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Ein Drittel der Abgeordneten kommandiert illegale bewaffnete Gruppen

Das regierungsnahe Institut "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) legt eine Studie über die Sicherheitslage in Afghanistan vor

Die Wochenzeitung "Freitag" legte in ihrer Ausgabe vom 25. Juli 2008 als "Dokument der Woche" Auszüge aus einer SWP-Studie vor, die sich sehr kritisch mit der Sicherheitslage in Afghanistan befassen.
"Die Studie untersucht, welches die zentralen Hemmnisse bei der Stabilisierung Afghanistans sind und wie sie sich überwinden lassen. Als Ansatzpunkt dient eine Analyse der bestehenden politischen Institutionen. Daraus werden Ansätze für eine Strategie abgeleitet, die auf Stabilisierung durch zunehmende (statt weiter eingeschränkte) Demokratisierung zielt. Gefordert sind reale Möglichkeiten politischer Partizipation, die sich nicht auf die Eliten beschränken, sondern auch der breiten Bevölkerung offenstehen. Nur wenn die afghanischen Institutionen auch nach innen Legitimität genießen, werden sich bedeutende Teile der Bevölkerung mit dem Wiederaufbau identifizieren."
(Aus der Ankündigung der SWP)

Als wichtigste interne "Gegenkraft zur Demokratisierung Afghanistans" wird in der Studie eine bestimmte Gruppe von Ulema [1] dargestellt, die als Religionsgelehrte die obere Schicht der islamischen Geistlichkeit bilden. Geistliche führen z.B. den Vorsitz im Oberhaus und in fünf von 18 Ausschüssen des Unterhauses. Letztere sind allesamt für Schlüsselsektoren wie Auswärtiges, legislative Angelegenheiten, Justiz und Verwaltungsreform, Religion, Kultur und Bildung sowie Drogenbekämpfung zuständig, heißt es in der Studie. So erzielten die Jihadi-Führer (vier sunnitische und einige islamische)[2] erhebliche Erfolge bei dem Versuch, die Hoheit über den innenpolitischen Diskurs zu gewinnen. Unter dem Druck der Geistlichen sieht sich die Regierung von Präsident Karsai "mehr denn je gezwungen, sich religiös zu legitimieren", auch um der weit verbreiteten Meinung entgegen zu arbeiten, sie sei doch nur Marionettenregierug der USA.

Eine große Rolle spielen daneben militärische Strukturen bzw. Organisationen, die es laut Demobilisierungsplan eigentlich gar nicht mehr geben sollte. Laut einer UNO-Studie von 2006 gab es zwischen 1.200 und 2.200 illegale bewaffnete Gruppen (sog. IAG: Illegal Armed Groups) mit insgesamt 120.000 bis 200.000 Kämpfern und mehr als 3,5 Millionen leichten Waffen aus. (Angaben der afghanischen Regierung schwankten zwischen 1.818 und 3.110 Gruppen). Von einer Demobilisierung, die 2001 auf dem Petersberg bei Bonn gefordert worden war, kann also keine Rede sein. Sie hat in den Worten der SWP-Studie "nur an der Oberfläche stattgefunden".

Zur Lösung der anstehenden Probleme werden folgenden Empfehlungen gegeben:
  • eine "nachholende" Entwaffnung illegaler bewaffneter Gruppen;
  • die Regierung müsse "in die Lage versetzt werden", landesweit "Basisdienstleistungen für die Bevölkerung" bereitzustellen; auf diese Weise würde sie überhaupt erst "regierungsfähig";
  • Dezentralisierung der afghanischen Staatsstrukturen (z.B. durch Verlagerung von Kompetenzen Kabuls an die Provinzen;
  • das bisherige Konzept der Aufstandsbekämpfung solle "durch eine umfassende, einheitliche und primär politische Strategie" abgelöst werden.

Im Folgenden dokumentieren wir den Abschnitt der Studie, der sich auf die Illegalen Bewaffneten Gruppen und ihren Einfluss auf das politische Klima in Afghanistan bezieht. ("Gescheiterte Demilitarisierung", S. 21f) Wir fogen dabei dem dokumentierten Text im "Freitag", der auf Fußnoten verzichtet. (Pst)

Anmerkungen
  1. Ulema sind höhere Religionsgelehrte, die das Studium einer islamischen Wissenschaft abgeschlossen haben. Unter ihnen gibt es einen quietistischen Flügel, der politische Abstinenz übt.
  2. Anfang der achtziger Jahre machte die pakistanische Regierung die Führer der sieben wichtigsten sunnitisch-islamistischen Mudschahedin-Parteien - die "Peschawar-Sieben" - zu Monopolisten über die Verteilung externer Hilfsleistungen. So erhielt der afghanische Widerstand zwischen 1979 und 1992 Finanz-, Waffen- und sonstige Hilfen im Wert von mehr als zehn Milliarden Dollar. Die Feldkommandeure im Landesinnern und alle anderen Widerstandsgruppen standen vor der Alternative, sich einer der sieben Parteien anzuschließen oder auf sich gestellt zu bleiben. Heute hat sich in der afghanischen Öffentlichkeit für die "Peschawar-Sieben" der Begriff "Jihadi-Führer" eingebürgert. (Aus der SWP-Studie, S. 18f)

Gescheiterte Demilitarisierung

Die Bonner Afghanistan-Konferenz sah im Dezember 2001 die Entwaffnung der im Bürgerkrieg entstandenen Milizen und ihre Integration in eine neue Nationalarmee vor, um so das Gewaltmonopol der Zentralregierung durchzusetzen. Dafür wurde das Programm Disarmament, Demobilisation and Reintegration aufgelegt. Zwischen Oktober 2004 und Juni 2006 durchliefen es insgesamt 63.380 Kämpfer, wobei 259 Einheiten ihren Status als offizielle Bestandteile der Regierungsstreitkräfte verloren. Aber nur ein Viertel der so Demobilisierten fand eine dauerhafte zivile Beschäftigung, so dass entscheidende Ziele des Programms nicht erreicht wurden. Zunächst einmal mussten die genannten Einheiten die Armee zwar verlassen, blieben jedoch als Formation erhalten.

