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Taliban griffen Regierungsviertel in Kabul an

Mehrere Todesopfer nach stundenlangen Gefechten mit dem Kommando aus Aufständischen *

Taliban-Terror im Regierungsviertel: Radikal-islamische Kämpfer haben zehn Tage vor der Afghanistan-Konferenz in London das streng bewachte Machtzentrum von Kabul angegriffen.

An der koordinierten Kommandoaktion am Montag (18. Jan.) waren rund 20 Taliban, darunter mehrere Selbstmordattentäter, beteiligt. Nach offiziellen Angaben starben mindestens sieben Aufständische, drei Sicherheitskräfte, ein Zivilist und ein Kind. Mindestens 71 Menschen, darunter Polizisten und Soldaten, wurden bei den stundenlangen Gefechten verletzt.

Es war einer der schwersten Angriffe auf das festungsartig abgeschirmte Regierungsviertel in den vergangenen Jahren. Die Sicherheitskräfte hatten erst mehr als vier Stunden nach dem Beginn der Attacke am Vormittag die Situation wieder unter Kontrolle. Die Gefahr eines Angriffs war in Kabul offensichtlich bekannt. Dem Parlament war vor Tagen mitgeteilt worden, dass Aufständische gepanzerte Fahrzeuge gestohlen hätten mit dem Ziel, einen Anschlag zu verüben. Eines der Fahrzeuge sei am Montag eingesetzt worden, sagte ein Parlamentarier. Die Sicherheitsvorkehrungen waren eigens verstärkt worden. Das Terrorkommando hatte ein Gebäude eines Einkaufszentrums nahe dem Palast von Präsident Hamid Karsai besetzt. Augenzeugen berichteten von mehreren Explosionen.

Fernsehbilder zeigten das in Flammen stehende Einkaufszentrum, über dem Areal stiegen dichte dunkle Rauchwolken auf. Anwohner mussten fliehen. Ein Sprecher des afghanischen Innenministeriums sagte, zwei Selbstmordattentäter hätten sich vor dem Präsidentenpalast gesprengt. Zwei weitere seien von afghanischen Sicherheitskräften getötet worden. Nach Angaben des privaten Fernsehsenders Tolo soll sich ein weiterer Selbstmordattentäter in der Nähe des Außenministeriums gesprengt und mehrere Menschen mit in den Tod gerissen haben. Laut Augenzeugen soll es weitere Explosionen gegeben haben, bei denen Selbstmordattentäter beteiligt waren.

Mehrere Stunden nach dem Angriff seien »nahezu alle« von den Aufständischen besetzten Gebäude wieder in der Hand der Sicherheitskräfte, sagte der Ministeriumssprecher. Diese suchten nach restlichen Taliban, die sich darin versteckt halten könnten. Ein Taliban-Sprecher hatte sich zuvor per Telefon von einem geheim gehaltenen Ort zu dem gezielten Angriff auf Regierungsgebäude und den Präsidentenpalast bekannt.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Januar 2010

Weitere Meldungen

Karsai ordnet Sicherheitsüberprüfung für Kabul an

Am Tag nach dem Angriff der radikalislamischen Taliban auf das Regierungsviertel von Kabul hat der afghanische Präsident Hamid Karsai eine Überprüfung der Sicherheitsvorkehrungen angeordnet. Er bestellte die Sicherheitsbeauftragten ein, um zu klären, wie die Rebellen mit Sprengstoffgürteln und Maschinengewehren bis zu seinem Palast vordringen konnten.
Nach Gesprächen mit seinen Ministern für Verteidigung und Inneres habe Karsai beschlossen, den Sicherheitsplan überprüfen zu lassen, teilte das Präsidentenbüro mit. Anschließend sollen ihm Verbesserungsmöglichkeiten unterbreitet werden. Karsai ordnete zudem die Ausarbeitung eines Plans an, nach dem "mutige Soldaten" für ihren Einsatz belohnt werden könnten. (AFP, 19.01.10)

