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Bekommt der Westen jetzt sein "Afghanistan"?

"In tempore belli" Teil III

Von Erhard Crome*

Anfang des Jahres noch hatte Bush II vollmundig über seinen „Antiterrorkrieg“ verkündet, die „Sicherheitslage“ im Irak und in Afghanistan habe sich „verbessert“. Seit Mitte Mai war es nun im Süden Afghanistans zu den schwersten Gefechten seit dem Sturz der Taliban Ende 2001 gekommen, Ende Mai gab es schwere Zusammenstöße in der Hauptstadt Kabul, von der auch die deutsche Regierung immer wieder behauptet hatte, dort sei es ruhig. Jetzt wird das ganze Land zu einer Kampfzone. Die Guerrilla-Angriffe und Anschläge auf westliche Truppen, Vertreter der Kabuler Regierung und internationale Hilfsorganisationen werden ausgeweitet. Schien Afghanistan seit dem Überfall auf den Irak eher in dessen Schatten zu stehen und relativ beruhigt, so erweist sich dies jetzt als Trugschluß. Geheimdienst-Experten in den USA stellen fest, daß der Krieg in Afghanistan inzwischen eine unerwartete Eigendynamik entfaltet. Die Angriffe der Aufständischen werden taktisch raffinierter. Offenbar sickern radikale Islamisten, die eben noch gegen die US-Streitkräfte in Irak kämpften, nach Afghanistan ein und bringen dort gesammelte Erfahrungen, „Fachkenntnisse“ und Ausrüstung mit.

Bekommt der Westen jetzt sein „Afghanistan“? Bisher stand im öffentlichen Bewußtsein „Afghanistan“ für die Niederlage der Sowjetunion: am 25. Dezember 1979 begann der Einmarsch der sowjetischen Truppen. Doch sie konnten das Land zu keinem Zeitpunkt wirklich beherrschen. Bis in die zweite Hälfte der 1980er Jahre teilten die Moskauer Emissäre in jedem Frühjahr neu in den „Bruderländern“, so auch in Berlin mit, „in diesem Jahr“ werde man mit neuen Militäreinsätzen, Waffen und Truppen „das afghanische Problem“ lösen. Am Ende mußte die sowjetische Führung ihr Scheitern eingestehen: 1988 verkündete Gorbatschow den Abzug, am 15. Februar 1989 verließ die letzte sowjetische Einheit Afghanistan. Insgesamt waren 620.000 sowjetische Soldaten im Einsatz, auf dem Höhepunkt über 100.000 zur gleichen Zeit, etwa 15.000 sind gefallen, 400 vermißt. Zbigniew Brzezinski, der Ende der 1970er Jahre „Sicherheitsberater“ des US-Präsidenten Carter war, betrachtet auch im Rückblick noch den damaligen Afghanistan-Krieg als eine grandiose Operation: die Sowjetunion wurde zum Einmarsch provoziert – was sie in ihrem damaligen außenpolitischen Realitätsverlust auch tat, erlitt ihr „Vietnam“, gleichsam als historische Revanche für das tatsächliche Vietnam der USA wenige Jahre zuvor, konnte international als Aggressor identifiziert und angeklagt werden, ging ihres Ansehens unter den islamischen Ländern verlustig und erlitt eine Demoralisierung, die „schließlich zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums führte“.

So zumindest hat Brzezinski das Le Nouvel Observateur im Januar 1998 erläutert. Auf die Zwischenfrage der Interviewer, ob die USA damit nicht den islamischen Fundamentalismus gepäppelt, ihm Waffen und Ausrüstung geschickt und Ausbildung hätten angedeihen lassen, antwortete er: „Was ist für die Weltgeschichte wichtiger? Die Taliban oder der Zusammenbruch des Sowjetimperiums? Ein paar aufgeputschte Moslems oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“ Dies sind die Worte eines antikommunistischen Abkömmlings des polnischen Adels. Für Afghanistan heißt dies jedoch, es wurde dort von Seiten der Sowjetunion wie des Westens ein Stellvertreterkrieg geführt, der die völlige Zerstörung des Landes, eine weitestgehende Zerrüttung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse des Landes und Generationen fanatisierter Männer zur Folge hatte, die Krieg als das „normale“ Leben und Nicht-Krieg als die Ausnahme, blutige Gewalt als übliche Form des Konfliktaustrags ansehen. Heute, Jahre, nachdem die Taliban gestürzt sind, unter tätiger Mitwirkung auch der deutschen Bundesregierung Hamid Karsai als Präsident installiert wurde und Milliarden Euro in das Land flossen, ist Afghanistan noch immer eines der sechs ärmsten Länder der Welt und das mit dem höchsten Anteil unterernährter Menschen, siebzig Prozent der Einwohner finden nicht genug Nahrung.

