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Paris stoppt Militäreinsätze

Reaktion auf Tod von vier französischen Soldaten in Afghanistan *

Nach dem Tod von vier französischen Soldaten in Afghanistan hat Frankreich seine Militäreinsätze in dem Land vorerst gestoppt.

Die Unterstützung für Kampfeinsätze und die Ausbildungshilfe seien ausgesetzt, ein Abzug der französischen Armee sei nicht ausgeschlossen, sagte Präsident Nicolas Sarkozy am Freitag in Paris. Ein afghanischer Soldat hatte die vier französischen Militärs im Osten des Landes erschossen.

Sarkozy kündigte an, Verteidigungsminister Gérard Longuet werde »unverzüglich« nach Afghanistan reisen. Generalstabschef Edouard Guillaud soll ihn begleiten. Longuet werde nach seiner Rückkehr zusammen mit Regierungschef François Fillon und Außenminister Alain Juppé einen Bericht abliefern. »Wenn die Sicherheitsbedingungen nicht klar erfüllt sind, dann wird sich die Frage nach einer vorzeitigen Rückkehr der französischen Armee stellen«, erklärte Sarkozy. Er werde über die Lage mit dem afghanischen Präsident Hamid Karsai bei dessen Besuch in Paris in einer Woche sprechen.

Ein hochrangiger afghanischer Polizist sagte am Freitag, der afghanische Soldat habe das Feuer auf eine Gruppe Franzosen eröffnet. Dabei seien vier Soldaten getötet und 16 verletzt worden. Zu dem Vorfall sei es auf einer gemeinsamen Basis afghanischer und ausländischer Truppen im Distrikt Tagab gekommen. Der Einsatz in Afghanistan hat bislang mehr als 80 französische Soldaten das Leben gekostet.

Die »New York Times« zitierte am Freitag aus einem geheimen US-Militärbericht, wonach die Zahl tödlicher Angriffe einheimischer Soldaten auf ausländische Kameraden dramatisch zugenommen habe.

* Aus: neues deutschland, 21. Januar 2012


Sarkozy erwägt Afghanistan-Abzug

Frankreich setzt nach Tod von Soldaten Kampfeinsätze aus. Härtere Sanktionen gegen Iran gefordert **

Am Freitag (20. Jan.) sind im Osten Afghanistans vier französische Soldaten getötet und 16 Menschen verletzt worden, unter ihnen acht weitere Franzosen. Nach Angaben der afghanischen Sicherheitskräfte hatte ein Mann in der Uniform der afghanischen Armee im Distrikt Tagab in der Provinz Kapisa das Feuer auf die Soldaten eröffnet. Der Angriff zählt zu den folgenschwersten für Frankreich während des zehnjährigen Einsatzes in Afghanistan.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy erklärte daraufhin, daß die Unterstützung von Kampfeinsätzen und die Ausbildungshilfe vorübergehend ausgesetzt würden und ein vorzeitiger Abzug der französischen Armee nicht ausgeschlossen sei. Es sei inakzeptabel, daß afghanische Sicherheitskräfte auf französische Soldaten schießen. Er kündigte an, Verteidigungsminister Gérard Longuet und Generalstabschef Edouard Guillaud werden »unverzüglich« nach Afghanistan reisen. Nach ihrer Rückkehr soll die Lage in einem Bericht zusammengefaßt werden. »Wenn die Sicherheitsbedingungen nicht klar erfüllt sind, dann wird sich die Frage nach einer vorzeitigen Rückkehr der französischen Armee stellen«, so der französische Präsident.

Unterdessen hat sich Sarkozy bei einem Neujahrstreffen mit Diplomaten in Paris für wirksamere und entschiedenere Sanktionen gegen den Iran ausgesprochen. Frankreich fordert ein EU-weites Embargo gegen iranisches Öl und das Einfrieren aller Vermögenswerte der iranischen Zentralbank. Sarkozy warf dem Iran vor, in seinem »sinnlosen Streben nach einer Atombombe« zu lügen und zu täuschen. Er sprach sich gegen einen Militäreinsatz aus, da durch diesen »Krieg und Chaos« im Nahen Osten ausgelöst würden. Wer härtere Sanktionen blockiere, riskiere eine militärische Eskalation, so Sarkozy mit Blick auf China und Rußland und in Verkehrung der Erfahrungen der letzten Jahre. Den Angriffen auf Irak, Afghanistan und Libyen etwa waren jeweils Blockaden und Sanktionen vorausgegangen.

** Aus: junge Welt, 21. Januar 2012


Wahlkampfmanöver

Von Uwe Sattler ***

Man müsse einen Krieg auch beenden können. Das sagte Präsident Nicolas Sarkozy im Sommer vergangenen Jahres zum Kampfeinsatz französischer Truppen in Afghanistan. Glaubt man den Worten aus Paris, könnte die »Mission Hindukusch« für die Grande Nation nun deutlich früher als - wie geplant - 2014 zu Ende sein: Nach dem Tod weiterer französischer Soldaten erwägt die Regierung einen Abzug der Einheiten.