NATO lobt afghanische Reaktion auf Taliban-Angriff in Kabul

Die NATO hat den Einsatz der afghanischen Truppen gegen angreifende Taliban-Kämpfer im Zentrum von Kabul gelobt. Das Zusammenspiel der verschiedenen afghanischen Sicherheitskräfte bei dem Angriff zeige, wie wirksam sie die afghanische Bevölkerung mittlerweile schützen könnten, erklärte der NATO-Oberkommandierende für Europa, James Stavridis, am Dienstag (19. Jan.) in einer Mitteilung, die vom NATO-Hauptquartier im belgischen Mons veröffentlicht wurde. Der Angriff, der nach Einschätzung des Admirals hauptsächlich auf ein Einkaufszentrum und ein Hotel im Stadtzentrum abzielte, sei von den Afghanen "schnell" beendet worden, erklärte Stavridis, der während der Attacke die NATO-Truppen in Afghanistan besucht hatte.(AFP, 19.01.10)

Und hier weitere Kommentare aus der Pressechau des Deutschlandfunks **

"Die spektakuläre Attacke mitten im Nervenzentrum von Kabul zielte auf die NATO-Darstellung, das Blatt habe sich angesichts der mehr als 100.000 ausländischen Soldaten am Hindukusch zugunsten des Westens gewendet", schreiben die SALZBURGER NACHRICHTEN zum ersten Thema.
"Sensationell, aber militärisch unbedeutend - so wird die NATO-Analyse der Angriffe wie schon nach anderen spektakulären Attacken völlig richtig ausfallen. Doch bei Kriegen wie dem Konflikt am Hindukusch sind Symbole psychologisch nicht minder wichtig. Die Zeit, so die Überzeugung der Taliban, spielt für die Gotteskrieger. Deshalb ist der spektakuläre Angriff auf Kabul für die Taliban ein wichtiger Erfolg, für die Regierung von Hamid Karzai und seine westlichen Verbündeten aber eine derbe Schlappe", folgern die SALZBURGER NACHRICHTEN.


Der STANDARD - ebenfalls aus Österreich - wertet den Angriff als Zeichen der Ohnmacht von NATO und afghanischen Sicherheitskräften:
"Nicht einmal in der Hauptstadt Kabul können sie für Ordnung garantieren. Genau diese Botschaft wollten die Taliban wohl auch geben. Natürlich kann man es auch anders, gewissermaßen professionell, sehen: Dem Taliban-Kommando ist es nicht gelungen, sich Zugang zu Ministerien oder dem Präsidentenpalast zu verschaffen. Doch das Problem mit allen Terroranschlägen ist eben das - sind sie erst einmal in Gang, lassen sich die Angriffe kaum verhindern. Anschläge müssen im Vorfeld vereitelt, Planung und Täter im Voraus erkannt werden. Hier aber versagen NATO und Regierung in Afghanistan", konstatiert DER STANDARD aus Wien.


Die schwedische Zeitung DALA-DEMOKRATEN sieht es so:
"Wenn die Taliban inzwischen auch in der Hauptstadt Kabul zuschlagen, drängen sich Parallelen zu Saigon und dem Vietnamkrieg auf. Die USA haben eine Truppenaufstockung beschlossen, außerdem haben sie die Unterstützung von rund 40 Ländern. Aber obwohl so viel unternommen wurde, um die Taliban zu bekämpfen, rücken diese immer weiter vor. Der Westen muss sich auf eine lang anhaltende militärische Präsenz einstellen. Vielleicht kommt es aber zu einem Rückgang der Angriffe, wenn Truppen aus anderen muslimischen Ländern stärker eingebunden werden. Aber auch mehr zivile Hilfseinsätze wären nötig", resümiert DALA-DEMOKRATEN aus Falun.


Die russische Zeitung KOMMERSANT ist der Ansicht:
"Die Angriffe auf das Regierungsviertel von Kabul waren eine Antwort auf die zuvor von Präsident Karsai gegebene Erklärung, man sei bereit, mit den Taliban Verhandlungen über eine freiwillige Entwaffnung zu führen. Die Haltung der Aufständischen hingegen ist klar: Bedingung für den Beginn von Verhandlungen mit der afghanischen Regierung ist ein vollständiger Rückzug der internationalen Truppen. Die gestrigen Attacken in Kabul bestätigten erneut, dass die Taliban nicht die Absicht haben, ihre Position zu ändern."

** Quelle: Website des Deutschlandfunks, 19. Januar 2010; www.dradio.de/presseschau/




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