Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Zweifel bei Obama: Wer ist Karzai?

Afghanistans Präsident Hamid Karzai hat US-Präsident Barack Obama damit gedroht, sich den Taliban anzuschließen

Von Andrej Fedjaschin *

Früher oder später geschieht so etwas mit allen Marionettenpräsidenten in rückständigen Bananenrepubliken: Sie geraten außer Kontrolle und schaffen riesige Unannehmlichkeiten für diejenigen, an deren Strippen sie hängen. Manchmal gelingt es, solche Drohungen schnell aus der Welt zu schaffen. Manchmal klappt es überhaupt nicht. Alles hängt von objektiven und subjektiven Gründen in ihrer Gesamtheit ab.

Der afghanische Präsident Hamid Karzai scheint den Amerikanern nicht mehr folgen zu wollen. Jetzt bereitet er Obama starke Kopfschmerzen. Selbst das ist noch milde gesagt, weil es gefährlich ist, Karzai jetzt zu entfernen, gleichzeitig aber auch riskant, ihn an seinem Platz zu belassen. Sowohl die objektiven als auch die subjektiven Gründe verheißen nichts Gutes.

Karzai hat im Laufe von einer Woche drei Klagen gegen den Westen erhoben. Er warf dem Westen vor, dass die Wahlen im August 2009 gefälscht worden waren, um ihn zu stürzen. Das richtete sich womöglich konkret gegen die UNO. Die Wahlen gelten indes sowohl in Europa als auch in den USA als Farce. Karzai beschuldigte die USA, dass sie in Afghanistan die Vormachtstellung anstreben (das ist unbestritten). Außerdem sagte er, dass der Westen den Ruf des afghanischen Parlaments beschädigen wolle.

Danach stritt sich Karzai mit US-Außenministerin Hillary Clinton am Telefon. Dann sagte er vor seinen Anhängern in Kabul, dass er sich „den Taliban anschließen" werde, falls weiter Druck auf ihn ausgeübt werde.

Das Versprechen, zu den Taliban überzuwechseln, wurde in zwei Versionen veröffentlicht. US-Zeitungen zufolge hat Karzai geschworen, sich den Taliban anzuschließen. Doch nach Angaben der BBC soll der afghanische Präsident gesagt haben, dass er sich ihnen anschließen könnte. ("If you and the international community pressure me more, I swear that I am going to join the Taliban," beziehungsweise "If I come under foreign pressure, I might join the Taliban").

Ein Abgeordneter klärte die ausländischen Journalisten über Karzais finstere Pläne auf. Die Rede erfolgte in der Sprache der Puschtunen, deswegen kann es sein, dass die Englischsprachigen etwas falsch verstanden oder verwechselt haben. Jedenfalls hat die Aussage in beiden Übersetzungen denselben Sinn: „Ich schließe mich den Taliban an, wenn...".

Karzais Äußerung war übrigens seine Reaktion auf die Weigerung des Parlaments, einen Erlass von ihm zu bestätigen. Demnach wollte Karzai das Recht bekommen, alle fünf Mitglieder der Wahlbeschwerdekommission (Electoral Complaints Commission) ernennen zu können. Genau diese hat ihm nach den Wahlen Manipulationen vorgeworfen (mehr als eine Million Stimmen gelten als falsch). Doch das sind technische Details.

Das gleiche Versprechen würde aus einem anderen Munde wie die Drohung eines orthodoxen Christen klingen, zu den Altgläubigen zu wechseln, falls die offizielle Kirche etwas an ihren Dogmen verändert oder unverändert lässt. Doch aus Karzais Munde klingt das viel gravierender. Es könnte als Spiel, als gemeinsame PR-Aktion von Karzai und Obamas Administration aufgefasst werden, die Karzais „Unabhängigkeit" und „Afghanisierung" beweisen soll. Doch dabei gibt es einen Haken.

Ende des Frühjahrs oder Anfang des Sommers wollen die USA und die NATO die letzte Offensive gegen die Taliban in der Provinz Kandahar starten. Deren Startschuss ist ein gut gehütetes Geheimnis. Wenn bei der Offensive die Taliban zwar nicht ausgerottet werden (was kaum wahrscheinlich ist), so soll sie ihnen zumindest „das Rückgrat brechen", wie die Amerikaner dies formulieren. Sie soll bis Mitte August, also bis zum Anfang des heiligen Monats der Muslime, des Ramadans, über die Bühne gehen. Kämpfe in einem islamischen Land während des Ramadans würden den Taliban neue Mitglieder in die Arme treiben.

