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Zuckerbrot für Taliban-Aussteiger

Afghanistan-Konferenz in Kabul: Karsai-Regierung soll Ende 2014 Verantwortung übernehmen

Die Regierung in Kabul ist gehalten, sich in den nächsten Jahren auf die vollständige Übernahme der Verantwortung für die Sicherheit des eigenen Landes einzustellen. In der Abschlusserklärung der Kabuler Afghanistan-Konferenz vom Dienstag hieß es zudem, die Karsai-Regierung solle künftig die Hälfte der internationalen Gelder kontrollieren.

Die Afghanen sollen bis Ende 2014 die Verantwortung für die Sicherheit im eigenen Land selbst übernehmen. Darauf verständigten sich am Dienstag die Teilnehmer einer internationalen Konferenz in Kabul, ohne einen konkreten Abzugstermin für die ausländischen Truppen festzulegen.

Der afghanische Präsident Hamid Karsai zeigte sich in seiner Rede vor den etwa 70 internationalen Delegationen zuversichtlich, dass die im Abschlusspapier festgelegte Übergabe der Sicherheitsverantwortung innerhalb von vier Jahren umgesetzt werden kann: »Ich bleibe davon überzeugt, dass unsere afghanischen nationalen Sicherheitskräfte bis 2014 für alle militärischen und polizeilichen Aufgaben verantwortlich sein werden.« NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen machte in Kabul jedoch deutlich, dass ausländische Truppen auch danach in »unterstützender Funktion« am Hindukusch im Einsatz bleiben werden.

Bereits im Herbst sollen beim NATO-Gipfel in Lissabon die ersten Provinzen ausgewählt werden, die schon ab 2011 alleine zurechtkommen sollen. Nach Angaben von Bundesaußenminister Guido Westerwelle, der Deutschland in Kabul vertrat, soll es sich um drei bis vier von insgesamt 34 Provinzen handeln - eine davon im Zuständigkeitsbereich der Bundeswehr im Norden des Landes. Westerwelle würdigte die Ergebnisse des knapp siebenstündigen Treffens als »wichtige Wegmarke«. So sei die Bundesregierung durch die Festlegung auf das Jahr 2014 dem Ziel nähergekommen, noch in dieser Legislaturperiode eine Abzugsperspektive für die deutschen Soldaten zu schaffen.

Kämpfer der Taliban sollen zudem mit einem millionenschweren Aussteigerprogramm dazu gebracht werden, ihre Waffen niederzulegen. Wie mitgeteilt wurde, will die afghanische Regierung in den nächsten fünf Jahren nach eigener Aussage 36 000 Aufständische in die Gesellschaft reintegrieren. Dafür sollen nach ihren Vorstellungen 773 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt werden.

Karsai forderte zudem, seiner Regierung nicht nur mehr Verantwortung für die Sicherheit zu geben, sondern auch für die Kontrolle von Hilfsgeldern. Man habe erkannt, dass die Verteilung der Mittel an Hunderte Einzelprojekte nicht die erwünschten Ergebnisse bringe, sagte er. Die Staatengemeinschaft bekräftigt ihren Willen, 50 Prozent der Entwicklungshilfe durch die Regierung in Kabul verteilen zu lassen.

Russland erlässt Afghanistan nach Angaben von Außenminister Sergej Lawrow, der an der Konferenz in Kabul teilnahm, in diesem Jahr Schulden in Höhe von 891 Millionen Dollar. Insgesamt habe Russland dem Land damit bereits zwölf Milliarden Dollar Schulden gestundet. Das meldeten russische Agenturen am Dienstag aus Kabul.

Wenige Stunden vor Konferenzbeginn explodierten nahe dem Kabuler Flughafen Raketen. Die Taliban erklärten, sie hätten vier Geschosse abgefeuert. Mehrere Konferenzteilnehmer kamen dadurch verspätet an.

