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Mission der Angst am Hindukusch

Konträre Sichten im Camp der Bundeswehr in Kundus

Von Stefan Tesch, Kundus*

Im Zuge der Verlängerung ihres Afghanistan-Mandates, das am 13. Oktober ausläuft, will die Bundeswehr weitere 800 Mann an den Hindukusch entsenden. Offenkundig wachsen aber die Risiken der Mission, bei der schon 16 deutsche Soldaten starben. Erst Mitte Juli wurde ein deutscher Konvoi bei Kabul beschossen. Entsprechend ist die Stimmung im Bundeswehr-Außenposten in Kundus.

Es ist nur eine Routinefahrt, zu der der Konvoi an diesem Morgen das Bundeswehr-Camp in Kundus verlässt. Die Männer in den gepanzerten Jeeps tragen Splitterschutzwesten, die G-36-Sturmgewehre liegen in Griffweite. Doch weit kommen sie nicht. Nahe dem Massud-Kreisel, dem quirligen Verkehrsknoten der 130000-Seelen-Stadt, passiert ein Crash. Ein klappriger Toyota will nassforsch den Tross überholen, schert plötzlich ein – und fährt prompt auf einen deutschen Wagen auf. Im Nu sind die Fahrzeuge von einer Traube schaulustiger Männer in traditionellen Wahhabi-Gewändern eingekreist. Der Truppführer funkt die Feldjäger im Camp an, einige Soldaten steigen aus und sichern die Fahrzeuge, die Langwaffen abzugsbereit unterm Arm. Wer nicht muss, bleibt im Wagen, dreht auch nicht die Scheiben herunter.

Die Unsicherheit ist immer da

»Weißt du, wie das hier drin aussieht, wenn eine Handgranate durchs Fenster fliegt«, übt sich ein Fahrer in finsterem Sarkasmus. Nein, zum Lachen ist keinem zumute. Schließlich kommen afghanische Polizisten, nehmen alles auf. Nach einer halben Stunde ist der Fall klar: Der Toyota-Fahrer trägt Schuld. Doch das beruhigt die meisten der deutschen Soldaten nur am Rande. Das Gefühl schleichender Unsicherheit lässt sich, erst einmal da, nicht so leicht überlisten.

Auch anderthalb Jahre nach dem Start ist das Experiment Kundus, mit dem sich die Bundeswehr erstmals aus dem vergleichsweise sicheren Kabul in die noch längst nicht befriedete Provinz wagte, kein Alltagseinsatz. Sicherheitsstufe »Bravo« steht am Camptor, das klingt beruhigend; es ist die zweitniedrigste im NATO-Jargon. Und ruhig wirkt auch Kundus, die irgendwie noch mittelalterlich anmutende Provinzmetropole im Nordosten. Fremdartig zwar, aber nicht bedrohlich, gar feindselig gegenüber den ausländischen Soldaten. Kinder winken ihnen zu, bei Treffen in den Dörfern oder neu errichteten Schulen kommt es zu herzlichen Gesprächen. Auch die afghanischen Polizisten, die den Außenschutz des Camps besorgen, wirken in ihrer Gründlichkeit deutscher als Deutsche. Mit Spiegeln an langen Rohren umrunden sie pedantisch jedes Bundeswehrfahrzeug, das vom Feldeinsatz zurückkehrt: Es könnte ja eine Mine darunter kleben.

Die nervliche Anspannung, die auf den 260 Soldaten im Kunduser Wiederaufbauteam lastet, ist förmlich greifbar. Auf den ersten Blick wirkt alles normal. Fahrzeuge werden gewartet, Postkisten entladen, Essen wird zubereitet. Wer keinen Dienst hat, spielt Volleyball oder Billard. Doch als plötzlich ein Volleyball laut scheppernd gegen einen Metallcontainer kracht, zucken die Leute in den angrenzenden Stuben gleich reihenweise zusammen. »Was war das?«, fragt ein Oberstleutnant nervös und sprintet zum Fenster. »Man wird halt bei Krach sensibel«, entschuldigt er sich.

