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Fehler, immer wieder "Fehler"

Afghanen verärgert über "Versehen" der ausländischen Truppen

Carla Lee berichtet aus Kabul und Jalalabad *

Am 22. März überfuhr ein Fahrzeug der NATO-geführten ISAF (Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe) ein Kind in Pul-i-Alam, der Hauptstadt der Provinz Logar. Oberstleutnant Steven Baker, ISAF-Kommandeur von Logar, versicherte: »Wir werden weiter alles dafür tun, solche Unfälle zu vermeiden.«

Dem »Unfall« war ein anderer vorausgegangen: USA-Soldaten hatten ein Woche zuvor fünf afghanische Polizisten an einem Kontrollpunkt der widerständigen Provinz Helmand erschossen. Das war als »Versehen« bezeichnet worden, die Soldaten hätten den Polizeiposten fälschlicherweise als Taliban-Stellung identifiziert.

Ob »Versehen« oder »Unfälle« – es gab und gibt sie seit Beginn des als Befreiung getarnten Einmarsches der USA-geführten Koalitionstruppen in Afghanistan immer wieder. Laut BBC waren die Schüsse auf Unschuldige in Helmand der dritte ähnlich gelagerte Fall binnen drei Wochen. Tatsächlich war es wenigstens der vierte. Mindestens einen Fall haben die internationalen Medien verpasst. Ich selbst erfuhr davon in Jalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangarhar.

Die Strickmuster ähneln einander

Am 10. März fuhr ich von Kabul nach Jalalabad, um Informationen aus erster Hand darüber zu sammeln, warum Spezialtruppen der US-Marines wahllos auf Zivilisten geschossen hatten, nachdem sie am 4. März von einem Selbstmordattentäter in Barayekab in der Provinz Nangarhar angegriffen worden waren. Zunächst suchte ich Verletzte im Krankenhaus von Jalalabad auf. Bereits im Korridor erzählte ein Einheimischer von einem ähnlichen Vorfall, der sich erst in der vergangenen Nacht abgespielt haben sollte. Also bestand ich darauf, das Opfer jener Nacht zu sehen. Dem Arzt hatte der Direktor gesagt, ich solle nicht mehr als eine oder zwei Fragen stellen, fotografieren könne ich jedoch. Der Chef des Hauses bestätigte mir das später: Es handle sich eben um ein politisch sehr heißes Eisen.

Das Opfer, der 26-jährige Zabihullah aus Kabul, hatte am Abend des 9. März von Turkum, einer pakistanisch-afghanischen Grenzstadt, über Jalalabad nach Kabul fahren wollen. Was Zabihullah nicht wusste: Afghanische Polizei und USA-Truppen hatten die Straße aufgrund von Informationen über einen bevorstehenden Angriff gesperrt.

Er berichtete: »Ein Polizist zeigte mir an, ich solle in seine Richtung fahren. Also steuerte ich auf ihn zu, aber plötzlich schoss mir aus dem Fahrzeug der USA-Soldaten eine Kugel in den Nacken.« Weder die Gesichter der Polizisten noch das des Schützen habe er in der Dunkelheit und auf die Schnelle erkannt. So wurde der Vorfall vertuscht, und natürlich hat ihn niemand vermeldet.

Die Strickmuster solcher »Fehler« ähneln einander: Meist handelt es sich um unprovozierte Schüsse, um exzessive Gewalt. Auch am 4. März war wahllos auf Zivilisten geschossen worden, die nichts mit Widerstand oder Terror zu tun hatten. »Ich habe wirklich keine Ahnung, was passierte. Mehrere Kugeln trafen meinen Arm, als ich mit dem Auto fuhr«, erzählte der Patient Saidajan. Gleiches bezeugte Abdul Wali, der berichtete: »Die Kugel flog in mein Auto und traf mich.« Wali erlitt Brustverletzungen. Alle Opfer hatten das Pech, den »falschen Ort« zur »falschen Zeit« zu passieren.