* Aus: Neues Deutschland, 21. Juli 2010


"Playmobil-Polizisten" schaffen keine Sicherheit

Die Kriegslage ist kritisch und die Aussichten sind nicht gut. Nun wird Kabul für die Konsequenzen geradestehen müssen

Von René Heilig **


Der »Empfang« der hohen Gäste durch sogenannte regierungsfeindliche Kräfte war bestens dazu angetan, dem 16-seitigen Konferenzvortrag des afghanischen Präsidenten etwas kritischer zuzuhören.

Ein Feuerüberfall auf den Kabuler Flugplatz hat zumindest UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und Schwedens Außenminister Carl Bildt klar gemacht, wie fragil die Sicherheitssituation sogar in der afghanischen Hauptstadt ist. Der Flughafen wurde zeitweise komplett gesperrt. Auf seinem Internet-Blog berichtete Bildt, dass sein Flugzeug zum US-Militärflugplatz Bagram umgeleitet werden musste. Zusammen mit Ban Ki Moon habe er dort stundenlang gewartet. Um vier Uhr morgens wurden die beiden Gäste dann mit Helikoptern der US-Streitkräfte nach Kabul geflogen. Noch schlimmer traf es die dänische Außenministerin Lene Espersen. Ihre Maschine wurde nach Kasachstan umgeleitet. Weiterflug? Unmöglich! Also kehrte sie direkt nach Dänemark zurück.

Kehrt marsch, nach Hause! Das scheint auch die Losung zu sein, mit der die meisten ausländischen Konferenzteilnehmer angereist waren. Allen voran bekräftigte US-Außenministerin Hillary Clinton, die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an Afghanistan sei »zu wichtig, um sie endlos hinauszuschieben«. Auf der Konferenz wurde ein Zeitplan verabschiedet, der vorsieht, die Verantwortung für die Sicherheit in allen 34 Provinzen bis Ende 2014 an die Afghanen zu übertragen.

Übertragen wollen ist das eine, übernehmen können etwas anderes. Bisweilen helfen ja »Erbsenzähler«, die Situation deutlicher zu erkennen. 2006 gab es 560 direkte Angriffe durch regierungsfeindliche Kräfte. 3641 wurden 2007 registriert, 2008 waren es bereits 5346, im vergangenen Jahr addierte man 10 333. Allein im ersten Quartal 2010 errechnete man 2756. Die Anzahl der IED-Anschläge, also Attacken mit improvisierten Sprengkörpern, stieg im Vergleich zum Vorjahr um 94 Prozent. Der Juni war bislang der blutigste Monat für die ISAF. Über 100 ausländische Soldaten starben.

Es vergeht kein Tag, an dem nicht gravierende Vorfälle in den Kriegstagebüchern der verschiedenen ISAF-Stäbe vermerkt werden müssen. Und dabei sind zumeist nicht einmal jene Angriffe erfasst, die afghanische Zivilisten erleiden müssen. Zunehmend wird darüber berichtet, dass Taliban und andere Widerständische lokale Autoritäten verletzen oder umbringen: Lehrer, Bürgermeister, Ingenieure oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Kinder und Jugendliche, die sich mit ausländischen Soldaten sehen lassen, werden als Spione zum Teil bestialisch hingerichtet. Fortschritte in Richtung Frieden und Versöhnung sehen anders aus.

Bis 2011 sollen - so sehen es Absprachen zwischen der Zentralregierung in Kabul und den westlichen Besatzern vor - 170 000 afghanische Soldaten ausgebildet sein. Das ist zwar ein Wunschtraum, doch immerhin gibt es auf dem militärischen Sektor Fortschritte im Sinne der dafür Verantwortlichen. Einzelne Kandaks (Brigaden) der Afghan National Army (ANA) sind einsatzbereit und ihre Kommandeure in der Lage, mit ISAF-Mentoren Operationen zu planen und zu leiten.