Wer aus dem Verpflegungszelt kommt, muss am Stabsgebäude vorbei. Groß ist es nicht, das Loch im Betondach, das die Rakete hinterließ, die hier im Spätherbst 2004 einschlug. Doch die Folgen waren groß, nicht nur für die fünf Soldaten, die verletzt wurden, einer gar lebensgefährlich. Zum Glück trug er wie alle im Camp da bereits ständig seine Bristol, wie im Truppenslang die bleiern schweren Schutzwesten heißen. »Sogar auf dem Weg zum Klo«, witzelt ein Hauptmann. Denn schon Stunden zuvor ging ein Geschoss im Umfeld des Lagers nieder, man war gewarnt. Anschließend war jedoch nichts mehr wie vorher. Der von manchem Soldaten eher als abenteuerlich, nicht aber unbedingt gefährlich empfundene Afghanistan-Einsatz hatte seine Jungfräulichkeit verloren. »Über Nacht war mancher mit seinem Heldenmut plötzlich ganz schnell am Ende«, verrät ein Hauptmann aus dem Potsdamer Einsatzführungskommando. Einige hätten nur noch ganz schnell heim gewollt. »Und die ließ man auch ziehen. Aber es waren nur sehr wenige«, beteuert er.

Doch auch jene, die blieben, sehen sich nicht als Helden. »Fährst du morgens raus, weiß du nie, ob du heil wiederkommst«, gesteht ein Soldat. Er ist Spätaussiedler, wuchs unweit von hier auf, in Kasachstan, war mit der Bundeswehr schon in Bosnien. Doch das hier sei »völlig anders«, glaubt er zu spüren. »Kein Vergleich zum Balkan! Hier kann täglich was passieren.« So explodierte Ende 2004 bei einer Routinetour in Kundus neben einem Bundeswehrjeep eine fern gezündete Bombe. Und Ende Juni starben zwei niedersächsische Soldaten aus dem Camp, als beim Verladen von Taliban-Munition auf bisher noch nicht geklärte Weise ein Teil der Ladung in die Luft flog. Seit Dezember 2001 starben damit bereits 16 Bundeswehrsoldaten am Hindukusch.

Jeder hat ein eigenes Krisenszenario

Die Afghanistanmission ist für die derzeit 2000 Deutschen, die hier als Teil der internationalen ISAF-Truppe stationiert sind, mittlerweile unwägbarer als noch vor einem Jahr. Oberstleutnant Thomas Scheibe, mehrere Monate Sprecher der Bundeswehr in Kundus, warnt dennoch vor Panik. Er sieht eher ein psychologisches Problem: Natürlich wisse jeder, dass solche Attacken kommen können, doch wer rechne schon wirklich damit? Klar sei man betroffen, wenn es dann passiere. Sofort ordnete der Stab auch bauliche Maßnahmen an, die nicht zuletzt die wunden Seelen beruhigen sollten. Die Sandsackwälle im Objekt wurden verstärkt, Glasscheiben als Splitterschutz kreuzweise mit Isolierband überklebt, und ab Einbruch der Dämmerung gilt Verdunkelungspflicht. Ob es das subjektive Sicherheitsempfinden erhöht? Ein junger Stabsgefreiter zuckt die Schultern: »Das ist wie überall, wo man anfängt, sich besonders zu schützen: Das macht einem erst richtig die Gefahr deutlich, und das blöde Kribbeln im Magen wächst eher…«

Jeder verarbeite solche Vorfälle eben anders, entwickle sein eigenes Krisenszenario, um mit dem unterschwelligen Bedrohungsgefühl umzugehen, sinniert Scheibe. So erlebt, wer mit den Soldaten in Kundus spricht, recht konträre Sichten. Viele fühlen sich im Lager am sichersten. Wer nicht raus muss, etwa die Leute von Feldpost, Küche und Apotheke, geht auch nicht raus in die fremde Welt. Lieber bleibt man ein Vierteljahr am Stück in dem gut drei Fußballfelder kleinen Objekt, das einst für gerade mal 30 amerikanische GI's errichtet wurde und nun zehnmal so viele Soldaten aufnehmen muss. Neben Deutschen auch Schweizer, Holländer, Amerikaner. »Mich zieht nichts dort hinaus«, erzählt etwa ein Feldwebel aus Heilbronn, der die Poststelle führt. Doch Alltag in Camp Kundus, das heißt: Täglich 14 bis 16 Stunden Dienst, dazwischen Abhängen in engsten Sechs-Mann-Kajüten mit »null Privatsphäre«, wie es ein Sanitätsoffizier nennt. Man fühle sich »unter ständiger Beobachtung«; keine Chance, sich mal auszuklinken, in Ruhe etwas zu lesen oder nur zu dösen. Das erzwinge ein Übermaß an Disziplin, Toleranz und Kameradschaftlichkeit. »Und wehe, wenn dann auf einer Stube die Chemie nicht stimmt…«

