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Angst vor eigener Polizei

Wenig Grund zu Optimismus auf Fachtagung "Hoffnung auf Frieden und Angst um die Frauenrechte in Afghanistan" in Bonn. Mafiaähnliche Strukturen in der Regierung

Von Mona Grosche *

Auch nach elf Jahren Militäreinsatz ist Afghanistan von friedlicher, demokratischer Entwicklung weit entfernt. Angesichts des angekündigten Truppenabzugs im Jahr 2014 fürchten Menschenrechtsaktivisten nun zudem den Verlust mühsam erkämpfter Fortschritte für die Frauen – so der Tenor in der Debatte auf einer von der Frauenhilfsorganisation Medica Mondiale organisierten Tagung am vergangenen Wochenende in Bonn. Denn die innenpolitische Lage des Landes ist alles andere als stabil: In sämtlichen 34 Provinzen haben die Taliban wieder erheblichen Einfluß, Warlords sorgen für politische Unruhe, der Drogenhandel floriert. Noch immer haben nur 22 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser, 60 Prozent sind sehr schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt, die Lebenserwartung beträgt statistisch gesehen gerade 44,6 Jahre. Angesichts der Korruption und des weithin herrschenden Stammesrechts können neue Gesetze und die 2004 ratifizierte Verfassung kaum umgesetzt werden.

»Es gibt keinen wirklichen zivilen Aufbau, sondern nur eine zivilgesellschaftliche Hülle«, charakterisierte Medica-Mondiale-Gründerin Monika Hauser die Lage in Afghanistan auf der Bonner Konferenz. Den Grund für die Misere sieht die Trägerin des alternativen Friedensnobelpreises vor allem in der fehlgeleiteten internationalen Strategie des Militäreinsatzes. Den beteiligten Ländern sei es weniger um Menschen- und Frauenrechte gegangen als um die Wahrung eigener Interessen. So wundert es die in vielen Krisen- und Kriegsregionen der Welt aktive Ärztin und Frauenrechtlerin wenig, daß bisher so gut wie nichts beim angestrebten Friedensprozeß herausgekommen ist: »Man hat allein auf eine militärische Lösung anstatt auf zivilgesellschaftliche Entwicklung gesetzt.« Der proklamierte »Demokratieexport«, etwa durch Ausbildung lokaler Polizei- und Militärkräfte habe trotz immenser Kosten nicht stattgefunden – im Gegenteil: »Große Teile der Bevölkerung haben inzwischen mehr Angst vor der eigenen Polizei als vor den Taliban«, so Hausers Einschätzung.

Dies bestätigte Sajia Begham, Politologin und Juristin aus Afghanistan. Bereits unter den Taliban hatte sie heimlich eine Schule für Mädchen aufgebaut und arbeitete später u.a. als Genderexpertin für die bundesdeutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Begham verwies auf eine wachsende Verunsicherung in der afghanischen Bevölkerung, vor allem bei Frauen, angesichts des für 2014 angekündigten Abzugs. Auch sie befürchtet, daß damit eine Renaissance der Taliban einhergehen könnte: »Viele junge Leute verlassen das Land oder haben Angst, wieder zurückzukehren«, berichtete sie. Bereits seit 2006, darin waren sich die in Bonn anwesenden Expertinnen aus mehreren Ländern einig, verschlechtert sich die Lage zusehends. Schuld daran seien erste Zugeständnisse an die Taliban, aber auch, so Begham, »fehlendes Engagement der afghanischen Regierung«. Das bekräftigte Thomas Ruttig, Direktor des Afghanistan Analysts Network in Kabul. Präsident Hamid Karsai bescheinigte er: »Er herrscht, aber er regiert nicht.« Sein Kabinett und dessen Umfeld weise »mafiaähnliche Strukturen« auf.

Die Frauen leiden am meisten unter der Entwicklung – wie sehr, das schilderte Zarghona Ahmadzai. Die afghanische Psychologin hilft seit vielen Jahren Gewaltopfern und gehört zum Stab der Organisation »Medica Afghanistan«, die sich seit 2002 – zunächst als Zweigstelle von Medica Mondiale, seit 2010 eigenständig – für die Rechte von Frauen stark macht und sie medizinisch versorgt. Vor allem die Gewalt gegen Frauen sei ein bedrückendes Problem: »Trotz offizieller Gleichberechtigung und sogar einem Gesetz zu Gewalt gegen Frauen wird alle 18 Sekunden Gewalt an einer Frau in Afghanistan verübt«, sagte Ahmadzai. Vergewaltigungen, Zwangsverheiratung, Frauenhandel und »Ehrenmorde« sind an der Tagesordnung. »90 Prozent der Frauen in Afghanistan haben Gewalterfahrungen gemacht«, so die Psychologin. Sie betont, daß Fälle, die in letzter Zeit durch die internationalen Medien gingen, wie der Fall einer 18jährigen, der von der Familie ihres Mannes Nase und Ohren abgeschnitten wurden, keine Ausnahmeerscheinungen sind. Zahlreiche Frauen werden in vergleichbaren Situationen von Medica Afghanistan medizinisch und psychosozial betreut.

Trotz alledem sehen Ahmadzai und ihre Mitstreiterinnen keinen Grund zur Resignation. »Jetzt sind Verantwortungsgefühl und Solidarität der internationalen Staatengemeinschaft gefordert«, erklärte Monika Hauser. »Nicht erst Frieden, und dann Frauenrechte«, mahnte sie; »das eine geht nicht ohne das andere«. Hier maßgeblich mitzuwirken, sei eine »zentrale Aufgabe« der Bundesregierung nicht erst nach dem Truppenabzug. In den elf Jahren seiner Beteiligung an dem internationalen Einsatz habe Deutschland »die Rechte der afghanischen Frauen sträflich vernachlässigt«. Begham forderte von NATO und Europa: »Sie sollten sehen, was Afghanistan wirklich braucht, und jetzt handeln, nicht erst 2014!«

* Aus: junge Welt, Freitag, 07. Dezember 2012


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