Doch es geht für Karsais Regierung nicht darum, momentane militärische Erfolge zu erringen. Es geht darum, die gewonnenen Gebiete dauerhaft zu sichern, um durch wirtschaftliche Entwicklung für die Fortführung des zu Jahresbeginn in London beschlossenen Prozesses zu werben. Da sollten Polizei und Justiz ins Spiel kommen. Bis 2014, so ist es beschlossen, will man 134 000 Polizisten ausgebildet haben, die landesweit die Autorität der Staatsmacht sichern.

Die Bundesregierung stellte bis Ende 2009 dafür 153 Millionen Euro bereit und versprach in London weitere, auch personelle Anstrengungen. Das allein aber reicht nicht. Deutsche Polizeiausbilder klagen beispielsweise über den extrem schlechten Bildungsstand der Bewerber. Die meisten können weder lesen noch schreiben. Geistige Konzentration fällt vielen schwer. Um polizeitaktische Ausbildungsinhalte »rüber« zu bringen, müssen die Lektoren lustige kleine Playmobil-Figuren benutzen. Solche Schwierigkeiten ließen sich ja noch meistern. Doch die deutschen Polizisten und ihre Schützlinge werden angesichts der schlechten Sicherheitslage immer mehr in die Rolle von militärisch orientierten Gendarmen gedrängt - was die Gewerkschaft der Polizei vehement ablehnt.

Offenkundig gelingt es noch immer nicht, die ausgebildeten Polizisten von verlockenden Angeboten diverser Drogen handelnder Warlords, der Taliban oder der ganz alltäglichen Korruption fern zu halten. Zwar ist gesichert, dass die einfachen Wachtmeister ihren Sold von umgerechnet rund 200 US-Dollar »abgabenfrei« erhalten. Doch die andere Seite bietet mehr. Zudem ist die Verlustrate unter den Polizisten mangels solider Ausbildung und Ausrüstung wesentlich höher als die der Armee. Kein Wunder, dass - nach internen Aussagen - jeder dritte von deutschen Polizisten Ausgebildete überläuft.

Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle - auch er musste eine halbe Stunde über Kabul kreisen, bevor eine sichere Landung möglich war - hatte unlängst in einer Regierungserklärung versichert, bereits im kommenden Jahr könne die Bundeswehr drei oder vier Distrikte ihres Verantwortungsbereiches an afghanische Autoritäten übergeben. Vorerst jedoch übergibt die Bundeswehr einen Gutteil ihrer ISAF-Aufgaben an die US-Streitkräfte. Ein Infantry Brigade Combat Team sowie ein Hubschrauber-Geschwader mit über 70 Maschinen richten sich gerade ein, um eine lange geplante Offensive zu eröffnen. Bis zum August sollen dafür 5000 GIs in der Nordregion einsatzbereit sein.

Lexikon: Konferenzen über Afghanistan

Seit dem Sturz der Taliban im Herbst 2001 hat sich eine ganze Reihe von internationalen Konferenzen mit der Zukunft Afghanistans beschäftigt.

Bonn, 27.11. - 5.12.2001: Unter UNO-Vermittlung treffen sich Vertreter verschiedener ethnischer Gruppen des Vielvölkerstaates. Sie einigen sich auf demokratische Regierungsstrukturen und auf Hamid Karsai als Präsidenten einer Übergangsregierung.

Berlin, 31.3. - 1.4.2004: Mehr Geld und Soldaten sollen Afghanistan helfen. Vertreter von 56 Staaten vereinbaren, die internationalen Truppen im Landesinneren zu verstärken und die Finanzhilfe in den folgenden drei Jahren auf 8,2 Milliarden Dollar aufzustocken. Die Zahl der regionalen Wiederaufbauteams aus Soldaten und zivilen Helfern soll erhöht werden.

London, 31.1. - 1.2.2006: Mehr als 70 Staaten verabschieden einen neuen »Afghanistan-Pakt«, der das Land bis Ende 2010 voranbringen soll. Sie stellen rund 10,5 Milliarden US-Dollar bereit. Vorgesehen ist u.a. der Aufbau einer Afghanischen Nationalarmee mit 70 000 Soldaten. Ende 2007 sollen die illegalen Milizen entwaffnet sein.

