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Eine Feier und andere "Normalitäten" in Kabul

Abermals wurde eine Deutsche entführt – wieder heißt es, dass die Gangster nur kriminelle Interessen verfolgen

Von René Heilig *

Mit einer Militärparade hat die offizielle Führung in Kabul gestern den 88. Jahrestag der Unabhängigkeit des Landes gefeiert. Unterdessen zeigte sich erneut, wie abhängig das Regime von Präsident Hamid Karsai ist. Karsai wollte Souveränität beweisen, die niemand in Afghanistan hat. In einem Sportstadion der Hauptstadt, in dem während der Herrschaft der Taliban öffentlich Hinrichtungen vollstreckt wurden, warnte der Präsident von Washingtons Gnade vor den wiedererstarkten Taliban. Nicht zu Unrecht, denn die haben in den vergangenen Jahren weite Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht und sind auch in den angeblich von der ISAF kontrollierten Regionen präsent. Wenn Karsai die Taliban verflucht, dann nicht von ungefähr, denn diese Truppe um Mullah Omar ist die einzige, die wie er eine Zentralmacht anstrebt. So gesehen haben die Feinde Karsai und Omar im Grunde auch dieselben Feinde. Warlords en gros und jede Menge nicht zu steuernder kleiner Banden.

Geisel wieder frei

Ein Polizeioffizier, der anonym bleiben wollte, sagt der dpa, Sicherheitskräfte seien in der Nacht zum Montag (21. August) von der Rückseite aus gewaltsam in das Haus im Westen Kabuls eingedrungen, in dem Christina M. festgehalten wurde. Nur ein Mann habe die Geisel bewacht, er sei vor den Polizisten geflohen. Nach der Entführung in Kabul hatte die Polizei die Ausfallstraßen abgeriegelt. In der Gegend, wo Christina M. nun aufgespürt wurde, hatten Fahnder den ganzen Sonntag über Häuser durchsucht. Die Sicherheitskräfte rückten den Entführern immer näher, hieß es am Sonntagabend (19. August) - dann waren sie am Ziel.


Noch vor zwei Jahren hofften selbst Sicherheitsexperten, die den Überfall der USA auf das Land am Hindukusch mit Kopfschütteln begleitet hatten, dass die westliche Koalition einen Sieg davontragen könnte. Das glaubt heute kaum noch jemand. Schneller als man pro-westliche Sicherheitskräfte ausbilden kann, erstarkt das gewöhnliche wie das politisch kaschierte Verbrechen. Kidnapping wurde zu einer Art Wirtschaftszweig. Niemand weiß, wie viele ausländische Geiseln derzeit hoffen, von ihren Regierungen freigekauft zu werden. Auch deutsche Bürger, denen man bisher einen gewissen, vor allem traditionell begründeten Sicherheitsbonus eingeräumt hatte, geraten immer mehr in Bedrängnis. Folglich muss der BND immer öfter seine seit jeher guten Kanäle öffnen, um etwas über den Verbleib deutscher Bürger herauszufinden. Die jüngste Entführung ereignete sich am Wochenende in einem kleinen Imbiss im Westen Kabuls. »BarBQ Tonight«, so heißt der angeblich originelle Name des Imbiss, hat gerade vier Tische aufzubieten. Es wird berichtet, dass sich das Opfer, eine 31-jährige Entwicklungshelferin aus Deutschland, gerade zum Mittagessen gesetzt hatte, als sie in einen blauen Toyota Corolla gezerrt wurde. Die alarmierte Polizei tat das, was sie – außer korrupt zu sein – am besten kann. Sie schoss ohne Rücksicht auf die Entführte zu nehmen, dem Wagen hinterher. Die Kugeln trafen – allerdings einen unbeteiligten Taxifahrer.

Der Westen Kabuls war im Krieg gegen die sowjetischen Truppen wie dem nachfolgenden Bürgerkriegsgemetzel stark zerstört worden. Nun haben sich da viele ausländische Firmen und Hilfsorganisationen niedergelassen. So wie das Verbrechen – Diebstähle, Raubüberfälle und Schutzgelderpressung sind an der Tagesordnung. Immer wieder waren in den vergangenen Jahren kriminelle Banden auch für Entführungen von Ausländern in Kabul verantwortlich. Sie wollten damit Lösegeld erpressen und inhaftierte Bandenmitglieder aus Gefängnissen freipressen.

Die entführte Frau ist bei der kleinen 1981 gegründeten deutschen Hilfsorganisation »Ora International« angestellt. Sie arbeitet seit einem Jahr in Kabul und war nicht zum ersten Mal in dem Imbiss. Man kann also davon ausgehen, dass die Entführer wussten, wen sie in ihre Gewalt bringen wollten. Wer die Geiselnehmer sind, ist noch unklar.

Dass sie »nur« sie mitnahm und ihren Ehemann, der mit ihr am Tisch saß, verschonten, folgt einem mehrfach erprobten Kalkül. Das Kidnapping einer Frau, die zudem Christin ist, erhöht die Chance auf eine rasche Lösegeldzahlung. Ein übliches Geschäft, nun beginnt das Feilschen. Dass sich dennoch in der Masse der Entführungsfälle die Taliban als Drahtzieher bekennen, ist eine andere Geschichte. Sie hoffen, dass man so und durch gezielte Attentate auf deutsche Soldaten und Polizisten zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung beitragen kann. Jede Meldung in den Medien verstärkt ihre Aktivitäten und im kommenden Monat stehen Entscheidungen über die Verlängerung des deutschen Militäreinsatzes in Afghanistan an.

Offiziell sind derzeit zwei Deutsche in Afghanistan verschleppt. In der südostafghanischen Provinz Ghasni wird seit einem Monat der Ingenieur Rudolf B. gefangen gehalten. Der 62-Jährige wurde von lokalen Paschtunen verschleppt, die gleichfalls kriminelle Motive haben sollen. Es gibt Kontakt zu ihm und seinen Peinigern. Man glaubt sogar, den Ort seiner Gefangenschaft zu kennen – in etwa 3000 Metern Höhe.

* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2007


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