Tausende sind schon tot, Tausende sterben erst noch
Nichts wurde gut in Afghanistan: eine Zwischenbilanz nach dem Beschluss der Nato, in vier Jahren abzuziehen
Von Reinhard Erös *
Die Nato hat also am Wochenende
in Lissabon eine neue Strategie
verabschiedet. Zum ersten Mal in
seiner Geschichte musste das größte Militärbündnis
aller Zeiten dabei auch über
eine sogenannte Exit-Strategie diskutieren
– um den Kampfeinsatz in Afghanistan
endlich zu beenden. Vielleicht hätte
man die Abzugsstrategie aus Afghanistan
besser „Exodus“-Strategie genannt.
Exodos bedeutet im Griechischen: der
Auszug aus einem Land; Exitus dagegen
im Lateinischen und in der Medizin:
„Tod“.
Nun wird mit einem Rückzug der
Nato-Truppen vom Hindukusch wohl
nicht das Ende der Nato eingeläutet, wohingegen
der Abzug der sowjetischen Armee
Ende der achtziger Jahre auch der
Anfang vom Ende des kommunistischen
Weltreiches war. Die im Februar 1989 besiegelte
Niederlage der damals stärksten
Militärmacht der Welt wurde von den Gerontokraten
im Kreml damals wortstark
bemäntelt, zumindest in ihren Formulierungen
wollten sie siegen, wenn das
schon in den Tälern Afghanistans nicht
möglich war: „Wir haben unsere sozialistische
Bruderpflicht erfüllt und ein stabiles
Afghanistan mit einem starken Präsidenten
und einer kampfkräftigen afghanischen
Armee und Polizei hinterlassen.“
Tatsächlich hinterließen sie im Februar
1989 mehr als 1,5 Millionen tote
und fast zwei Millionen an Körper und
Seele verstümmelte Afghanen, mehr als
sechsMillionen Flüchtlinge in denNachbarländern,
mehr als 15 000 eigene Gefallene,
200 000 verkrüppelte Veteranen sowie
ein Afghanistan, das wenig später im
Chaos versank. 1994 überrannten die Taliban
das Land, beendeten damit zwar
die von den Sowjets verschuldete Anarchie,
errichteten dafür aber ein Terrorregime,
wie es das Land noch nie erlebt hatte.
Friedhofsruhe zog ein. Der heute so gefürchtete
weltweite islamistische Terrorismus
nahm seinen Anfang.
Wenn sich in vier Jahren – so die Ankündigung
des westlichen Bündnisses in
Lissabon – auch die Nato-Truppen aus
Afghanistan zurückgezogen und das
Land den Afghanen zurückgegeben haben,
dann spätestenswird sich zeigen, ob
dieses Mal ein Staat zurückbleibt, der in
der Lage ist, auf eigenen Füßen zu stehen.
Zurzeit sieht es leider nicht danach
aus. Im Gegenteil. Nach nunmehr neun
Jahren Krieg und einem Aufwand der
Nato-Staaten von mehr als 700 Milliarden
Dollar – zugegebenermaßen vor allem
für die eigenen Truppen – ist die Regierung
in Afghanistan weit davon entfernt,
das zu liefern, was man von einer
Regierung in wohl jedem Land der Welt
erwarten darf: ein stabiles Staatsgebilde,
das seiner Bevölkerung Sicherheit, einen
zumindest bescheidenen Wohlstand
und der Jugend eine Zukunftsperspektive
bietet. Im weltweiten Ranking steht
das Land bei Korruption seit Jahren an
der Spitze, bei Lebenserwartung und Lebensqualität
dagegen am Ende der Skala.
Afghanistan hat 30 Millionen Einwohner.
Noch nie in dermodernen Geschichte
hat ein Land von so geringer Bevölkerungszahl
in so kurzer Zeit auch nur annähernd
so viel finanzielle Unterstützung
erhalten wie Afghanistan, 40 bis 50
Milliarden Dollar wohl. Und trotzdem
fehlen der Mehrheit derMenschen in diesem
Land weiterhin die elementaren Dinge.