Paris, 12.6.2008: Vertreter von rund 80 Staaten und Organisationen ziehen Bilanz über den Stand von Wiederaufbau, Entwicklung und Stabilisierung. Sie versprechen Aufbauhilfe in Höhe von 21,4 Milliarden Dollar und fordern mehr Anstrengungen im Kampf gegen Korruption und Drogenanbau. Erklärtes Die Afghanen sollen mehr Eigenverantwortung für den Aufbau übernehmen.

Den Haag, 31.3.2009: Die Konferenz, an der mehr als 70 Staaten teilnehmen, bekennt sich zu einer neuen Strategie der USA. Danach sollen militärische, zivile und diplomatische Aktivitäten helfen, den Konflikt zu lösen. Die USA wollen ihre Truppen deutlich aufstocken und tausende Berater für den Ausbau der afghanischen Sicherheitskräfte entsenden. Außerdem soll die Aufbauhilfe für Afghanistan und dessen Nachbarn Pakistan deutlich verstärkt werden.

London, 28.1.2010: Weichenstellung für einen abermaligen »Strategiewechsel«. Vertreter von rund 70 Staaten beschließen die schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen. Gemäßigte Taliban sollen durch materielle Anreize bewegt werden, die Waffen niederzulegen. Erneut fordern die Teilnehmer von Präsident Karsai Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung und der Entwicklung rechtsstaatlicher Institutionen.

Kabul, 20.7.2010: Die Londoner Beschlüsse werden konkretisiert: Afghanen sollen bis Ende 2014 die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernehmen. Ein Abzugstermin für die ausländischen Truppen wird jedoch nicht festgelegt. Die Regierung in Kabul will in den nächsten fünf Jahren 36 000 Aufständische in die Gesellschaft re- integrieren. Dafür fordert sie von den Geberstaaten knapp 600 Millionen Euro. (dpa/ND)



** Aus: Neues Deutschland, 21. Juli 2010


Haftbar für Kabul

Von Detlef D. Pries ***

Kabul erlebte »die erste Großkonferenz über Afghanistan in Afghanistan und von Afghanistan organisiert«. Das allein - glaubt man im Berliner Außenamt - sei als Erfolg zu werten. Nur dass schon die äußeren Umstände dagegen sprechen: Nach neun Jahren Krieg tagten die Vertreter aus 70 Staaten hinter Schutzmauern, Stacheldraht und Betonsperren, bewacht von einem riesigen Heer an Sicherheitskräften, von denen Afghanen allenfalls die vordere Reihe stellten. Fast 150 000 fremde Soldaten stehen am Hindukusch - und die Sicherheitslage ist schlechter denn je nach dem Sturz der Taliban.

Bis Ende 2014 aber soll Afghanistan selbst die Verantwortung für »alle militärischen und polizeilichen Operationen« übernehmen. Dafür erhält Hamid Karsai Zugriff auf einen größeren Teil der internationalen Hilfsgelder. Auf dass es ihm gelinge, seinen korrupten Regierungsapparat um ein paar »moderate Taliban« aufzustocken?

Erst einmal - noch in diesem Sommer - wollen die USA ihre Truppen in Afghanistan verstärken. Und der NATO-Generalsekretär beansprucht für ausländische Militärs eine »Unterstützerrolle« auch nach 2014. Das gescheiterte Konzept, Frieden mit militärischer Gewalt zu schaffen, wurde in Kabul also nicht zu den Akten gelegt. Man darf dazu Hillary Clinton zitieren, auch wenn sie es anders meinte: »Die Geschichte wird uns für unsere jetzigen Anstrengungen haftbar machen.«

*** Aus: Neues Deutschland, 21. Juli 2010 (Kommentar)


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