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"Zum Frühstück essen wir Staub"

In der nordafghanischen Provinz Balkh drohen 10 000 Menschen zu verdursten

Von Britta Petersen, Masar-e-Scharif *

Nach einem sehr kalten Winter und einem trockenen Frühjahr haben vielen Menschen in Nordafghanistan nicht einmal das Nötigste zum Überleben. Die UN stellen kritische Fragen – auch an die deutsche Hilfsstrategie.

Abdur Rauf ist der letzte, der Albuz verlassen hat. Gerade ist er in Sholgara angekommen und steht ratlos zwischen den wenigen Dingen, die ihm geblieben sind: ein paar Töpfe und Pfannen, Kissen und Decken, die bessere Tage gesehen haben. »Ich würde das auch noch verkaufen, um etwas zu Essen zu besorgen, aber niemand will es haben«, sagt der Mann mit dem dunklen Bart mit Tränen in den Augen. Er ist aus seinem Dorf in der nordafghanischen Provinz Balkh geflohen, in dem es schon seit Wochen kein Wasser mehr gibt. »Alle anderen sind schon eher Tagen weggegangen, aber mein Bruder sitzt im Rollstuhl, und niemand hat uns mitgenommen. Heute habe ich ihn direkt vor ein Auto geschoben und gesagt: Wenn ihr uns nicht hier raus bringt, stirbt dieser Junge.«

Wie 10 000 andere Bewohner der Region Albuz campiert Rauf nun in der Wüste, zwei Autostunden von Masar-e-Scharif entfernt – dem Hauptquartier der deutschen Truppen in Afghanistan. Zwischen den kargen Bergen in Sholgara reiht sich ein Zelt an das andere. Es gibt keinen Baum, keinen Strauch und keine Sanitäreinrichtungen, doch durch das Tal läuft ein Fluss – und an einem Fluss verdurstet man nicht. »Wir sind auf dem Nullpunkt angekommen«, sagt Chak Mullah Sher, ein Geistlicher mit grauem Turban. »Wir hatten in diesem Jahr einen sehr kalten Winter, und dann hat es im Frühjahr überhaupt nicht geregnet. Auf den Feldern ist alles verdorrt, und das Vieh starb. Die meisten haben alles verkauft und sind hierher gekommen.«

Obwohl die Flüchtlinge bereits seit zwei Wochen bei 40 Grad in der Wüste ausharren und die Medien in Afghanistan darüber berichtet haben, haben weder die Internationale Schutztruppe noch die Vereinten Nationen bisher Hilfe geschickt. »Es ist eine Katastrophe«, sagt Nafisa Sharifi von der afghanischen Menschenrechtskommission, die gestern zum ersten Mal nach Sholgara gekommen ist. »Es gibt so gut wie keine Hilfe, die Menschen leiden unter Dehydrierung wegen der Hitze, Durchfall und Augeninfektionen wegen des Staubes. Die Mütter haben aus Mangel an Wasser keine Milch mehr für ihre Babys.«

Der einzige, der die Flüchtlinge bisher unterstützt, ist der Geschäftsmann Haji Mohammad Ibrahim Ghazanfar aus Masar-e-Scharif. Er hat vor zwei Tagen eine Notküche aufbauen lassen. Die Männer der Ghazanfar-Gruppe, die im Ölgeschäft tätig ist und dem Usbekenführer Abdul Rashid Dostum nahe steht, rühren am Rande der Wüste in riesigen Stahlkesseln, in denen sie Fleisch und Reis zubereiten. »Wir kochen täglich eine Mahlzeit für 2000 Familien«, sagt Mitarbeiter Sayed Gul. »In zwei Tagen haben wir 30 000 Brote verteilt.« Doch das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. »Natürlich ist das Essen eine Hilfe«, sagt Chak Mullah Sher, »aber es reicht nicht. Wir essen den Reis zum Mittag, das Brot bewahren wir für das Abendessen auf. Zum Frühstück essen wir Staub.«

»Wir appellieren an die Geberländer, vor allem an die deutsche Regierung«, sagt Sheila Henry, UN-Beauftragte für Humanitäre Angelegenheiten in Masar-eSharif. Leider konzentriere Berlin seine Mittel auf Regionen, in denen regionale Wiederaufbauteams stationiert sind – statt »dort zu helfen, wo es dringend nötig ist«.

Vor allem die kleinen Kinder in Sholgara liegen apathisch mit ihren Müttern in den heißen Zelten, denn es gibt sonst keinen Schutz vor der brennenden Sonne. »Ich habe Durst, ich habe Kopfschmerzen, mir ist schwindelig, und mir tut der ganze Körper weh«, sagt Aman Gul, eine Frau mit grünem Kopftuch und einer Tätowierung auf der Stirn. Was sie aufzählt, sind Symptome des Wassermangels. Die Mutter von fünf Kindern sagt, sie sei 40. Sie sieht aber aus wie 70. »Wir sterben hier«, klagt sie.

»Die Kinder sind alle krank«, sagt Mohammad Zaer, Krankenpfleger in dem Klinikzelt, das der Rote Halbmond – das islamische Gegenstück zum Roten Kreuz – hier aufgebaut hat. Zaer ist überzeugt, dass erste Fälle von Typhus aufgetreten sind. Jedoch haben sie in der Wüste kein Labor, um Blutproben zu untersuchen. Auf einer Liege im Krankenzelt liegt sein Mitarbeiter Haq Zia am Tropf. Auch er ist dehydriert. »Wir haben 400 Tröpfe mit Serum im ganzen Lager verteilt«, sagt er. »Noch ist niemand gestorben, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit.«

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juni 2008


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