Für die große Mehrheit in Frankreich wird das gut klingen. 82 französische Soldaten kamen in dem NATO-Krieg bislang ums Leben - und mit der wachsenden Zahl der Opfer wandelte sich die Stimmung im Land. Der ursprünglichen Zustimmung zum »Antiterroreinsatz« folgte die Verdrängung und heute schließlich die klare Ablehnung einer französischen Kriegsbeteiligung.

Dass der Präsident dem Bevölkerungswunsch nach einem schnellen Rückzug nachkommt, ist allerdings zweifelhaft. War es in der Vergangenheit doch ebenfalls Sarkozy, der als »Lösung« für das Afghanistan-Dilemma immer mehr französische Soldaten entsandte und deren Einsatzgebiet ausweitete. Vor allem aber herrscht Wahlkampf in Frankreich, und versprochen wird da viel. Innenpolitisch hat Sarkozy kaum etwas zu bieten; die bei seinem Amtsantritt vor fünf Jahren allen Franzosen angekündigte Kaufkrafterhöhung ist angesichts der Krisen-Sparmaßnahmen ad absurdum geführt, das Renteneintrittsalter wird erhöht, die Programme für die sozialen Brennpunkte liegen auf Eis. So makaber es klingt: Der Tod der Franzosen, die Diskussion um Afghanistan und die Ablenkung von der Innenpolitik könnten Sarkozy gelegen kommen.

*** Aus: neues deutschland, 21. Januar 2012 (Kommentar)


Auf Schafspelzsuche

Sarkozys Wandel zum Friedensfreund

Von Uli Schwemin ****


Der französische Präsident ist außer sich, weil in Afghanistan vier französische Soldaten getötet wurden. Und zwar von den »eigenen Verbündeten«, von einem Mann in der Uniform der afghanischen Armee. »Wir sind Freunde des afghanischen Volkes«, plusterte sich Nicolas Sarkozy auf, »aber ich kann es nicht akzeptieren, daß afghanische Soldaten auf französische Soldaten schießen.«

Präsidenten sollte man gar nicht oder sehr genau zuhören. Im Umkehrschluß bedeutet Sarkozys Empörung, daß er es wohl akzeptieren würde, wenn französische Soldaten vom »militärischen Gegner« am Hindukusch erschossen werden. Der Präsident, so scheint es, sitzt in seinem eigenen Kriegsfilm. Die Realität verwirrt ihn.

Wer ist der Gegner der NATO in Afghanistan? Die im Westen gängige Antwort lautet »die Taliban«. Sie ist falsch. Immer mehr Afghanen, und zwar quer durch alle Schichten dieses geschundenen Volkes, erkennen, daß der Krieg, den die NATO-Eindringlinge seit elf Jahren führen, gegen sie gerichtet ist. Spiegel online berichtet von einem geheimen US-Militärreport, daß die Zahl tödlicher Angriffe afghanischer Soldaten auf NATO-Truppen dramatisch zugenommen habe. Zwischen Mai 2007 und Mai 2011 seien »mindestens 58 westliche Soldaten bei 26 Vorfällen getötet« worden. Die Wahrheit ist: Der Westen hat in Afghanistan keine Verbündeten. Er hat Kollaborateure, aber er kann sich ihrer nicht sicher sein.

Sarkozys Entrüstung darüber, daß die »eigenen Verbündeten« auf französische Soldaten schießen würden, deutet also daraufhin, daß er entweder irre ist oder lügt. Da letzteres sein Beruf ist, wollen auch wir diese Möglichkeit annehmen. Das liegt auch deshalb nahe, weil der gespielte Zorn nur der Anfang der Lüge ist. Ein Abzug der französischen Armee aus Afghanistan, so der Präsident weiter, sei nicht ausgeschlossen, »wenn die Sicherheitsbedingungen nicht klar erfüllt sind«. Den Satz lohnt es zweimal zu lesen: Ein Aggressor, der in einem fremden Land Tausende Kilometer entfernt Leute umbringen läßt, beschwert sich über die dort »nicht vorhandenen Sicherheitsbedingungen«. Doch ein Fall für den Irrenarzt?

Mitnichten. Am 22. April beginnen in Frankreich Präsidentschaftswahlen. Der sozialistische Kandidat François Hollande führt derzeit in den Umfragen vor Sarkozy. Und Hollande hatte sich für einen vorzeitigen Abzug der französischen Truppen aus Afghanistan »bis Ende 2012« ausgesprochen. Da geht also noch was. Seit Freitag warnt Sarkozy deshalb sogar vor einem Militäreinsatz gegen den Iran. Dadurch würden nur »Krieg und Chaos« im Nahen Osten ausgelöst. Am 31. August 2011 hatte derselbe Präsident noch einen »Präventivangriff auf iranische Nuklearanlagen« in Aussicht gestellt, sollte sich Teheran nicht gefügig zeigen.

Sarkozy geht seit fünf Jahren über Leichen in Afghanistan. Er will das fortsetzen. Deshalb braucht er eine Pause für die Wiederwahl.

**** Aus: junge Welt, 21. Januar 2012 (Kommentar)


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