Die USA-Soldaten versuchten die Schüsse zu rechtfertigen, indem sie aussagten, aus einem »Selbstmord-Konvoi« sei auf sie geschossen worden. Kein einziger USA-Soldat wurde verletzt, aber laut Krankenhausbericht gab es mindestens acht Tote und 24 Verletzte – alle (außer dem Selbstmordattentäter) mit Schusswunden. Einheimische berichteten sogar von 25 Getöteten, einige seien von ihren Familien geborgen worden. Das Innenministerium sprach von zehn Toten. Das Polizeihauptquartier in Jalalabad, das eine Untersuchung angestellt haben will, registrierte 16. Niemand kennt die tatsächliche Zahl der Opfer. Vier Schwerverletzte wurden zum Krankenhaus der Bagram Airbase gebracht. »Sie befanden sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod«, sagt Dr. Ajmal Pardus, der Direktor des Krankenhauses in Jalalabad. Am 23. März erhielt die gesamte an der Aktion beteiligte Einheit der US-Marines den Befehl, Afghanistan zu verlassen. Strafe oder Flucht?

Erste Fehler dieser Art wurden im Jahre 2002 ruchbar, als die USA-Luftwaffe eine Hochzeitsfeier in der Provinz Uruzgan bombardierte, 45 Menschen tötete und mehr als 100 verletzte. Im vergangenen Oktober starben Dutzende Zivilisten – darunter 20 Angehörige einer Großfamilie – in Panjawi (Provinz Kandahar) bei einem NATO-Luftangriff. Und am Tag nach den tödlichen Schüssen von Nangarhar warfen USA-Bomber zwei 900-Kilo-Bomben auf eine Lehmhütte in der nördlich von Kabul gelegenen Provinz Kapisa. Sie töteten neun Mitglieder einer Familie, darunter vier Kleinkinder. Wenige Stunden zuvor war eine nahegelegene USA-Luftwaffenbasis angegriffen worden. Alles nur Versehen oder eben »Fehler«? Oder unvermeidliche Operationen, um »Terrornester« auszuräuchern? Warum aber trifft die »Revanche« Zivilisten?

Nach den Nangarhar-Schüssen riefen zwar einige aufgebrachte Demonstranten laut »Tod den USA!«, aber es gibt kaum Hinweise darauf, dass die »Terroristen« mit der örtlichen Bevölkerung verbündet wären. Es gibt keine Rechtfertigungen dafür, Zufallspassanten wie »Terroristen« zu behandeln. Die meisten Afghanen glauben durchaus, dass sie derzeit noch internationale Truppen zu ihrer Sicherheit brauchen – wenn bloß die Verbrechen an Unschuldigen aufhörten!

»Leider brauchen wir sie. Wenn sie sich jetzt sofort zurückzögen, da bin ich sicher, bräche ein weiterer Bürgerkrieg aus, weil die Kriegsfürsten eben nicht entwaffnet wurden. Die würden sich gegenseitig bekämpfen, wie in der Vergangenheit. Die ausländischen Truppen sind zur Zeit ein notwendiges Übel. Aber sie müssen sich anders aufführen. Besonders die Amerikaner.« Das sagt die 27-jährige Malalai Parveen (Name aus Sicherheitsgründen geandert), Mitglied der Frauenorganisation RAWA.

Wer beim Aufbau hilft, der ist willkommen

In Jalalabad, das als konservativ und besonders religiös gilt, ist die öffentliche Meinung ein wenig anders. Die Menschen sind eigentlich nicht unzufrieden mit der Präsenz ausländischer Truppen – unter der Bedingung, dass die nicht mit ihren Waffen fuchteln, sondern sich auf den Wiederaufbau des Landes konzentrieren. »Wenn sie uns beim Wiederaufbau helfen, heißen wir sie willkommen. Aber wenn sie unsere Leute umbringen, sind sie nicht willkommen«, sagt eine 27-jährige Frau.