Damit die Operation zum Erfolg wird, hat Obama die Entsendung weiterer 30.000 Soldaten nach Afghanistan beschlossen. Die US-Truppen in Afghanistan sind unter Obama noch stärker als unter George W. Bush geworden und zählen jetzt mehr als 100.000 Mann. Das allein sind nur die Amerikaner.

Sollte die Unterstützung für die Karzai-Regierung unter den Afghanen zu bröckeln beginnen oder sollte Obama sie „fallen lassen", wäre dies Alptraum. Dann muss das Weiße Haus die schmerzhafte Frage beantworten: Wozu hat Washington diese durch und durch korrupte Regierung so lange unterstützt und Tausende US-Soldaten dafür dem Tode geweiht?

Ganz zu schweigen von den 20 Milliarden Dollar, die jährlich für den Krieg in Afghanistan ausgegeben wurden. Für die letzte Offensive sind 30 Milliarden Dollar bereitgestellt worden. Solche Sachen werden nicht verziehen.

Die Versuche, in Afghanistan ausländische Staatsmodelle zu etablieren und zu erwarten, dass das Land dadurch Fortschritte verzeichnet, sind bislang immer gescheitert. Die Sowjetunion bemühte sich seit Ende der 70er bis Ende der 80er Jahre die Afghanen auf den sozialistischen Weg zu bringen, was für das Land schließlich mit Zehntausenden Toten und Invaliden sowie einer verheerenden Krise endete, die viele für die Vorboten der späteren massiven Wandlungen in Russland halten.

Die Amerikaner versuchen bereits seit 2001, die Afghanen auf einen neuen Weg zu bringen. Wer auch immer was sagen mag, die Methoden zur Implementierung von "Demokratie und Kapitalismus" sind jedenfalls bislang den afghanischen Realitäten, Traditionen und Gebräuchen nicht weniger fremd als die vorherigen "sozialistischen".

Die Briten gehen dabei intelligenter als alle anderen vor: Seit Ende des 19. Jahrhunderts führten sie drei Kriege in Afghanistan, siegten und zogen ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts ab, in der Erkenntnis, dass die Kolonialisierung wie in Indien nicht gelingen werde.

Unter Obama beginnen die Amerikaner dies ebenfalls einzusehen. Doch es ist bereits zu spät, Karzai "aufzugeben". Denn zusammen mit ihm müsste die gesamte Struktur der durch und durch korrumpierten Regierung aufgegeben werden. Man denke beispielsweise nur an den "König von Kandahar", Ahmad Wali Karzai, einen Halbbruder von Hamid Karzai. Dabei ist Ahmad Wali nicht einmal der Gouverneur der Provinz, sondern nur Vorsitzender des örtlichen Provinzrats und steht damit an zweiter Stelle nach Gouverneur Tooryalai Wesa.

Doch der Gouverneur räumt ein, dass Wali "die ganze Provinz in der Hand hat". Was mit ihr ohne ihn geschehen würde, daran denke man am besten erst gar nicht. Im Übrigen kontrolliert Wali das Drogengeschäft in Südafghanistan, weil es in Afghanistan nicht funktioniert, "eine Provinz in der Hand" zu haben, ohne Drogenhandel zu betreiben.

Die "New York Times" behauptet, Wali Karzai arbeite schon seit Jahren mit der CIA zusammen. Mit den Geldern des US-Geheimdienstes soll seine Privatarmee finanziert werden. Diese Praktiken der CIA sind allgemein bekannt. Im Afghanistan der Sowjetzeiten wurden die Taliban zunächst mit CIA-Geldern gestärkt und unterhalten. Erst später begannen sie, sich nach ihren eigenen Gesetzen zu entwickeln. Übrigens genauso wie die Al-Qaida von Osama Bin Laden.

Wie es heißt, bereitet sich Karzai durch seine Kritik an seinem „Schutzherrn" schon darauf vor, dass die USA 2011 abziehen würden, wie Barack Obama im vorigen Jahr erklärte. In der US-Administration selbst glaubt allerdings kaum jemand daran. Bis 2011 wird es wohl kaum gelingen, Bedingungen für die Stabilität und Sicherheit einer beliebigen Regierung des Landes zu schaffen.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 7. April 2010; http://de.rian.ru



Zurück zur Afghanistan-Seite

Zurück zur Homepage