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Korruptes Kolonialgebilde

"Nation-Building" ohne Fundament: Aller Propaganda zum Trotz bleibt Afghanistan wirtschaftlich und sozial ein Land makaberer Rekorde und abhängiger denn je

Von Raoul Rigault *

Frieden, Fortschritt, Freiheit, Wohlstand, Einheit und ein Ende des Drogenhandels sollte die NATO-Invasion im Herbst 2001 dem Land am Hindukusch bringen. Acht Jahre danach ist das Gegenteil der Fall. Das Land lebt mehr denn je im Krieg. Die Masse der Bevölkerung leidet unter sinkenden Einkommen, Arbeitslosigkeit, grassierender Umweltverschmutzung. Gleichzeitig stecken sich die Warlords und Günstlinge des Marionettenregimes gigantische Summen in die eigene Tasche und bringen sie außer Landes.

Am Dollartropf

Einen »neoliberalen Militärstaat am Tropf des Westens« nannte die Informationsstelle Militarisierung (IMI) das von den NATO-Staaten und ihren Verbündeten geschaffene Produkt. Tatsächlich haben sich die »Schutzmächte« ihr Kolonialunternehmen auch im Zivilbereich einiges kosten lassen: 15 Milliarden US-Dollar (gut zehn Milliarden Euro) flossen bislang an »Hilfen« nach Kabul, weitere zehn Milliarden sind zugesagt. Ein stattlicher Betrag für ein Land, dessen Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vergangenen Jahr – ohne Opiumproduktion – nur 12,1 Milliarden Dollar betrug. Zum Vergleich: Deutschland kam auf das 305fache. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) lag das legale Pro-Kopf-Einkommen 2007 und 2008 bei 354 US-Dollar. Damit ist Afghanistan das ärmste Land der Welt außerhalb Schwarzafrikas.

Industrie ist mit Ausnahme einer kleinen Textilproduktion so gut wie nicht vorhanden. Die Analphabetenquote liegt in den ländlichen Regionen bei 90 Prozent, acht von zehn Afghanen leben von einer Landwirtschaft, die laut Neue Zürcher Zeitung (NZZ) an »das frühe Mittelalter in Europa erinnert«. Nur etwa ein Fünftel des Bodens ist überhaupt urbar. Aufgrund des Kriegszustandes, der rückständigen Produktionsmethoden und der oft halbfeudalen Herrschaftsstrukturen muß ein Großteil der Nahrungsmittel importiert werden. Zusammen mit einer angegebenenen Arbeitslosenquote von 40 Prozent ein Grund dafür, daß das Land nach wie vor mit mehr als zwei Todesfällen je 100 Geburten die weltweit höchste Müttersterblichkeit aufweist, jedes fünfte Kind keine fünf Jahre alt wird. Generell liegt die Lebenserwartung der Afghanen bei 45 Jahren.

Von der scheinbar generösen Entwicklungshilfe profitieren vor allem zwei Adressaten, für die sie nicht bestimmt ist und die sie auch nicht nötig hätten: Die Geberländer selbst und ihre Statthalter, also ehemalige Warlords, Clanchefs und der neureichen Kabuler Kompradorenbourgeoisie. Laut der westlichen Hilfsorganisation Oxfam wandern 40, laut der den US-Demokraten nahestehenden Denkfabrik CSIS sogar 90 Prozent der »gebundenen Hilfe« gleich wieder in die Kassen von Firmen aus den Geberländern. Der Rest fließt zum Großteil auf die Konten der neuen »Businessmen« oder »verschwindet in den Taschen korrupter Beamter und Politiker«, wie nicht nur Daud Saba, der zwei Jahre lang Berater von Präsident Hamid Karsai war und jetzt für ausländische Entwicklungsverbände tätig ist, unumwunden zugibt.

Während mehr als die Hälfte des Volkes unter der Armutsgrenze lebt und Straßenhändler in Kabul mit einem Einkommen von 1,50 Euro am Tag nicht selten eine siebenköpfige Familie durchbringen müssen, stellt die neue Elite im Stadtteil Sherpur »ihren Reichtum heute auf wenig geschmackvolle Art zur Schau« und »führt den normalsterblichen Afghanen mehr als deutlich vor Augen, wie einige unter ihnen sich in den letzten Jahren auf Kosten des Staates bereichert haben«, stellte die rechtsliberale NZZ fest. Dabei gehen die oberen Zehntausend durchaus auf Nummer Sicher. Für den Fall, daß sich die Aufständischen gegen die mehr als hunderttausend Mann starke Schutztruppe und die eigenen Söldner durchsetzen sollten, wurden nach Schätzungen von Ökonomen in den vergangenen Jahren 20 bis 30 Milliarden Dollar allein in Dubai angelegt.

Keine Balance

Diese Klientel an der Macht zu halten, ist ein besonders teurer Aspekt des sogenannten Nation-Building, jenes Staatsbaues nach westlichem Gusto, der dem Land am Hindukusch aufgezwungen wurde. Auf zwei bis drei Milliarden Dollar pro Jahr belaufen sich, laut Rory Stewart, Direktor des »Carr Center on Human Rights Policy« an der Bostoner Harvard University, allein die Kosten für die einheimischen Sicherheitskräfte. Die eigenen Einnahmen des Karsai-Regimes betrugen im Haushaltsjahr 2007/ 2008 hingegen nur 670 Millionen, womit nicht einmal zwei Drittel der laufenden Kosten bestritten werden konnten. Neben einer immens wachsenden Staatsverschuldung weist das Land auch ein Außenhandelsdefizit von 6,4 Milliarden Dollar auf. Besonders kraß ist dabei das Abhängigkeitsverhältnis zur vermeintlich wohlwollenden Bundesrepublik. Hier standen im vergangenen Jahr Importen von 267,7 Millionen Dollar nur Exporte von 2,7 Millionen gegenüber.

Die erzwungene Öffnung der afghanischen Wirtschaft kann diesen Zustand nur weiter zementieren. Das vielumjubelte Wirtschaftswachstum, das von 2004 bis 2007 zwischen 8,2 und 16,1 Prozent schwankte, ist im wesentlichen auf die boomende Bauindustrie zurückzuführen. Deren Hauptaktivitätsfeld ist der militärisch relevante Straßenbau. Eine ähnliche Konjunktur in anderen Sektoren ist wegen der kriegsbedingten Logistikprobleme, der Korruption und der Weltwirtschaftskrise wenig wahrscheinlich. 2008 sank das BIP-Wachstum auf nur noch 3,4 Prozent. Gleichzeitig schoß die Infla­tion wegen steigender Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise von 4,8 auf über 20 Prozent in die Höhe.

Auf einem Gebiet ist das Land weiterhin unangefochten Weltspitze: Beim Drogenhandel. Obwohl die Zahl der Provinzen ohne Schlafmohnanbau angeblich auf 22 von 34 stieg und der Anteil des geschätzten Drogeneinkommens am Bruttoinlandsprodukt laut Weltbank von 61,7 Prozent 2002/2003 auf ein Drittel im Jahr 2008 gesunken ist, mußte selbst das Auswärtige Amt der BRD in seiner neuesten Studie eingestehen, daß »die afghanische Drogenwirtschaft auch weiterhin einen Weltmarktanteil am Geschäft mit Opium und Heroin von über 90 Prozent« besitzt.

* Aus: junge Welt, 10. November 2009


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