afghanistan ist gescheitert. Parallel zur Aufstockung des ISAF-Kontingents auf etwa 48 000 Soldatinnen und Soldaten verschlechterte sich die Sicherheitslage in Afghanistan kontinuierlich. Zum Vergleich: Im August letzten Jahres wurden laut Bundesregierung etwa 600 Sicherheitsvorfälle registriert, in diesem Jahr waren es etwa 1 100. Nach wie vor sind mehr als 1 800 bewaffnete Gruppen in Afghanistan aktiv. Weder der Regierung Hamid Karsai noch der NATO ist es gelungen, das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen. Im Gegenteil: Korruption durchzieht weite Teile der Regierung, das rigorose offensive militärische Vorgehen der NATO minimiert alle Chancen auf eine Deeskalation der Lage und fordert immer mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung. Bereits im laufen- den Jahr wurden laut UNAMA 1 445 Menschen getötet. Damit ist die Opferzahl bereits jetzt um 40 Prozent höher als im Jahre 2007. Davon seien 800 Zivilisten durch Aufständische und 577 durch NATO, OEF und afghanische Sicherheitskräfte getötet worden. Allein die Luftangriffe der NATO forderten 395 zivile Opfer. 68 Zivilistinnen und Zivilisten seien im Kreuzfeuer oder durch andere Zwischenfälle getötet worden, bei denen die Verantwortlichkeiten nicht eindeutig geklärt seien. Diese Opferzahlen schaffen einen Nähr- boden für noch mehr Gegengewalt. Wird dieser Kurs fortgesetzt, werden die für die nächsten Jahre anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter Kriegsbedingungen stattfinden. Demokratisierung und Friedensprozess rücken in weite Ferne. Die ISAF ist kein Instrument der Problemlösung, sondern ein wesentlicher Teil des Problems. Die NATO erweist sich als ungeeignet eine stabilisierende und konstruktive Rolle beim demokratischen Wiederaufbau Afghanistans zu spielen. Der zivil-militärische Ansatz der NATO ist in der Praxis undurchführbar.
  2. Die Bundesregierung will jedoch an diesem fatalen Kurs festhalten. Genauso wie vorher alle Eskalationsschritte mitgegangen und unterstützt wurden – wie z. B. durch die Entsendung von Tornado-Flugzeugen für die Vorbereitung und Führung von offensiven Militäroperationen oder die Übernahme des Kampfverbandes der Quick Reaction Forces und Übernahme der Führung von Militäreinsätzen in Nordafghanistan – soll die Bundeswehr nun erneut einen wichtigen Beitrag zur Intensivierung der NATO-Kriegsführung in Afghanistan leisten: Die Obergrenze des deutschen Kontingents soll um 1 000 Soldatinnen und Soldaten auf 4 500 erhöht werden; AWACS-Flugzeuge sollen mit deutscher Besatzung als Gefechtsfeldzentralen über Afghanistan fliegen. Darüber hinaus bleibt das Bundeswehrpersonal sowohl im ISAF-Hauptquartier in Kabul als auch in den zuständigen NATO-Strukturen in Belgien mitbeteiligt und mitverantwortlich für die Planung und Umsetzung des weiteren militärischen Vorgehens der NATO in Afghanistan. Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt. Deutschland wurde vielmehr Teil des Krieges am Hindukusch.
  3. Einer dem Frieden und der Sicherheit verpflichteten Politik des Deutschen Bundestages kann es doch nicht darum gehen, die NATO bei der Aufrechterhaltung der eigenen Glaubwürdigkeit als global handlungsfähiges Militärbündnis zu stützen, sondern darum, der afghanischen Bevölkerung eine reale Friedens- und Entwicklungsperspektive zu eröffnen. Der hierfür notwendige Strategiewechsel muss die Förderung des innerafghanischen Friedensprozesses – insbesondere das Wirken der Friedens-Jirga – in den Mittelpunkt rücken. Eine tragfähige Absicherung des Friedensprozesses kann nur erreicht werden durch die Unterstützung des Demokratisierungsprozesses. Dazu muss der alles erdrückende Einfluss der Warlords zurückgedrängt werden, indem die bislang praktizierte Kooperation mit ihnen gestoppt wird. Stattdessen müssen die demokratischen Kräfte mit zivilen Mitteln offensiv unterstützt werden. Die Beendigung der katastrophalen Lage der Frauen muss unter der Maßgabe der UNO-Sicherheitsratsresolution 1325 eine zentrale Aufgabe ziviler Hilfsmaßnahmen darstellen. Einkommensalternativen für den Drogenanbau müssen umfassend geplant und durch Anlauffinanzierungen abgesichert werden. Rechtsstaatlichkeit ist zu implementieren. Diese Art der Unterstützung kann nur von zivilen Institutionen und Personen geleistet werden – nicht von Streitkräften. Darüber hinaus stellt die Einbindung der Staaten der Region, insbesondere Iran, Indien und Pakistan, ein substantielles Erfordernis zur erfolgreichen Stabilisierung Afghanistans dar.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

das Mandat für den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von ISAF nicht zu verlängern und unverzüglich mit dem Abzug der deutschen Soldaten aus Afghanistan zu beginnen.

Berlin, den 7. Oktober 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Quelle: www.bundestag.de


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