Sechs von zehn Afghanen haben noch
immer keinen Zugang zu klinischer ärztlicher
Versorgung. Acht von zehn Afghanen
kennen keine Versorgung mit sauberem
Trinkwasser. Auch wegen einer exorbitanten
Geburtenrate gehen immer weniger
Kinder zur Schule. Warum sollten
sie auch, könnte man hinzufügen, die
Qualität des Unterrichts wird sowieso immer
desolater.
Schlechte Ausbildung der Schüler und
miserable Bezahlung der Lehrer sind jedoch
verhängnisvoll. Die wenigen akademisch
gut ausgebildeten Afghanen werden
von den ausländischen Organisationen
abgeworben, die ihnen zwar zehnmal
so viel zahlen können wie der afghanische
Staat; 1000 Dollar im Monat statt
der 100, dieman als Lehrer bekommt.Damit
können die Abgeworbenen ihre Familien
ordentlich ernähren. Aber sie arbeiten
bei denOrganisationen weit unter ihrem
Niveau – als Bürokraft, als Übersetzer,
als Kraftfahrer. „Brain drain“ nennt
man diese katastrophale Entwicklung.
Anderes Beispiel: 10 000 Kilometer Teerstraßen
wurden in den vergangenen Jahren
gebaut. Wie schön. Denn alle Ausländer
im Land besitzen ein Auto, und die
Nato-Truppen brauchen sowieso Straßen.
Aber wie viel Prozent der Afghanen
sind motorisiert? Weniger als 5 Prozent.
Darüber hinaus hat sich die Produktion
von Opium und Heroin seit dem Sturz
der Gotteskrieger verfünfzehnfacht. Aus
dem Gewinn finanzieren nicht nur Drogenbarone
ihre Luxusvillen undGeldanlagen
in den Emiraten; auch Taliban und
der internationale Terrorismus speisen
ihre Aktivitäten aus diesem schmutzigen
Geschäft. Demgegenüber produziert Afghanistan
auch nach neun Jahren unter
internationaler Obhut so gut wie nichts
Legales für den Export.
Viele Jahrhunderte lang konnte sich
die Bevölkerung ernähren mit dem, was
im eigenen Land angebaut wurde. Heute
jedoch sind Millionen Afghanen auf Nahrungsmittel
aus dem Ausland angewiesen. Was hier exponentiell wächst, ist die
Zahl der Toten unter den ausländischen
Soldaten. Mehr als 2200 ausländische
Soldaten sind inzwischen in dem Land
am Hindukusch gefallen, darunter 45
deutsche. Geht die Todesrate bei den
Nato-Truppen bis zum geplanten vollständigen
Abzug im Jahr 2014 so weiter
wie in den vergangenen zwei Jahren, werden
es am Ende 4500 Gefallene sein. Die
Anzahl der getöteten afghanischen Frauen,
Kinder und Alten geht in die Zehntausende.
Auch ihre Zahl hat sich von Jahr
zu Jahr dramatisch erhöht. Im vergangenen
Jahr sind durch die Nato mehr afghanische
Kinder ums Leben gekommen als
durch Anschläge der Aufständischen,
manchmal kann offenbar der Helfer eine
größere Bedrohung sein als derjenige,
vor dem er die Leute beschützen will.
Wenn man dem Jahresbericht 2009 des
United Nations Development Programme
(UNDP), dem Entwicklungsprogramm
der Vereinten Nationen, Glauben
schenkt, so ist die humanitäre Lage der
Menschen nicht besser als zu Zeiten des
Taliban-Regimes.
Was bleibt? Nicht mehr als eine vage
Hoffnung: dass der Westen und die Regierung
in Kabul in den nächsten vier Jahren
doch noch die Wende zum Besseren
schaffen, dass der Tod so vieler Menschen
nicht umsonst war. Umsonst war
das Engagement der Nato am Hindukusch
bisher nur in einer Hinsicht nicht:
Er war alles andere als kostenlos, er hat
Geld verschlungen und Leben zerstört.
* Reinhard Erös, 62, Oberstarzt der Bundeswehr a. D., Gründer der „Kinderhilfe Afghanistan“, baut und betreibt seit 2001 Dutzende Schulen, Waisenhäuser und Krankenstationen in Afghanistan.
Dieser Beitrag erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 22. November 2010 (S. 2: "Außenansicht"). Wir dokumentieren ihn hier mit freundlicher Genehmigung durch den Autor.
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