Studierende der Universität Jalalabad äußern zunächst ihre Verärgerung über Verbrechen der »Special Forces« aus den USA. Aber die meisten meinen auch, dass man die Truppen und die internationale Gemeinschaft »noch« zum Wiederaufbau brauche. »Wir wollen nicht, dass – egal welche – Soldaten Zivilisten umbringen. Wir stimmen jedoch ihrer Präsenz in beschränktem Maße und einer aufrichtigen Hilfe für unser Volk zu«, beginnt eine 18-Jährige, aber ein Kommilitone – durch die jüngsten Ereignisse verärgert – fällt ihr ins Wort: »Der Haupteindruck, den die USATruppen hinterlassen, ist der, dass sie unschuldige Menschen töten.« Eine dritte Sicht präsentiert der 21-jährige Faridullah Mohammad: »Die Terroristen töten letztendlich Zivilisten, nicht ihren Feind. Es sind Afghanen, die sie umbringen.«

Glaubt man den Leuten in Jalalabad, sind unter den »Terroristen« Araber, Nordafrikaner, Pakistaner und Afghanen. Sie unternehmen ihre Aktionen von pakistanischem Boden aus und verschwinden danach wieder. Es ist schlicht unmöglich, jeden Grenzgänger zu kontrollieren. Ungezählte Flüchtlinge pendeln schon seit Jahren ohne jegliche Dokumente zwischen beiden Staaten. Die Stammesgebiete im Nordwesten Pakistans und die angrenzende afghanische Provinz Nangarhar sind zwar als Rückzugsgebiet für Al-Qaida und Taliban-Truppen bekannt, doch selbst am »offiziellen« Grenzübergang können sich die Terroristen frei bewegen, ganz zu schweigen von anderen, nicht überwachten Grenzgebieten ...

Fragt sich, wie lange die Afghanen ihre »bedingte Zustimmung« zur Präsenz ausländischer Truppen durchhalten, wenn die Übergriffe von NATO- und USA-Militärs andauern. In Jalalabad wird nicht zwischen NATO-geführter ISAF und USA-geführten Koalitionstruppen unterschieden. Die meisten betrachten alle als »Americanos«, während manche Kabuler sagen, die ISAF sei »ein bisschen besser als die USA-Truppen«. Dauern die Übergriffe auf Zivilisten an, könnten alle Ausländer sehr schnell zu Feinden erklärt werden. In Kabul hielten manche schon meine Reise nach Jalalabad für riskant: »Einige Einheimische dort werden dich als Feind betrachten, weil du Ausländerin bist.«

Wachsen Sympathien für Taliban wieder?

Es gibt Warnungen davor, dass immer mehr Afghanen Sympathien für die Taliban hegen könnten, weil sie genug haben von den ständigen »Fehlern« ausländischer Truppen. ISAF-Sprecher Brigadegeneral Richard E. Nugee sagte der Nachrichtenagentur AP im Januar: »Was wir falsch gemacht haben, und wir bemühen uns dieses Jahr ganz entschieden um Besserung, das ist das Töten unschuldiger Zivilisten.«

Tatsächlich sollte es »oberste Priorität« haben, die Herzen der Einheimischen zu gewinnen. Etliche Staaten, die hier am Wiederaufbau beteiligt sind, haben sich in der Vergangenheit schuldig gemacht – durch direkte Beteiligung an Kriegen oder durch völlige Missachtung Afghanistans nach dem sowjetischen Truppenabzug in den 80ern. Es ist dringend an der Zeit, das Wohlwollen der Afghanen durch praktischen Wiederaufbau zu erlangen. Andernfalls könnte das Jahr 2007 zu einem Wendepunkt werden. * Carla Lee ist eine aus Korea stammende freie Journalistin.

Aus: Neues Deutschland, 3. April 2007



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