Aus diesem Land kommen fast neunzig Prozent der Weltproduktion an Opium, dessen Anbau und Transport etwa sechzig Prozent der afghanischen Wirtschaft ausmachen. Es gibt bisher keine Berichte, daß die Bundeswehr bei der Ernte geholfen hätte; unternommen gegen den Drogenanbau selbst hat sie aber offenbar auch nichts. Von der neuen Regierung wird berichtet, unter ihr sei ein neues System der Korruption aufgeblüht, das nicht zuletzt von den „Hilfen“ des Westens gespeist wird. Das alles ist der Hintergrund, weshalb Afghanistan nicht zur Ruhe kommt und Rufe des militanten Islamismus dort wieder ein stärkeres Echo finden. Der Westen ist offenbar nicht imstande, die von Brzezinski „aufgeputschten Moslems“ zum Frieden zu bringen, es sei denn auf dem Friedhof der ewigen Ruhe.

Gräbt man tiefer in den Schichten der Geschichte, so stellt sich heraus, daß die „Erfahrungen“, die der Westen heute in Afghanistan zu sammeln genötigt ist, und die auch die sowjetischen Truppen machen durften, bereits von den Engländern gemacht wurden, als sie noch Indien beherrschten und sich die Herren der Welt dünkten. 1839 bis 1842 gab es Britanniens ersten Afghanistan-Krieg. Nach ihrem Einmarsch schienen sie gut voranzukommen, bald schon meinten sie, die Eroberung sei abgeschlossen. Doch 1841 folgte ein Aufstand dem anderen, Ende des Jahres konnten sie Kabul nicht mehr halten, am 5. Januar 1842 zogen die Briten ab, mit 4.500 Soldaten und einem Troß von etwa 12.000 Menschen. Sie wurden auf dem Marsch von allen Seiten angegriffen, am Ende kam nur ein einziger Mann in Indien wieder an, um von dem Vorgefallenen zu berichten. Während des zweiten Afghanistan-Krieges 1879/80 hatten die Engländer von vornherein nicht die Absicht, das Land auf Dauer zu besetzen, sie wollten nur sicherstellen, daß der Schah gegenüber Rußland unabhängig blieb. Dafür zahlten ihm eine erkleckliche jährliche Apanage und zogen wieder ab.

Friedrich Engels, der in einem Text von 1857 die afghanischen Entwicklungen beschrieb, betonte: „Die geographische Lage Afghanistans und der eigentümliche Charakter des Volkes verleihen dem Lande im Zusammenhang mit den Geschicken Zentralasiens eine politische Bedeutung, die kaum überschätzt werden kann... Die Afghanen sind ein tapferes, zähes und freiheitsliebendes Volk... Nur ihr unbezwinglicher Haß auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für persönliche Unabhängigkeit verhindern, daß sie eine mächtige Nation werden; aber gerade diese Ziellosigkeit und Unbeständigkeit im Handeln machen sie zu gefährlichen Nachbarn...“

Ein Krieg gegen die Afghanen ist nicht gewinnbar. Die Politik des Westens, auch Deutschlands, hat jetzt einen abschüssigen Pfad betreten, von dem aus im 19. Jahrhundert die Engländer und im 20. Jahrhundert die Russen in den Abgrund gestürzt sind. Die deutsche Bundesregierung wird den Menschen in unserem Lande viel zu erklären haben. Es sei denn, „die Jungs“ kommen sofort zurück. Sie haben am Hindukusch nichts zu gewinnen, außer den Zinksarg.

(Zum Weiterlesen: Friedrich Engels: Afghanistan, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 14, Karl Dietz Verlag Berlin.)

* Leicht gekürzt erschienen in: Das Blättchen, Berlin, No. 12 vom 12. Juni 2006

Teil III der Artikelserie des Autors "In tempore belli".
Die vorangegangenen Teil befinden sich hier:


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