Also suchen nicht wenige die Flucht nach vorn. Die einen fangen in einer Art Galgenhumor hochbissige Walzenspinnen, Skorpione oder Kobras und werkeln dafür gleich Terrarien. Andere tauchen bewusst in den afghanischen Alltag ein. »Einfach um mich zu beruhigen und zu überzeugen: Die Menschen hier sind genauso freundlich wie immer, von ihnen geht keine Gefahr aus«, erzählt ein Feldwebel, der zu einem jener Kontakttrupps gehört, die das Gespräch mit örtlichen Autoritäten suchen. Ohne dieses Wissen könnte er schlicht seinen Job nicht tun, beteuert er.

Die größte innere Beruhigung geht wohl vom medizinischen Rettungszentrum im Camp aus. Äußerlich wirkt es wie ein besserer Gefechtsunterstand, doch schon eine erste Stippvisite durch das Innere machte wohl manchen deutschen Chefarzt neidisch. Es gibt mehrere Diagnose- und OP-Räume, eine Intensivstation, eine bestens bestückte Apotheke, ein Top-Labor. »Wir haben hier über 40 Mediziner, allesamt absolute Spezialisten«, erzählt ein Stabsfeldwebel aus Vorpommern, ein Bud-Spencer-Typ, der als Spieß die Sanitätskompanie koordiniert. So rettete man auch einem Oberfeldwebel in einer mehrstündigen Notoperation das Leben. Auch jeden Trupp, der das Camp verlässt, begleiten Mediziner. »Wir verfügen hier über speziell umgebaute ›Fuchs‹-Panzer sowie hochmoderne Rettungswagen, so dass den Jungs auch draußen notfalls alle Hilfe zuteil wird«, versichert er.

Strategie heißt »Force protection«

Es bleibt eben ein Wagniseinsatz. Die Bundeswehr in Kundus soll über die zivilen Aufbauhelferteams eine Art militärischen Schutzschirm spannen – weil dieser halt nötig ist. Und künftig soll sie nach dem Willen der Politik auch noch gegen die Drogenmafia vorgehen. Dazu will die Bundesregierung im Zuge der Verlängerung des Afghanistan-Mandats im September durch den Bundestag das Kontingent um 800 Mann aufstocken. Für Insider ein aussichtsloses Unterfangen. Denn in einem von jahrzehntelangem Krieg zerrütteten Land, in dem der Schlafmohnanbau oft einzige Überlebensquelle für ganze Dörfer und Stämme ist, kann dies nur ins Leere laufen. Dann werde es »erst richtig Tote geben«, räumen selbst hochrangige Offiziere im vertraulichen Gespräch ein. Zudem wisse jeder im Kunduser Camp, wie sehr die Deutschen »vom Wohlwollen der Leute hier abhängig« seien, so Scheibe.

Die Strategie der Stunde heißt darum auch »Force protection«: Man fährt nicht zu schnell durch die Stadt, um nicht Staub aufzuwirbeln oder Matsch zu verspritzen, nähert sich afghanischen Frauen nicht ungebührlich, lässt sich am heiligen Freitag der Moslems möglichst gar nicht blicken. Dafür zeigt die Armee ununterbrochen Flagge: Schwarz-Rot-Gold. Das ist kein Nationalismus, sondern nackter Selbstschutz. Man will um Gottes Willen nicht für Amis gehalten werden. Immerhin waren diese nach Recherchen eines irischen Journalisten aktiv an einem Massaker eben hier in Kundus beteiligt, das die Nordallianz Ende 2001 an 5000 Taliban verübte, die sich bereits ergeben hatten.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Juli 2005


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