Die ihrer Struktur zugrunde liegenden Klientelbeziehungen zwischen Kommandeuren und Kämpfern, die oft derselben ethnischen oder subethnischen Gruppe angehörten, wirkten fort. Zudem überlebten einige Milizen in den nicht reformierten Teilen der Afghanischen Nationalpolizei oder in der eigens zur Aufstandsbekämpfung gebildeten Afghan National Auxiliary Police (ANAP). Die erfolgreichsten unter ihnen agieren heute als private Sicherheitsfirmen im Dienste von ISAF, UNO und anderen Institutionen oder als Hilfstruppen der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF). Alle anderen gelten als Illegal Armed Groups (IAG).

2006 gingen die Vereinten Nationen von 1.200 bis 2.200 IAG mit insgesamt 120.000 bis 200.000 Bewaffneten und mehr als 3,5 Millionen leichten Waffen aus. Angaben der afghanischen Regierung schwankten zwischen 1.818 und 3.110 Gruppen - mit anderen Worten, die Demobilisierung seit 2001 hatte nur an der Oberfläche stattgefunden.

Auch konnte nicht verhindert werden, dass die Milizen die Wahlen von 2004 und 2005 massiv zugunsten der mit ihnen verbundenen Parteien beeinflussten. Besonders in den Hochburgen der Nordallianz in und um Kabul bildeten die Milizen während der Loya Jirgas sowie der Präsidenten- und Parlamentswahlen ein erhebliches Drohpotential. Von den 2.838 Kandidaten, die sich 2005 für die Unterhauswahl registrieren ließen, verfügten mindestens 1.000 über Verbindungen zu den Illegal Armed Groups, obwohl das Gesetz solche Kandidaten explizit ausschloss. Eine interne UN-Aufstellung - die Yellow List - auf deren Basis Wahlverbote ausgesprochen werden sollten, enthielt zuletzt noch die Namen von 255 Kandidaten. Prominente Parteiführer und Kommandeure waren aus politischer Rücksicht darin nicht mehr erfasst. Heute sind rund ein Drittel der Unterhaus-Abgeordneten - exakt 82 von 249 - Kommandeure bewaffneter Gruppen. Das widerlegt die Behauptung Zalmay Khalilzads, von 2003 bis 2005 Botschafter der USA in Afghanistan, "dass jene, die als Warlords agieren, keine einflussreichen oder prestigeträchtigen Positionen im neuen Afghanistan innehaben".

Offiziell wurde das Entwaffnungsprogramm als Erfolg abgeschlossen. Um seine offenkundigen Versäumnisse wettzumachen, startete man im Anschluss daran Mitte 2006 das Programm zur IAG-Auflösung (Disbandment of Illegal Armed Groups/DIAG). Innerhalb von zehn Monaten wurden dabei aber nur in drei Distrikten derartige Formationen aufgelöst und nicht mehr als etwa 5.000 Waffen eingezogen. Selbst Vizepräsident Karim Khalili, früher ein Warlord und heute Vorsitzender der Staatlichen DIAG-Kommission, weigert sich, seine Unterkommandeure zur Waffenabgabe zu veranlassen.

Ausschlaggebend dafür, dass die Milizen sich erfolgreich in die neuen Institutionen integrieren konnten, war der mangelnde politische Wille der internationalen Gemeinschaft, die Bonner Entwaffnungsbeschlüsse umzusetzen. Vor allem die US-Regierung war an einer Entwaffnung ihrer afghanischen Alliierten nicht interessiert. Unmittelbar nach dem 11. September 2001 wollte Washington keine eigenen Bodentruppen gegen das Taleban/al-Qaida-Bündnis einsetzen und stützte sich auf die Mudschahedin der Nordallianz. Diese konnte sich so eine vorteilhafte Stellung für den nachfolgenden politischen Prozess sichern und vor allem in Kabul als Ordnungsmacht etablieren.

Dass die militärische Aufstandsbekämpfung stets Vorrang hatte, verschaffte einer Reihe von IAG einen quasi-offiziellen Status und ließ den Entwaffnungsprozess faktisch zum Erliegen kommen. Milizen kontrollieren nach wie vor weite Gebiete des Landes sowie einen Teil der Verwaltung auf subnationaler Ebene. Dies garantiert ihren Einfluss auf den weiteren politischen Prozess, darunter auch auf die 2009 anstehenden Wahlen.

Auszug aus: Thomas Ruttig: Afghanistan: Institutionen ohne Demokratie. Strukturelle Schwächen des Staatsaufbaus und Ansätze für eine politische Stabilisierung. SWP-Studie 2008/S 17, Juni 2008, 34 Seiten, hier S. 21f; auf Fuß)
Volltext als pdf-Datei unter folgender URL:
http://www.swp-berlin.org/common/get_document.php?asset_id=5054



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