Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Verordnetes Schweigen

Die Heimkehrer aus dem Afghanistan-Krieg

Von Rainer Funke *

Der Ton scheint die Botschaft zu sein: Niemand hätte es abwegig gefunden, dass auch im Nachbarblock die Soldaten stramm stehen, wenn der Oberbootsmann brüllt. So erlebt die Sportsoldatin und zweifache Ruderweltmeisterin Marita Scholz in der Grundausbildung den Vorgesetzten Kruse, der ein paar Wochen später ihr Lebensgefährte werden sollte.

Dieser René erweist sich im Alltag als ein wandelndes Rätsel. Er ist ein einfühlsamer Partner, später ein liebevoller Vater und zugleich einer, der aus heiterem Himmel ausrastet, nicht immer Herr seiner Sinne ist. Manchmal schlägt er nachts die Faust an die Wand, zertrümmert mit dem Kopf ein Regal. Er fällt in einen Kontrollwahn, wird von Eifersucht geplagt, die sich bis ins Absurde steigert. Wenn er einen Gasthof betritt, sucht er sich einen Platz, von dem er alles, was geschieht, zu überschauen vermag.

Die Pflichterfüllung stellt er über alles. Ohne zu fragen. Manchmal verschwindet er für eine Woche oder zehn Tage. Sagt nicht, warum er wo gewesen ist. »Habe ich vergessen«, antwortet René, wenn sich Marita um ihn sorgt, weil er einem Zombie gleich leichenblass und übermüdet von einem Einsatz zurückkehrt. Nur in wenigen Momenten öffnet er sich. Bei einem der Sonderkommandos wird neben ihm ein guter Freund erschossen. Und er gibt sich dafür die Schuld, sagt er Marita. Auch ein anderes Bild geht ihm nicht aus dem Kopf: Er hält in Afghanistan einen kleinen Jungen im Arm, der wohl von Granatsplittern getroffen wurde. Jemand hat ihn mit einer Schubkarre vor das Lagertor gestellt. Die Eingeweide hängen aus dem Bauch. 20 Minuten lang müht sich René, die Löcher mit den Händen zu bedecken. »Aber immer, wenn ich das eine zuhielt, ging ein anderes auf.« Er weint. Und wird aggressiv, wenn kleine Jungen schreien. Wie der damals in seinen Armen.

Von Sonderkommandos, bei denen René und andere aus der Ferne ausgewählte Leute erschießen, erfährt Marita nichts. Es handelt sich um ein von der Bundeswehr verordnetes Schweigen. Und auch eines, das er sich selbst auferlegt hat. Hatte er in Bagdad Peilsender gesetzt, bevor die Amerikaner die Stadt bombardierten? Er sei nicht krank, sagt er. Anderntags korrigiert er sich: Aber »die da« hätten keine Ahnung. Es bleibt offen, wer das ist.

Marita meldet sich zu einem Reservisteneinsatz nach Kundus. Und sie kommt in eine surreale Welt, in dem sie als Gartenbau-Ingenieurin Teile des Feldlagers in einen grünen Park verwandeln soll - mit aus der Heimat eingeflogener Erde, Knollen und Samen. Hier gibt es keine Schatten, empfindet sie, und anscheinend kein Maß für die Zeit. Wenn alle paar Tage ein Bundestagsabgeordneter anrückt und sein Leben zu behüten ist, weiß man, dass in Deutschland Wahlen bevorstehen. Als René mit einem Amoklauf droht, kehrt Marita zurück. Ohnmächtig wie zuvor. »Ich kämpfte gegen Renés Geister, ohne die Dämonen in seinem Kopf zu kennen«, schreibt sie.

Traumatische Erlebnisse sind nicht ungewöhnlich. Zu 60 bis 80 Prozent muss der Mann in seinem Leben damit rechnen, einer grenzwertig bedrohlichen Situation ausgesetzt zu sein, die Frau zu 50 bis 75 Prozent, wie die Wissenschaft herausgefunden hat. Schwere Unfälle, kriminelle Gewalt, sexuelle Übergriffe, Katastrophen können einen schweren Konflikt zwischen Psyche und Körper auslösen. Viele Menschen können die Angst vor der Angst nach ein paar Monaten selbst bewältigen. Manche nicht.

Nach offiziellen Angaben sollen bis August vorigen Jahres 2779 zumeist aus Afghanistan heimgekehrte Bundeswehrsoldaten von posttraumatischen Belastungsstörungen betroffen sein. Sicher eine viel zu geringe Zahl, wenn man bedenkt, dass es allein voriges Jahr 922 Fälle gewesen sein sollen und es zum Krankheitsbild zählt, eigene Betroffenheit zu bestreiten. Scholz beklagt weniger die Absurdität der Einsätze fern der Heimat, sondern vielmehr, wie hierzulande mit Trauma-Kranken umgegangen wird, wie zögerlich die Bundeswehr auf sie reagiert, bis es zur Therapie kommt. Das Schweigen macht die Familien kaputt, folgert die Autorin aus ihrem Erleben.

Marita Scholz: Heimatfront. Mein Leben mit einem Kriegsheimkehrer. Herder Verlag, Freiburg 2012. 260 S., geb., 19,99 €.

* Aus: neues deutschland, 8. März 2012


Zurück zur Afghanistan-Seite

Zur Bundeswehr-Seite

Zurück zur Homepage