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"Sie sollten sich schämen"

Ein Bremer Anwalt vertritt Opfer von NATO-Bomben in Deutschland vor Gericht

Von Ines Wallrodt *

Trägt die Bundesrepublik Verantwortung für den Tod von Zivilisten in Afghanistan? Die Hinterbliebenen der Kundus-Opfer hatten auf politische Aufarbeitung gehofft, statt dessen müssen sie die Frage vor deutschen Gerichten ausfechten. Heute wird in Bonn die erste von mehreren Klagen verhandelt.

Die Bilder der verkohlten Tanklaster am afghanischen Kundusfluss gingen um die Welt. Sie waren auf Befehl der Bundeswehr bombardiert worden. Mit den Fahrzeugen verbrannten am 4. September 2009 über hundert Männer und Kinder. Dass der Luftangriff ein Fehler war, ist unstrittig. Aber ist er auch ein Verstoß gegen das Völkerrecht? Die Bundesregierung weist jede Verpflichtung von sich. Menschenrechtsanwälte versuchen deshalb auf juristischem Wege, Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen zu erstreiten.

Die Angehörigen der Toten werden bei der Gerichtsverhandlung in Bonn nicht dabei sein - weder Abdul Hannan, der am 4. September 2009 durch die NATO zwei Kinder verlor, noch Qureisha Rauf, die seit dem Tod ihres Mannes an diesem Tag ihre sechs Kinder allein durchbringen muss. Die Vertreter der Bundesregierung müssen ihnen also nicht ins Gesicht sagen, dass sie den Luftangriff vor drei Jahren am Kundusfluss zwar bedauerlich finden, aber rechtlich gesehen nunmal keine Schuld dafür tragen.

Dennoch ist die heutige Verhandlung am Landgericht Bonn außergewöhnlich: Zum ersten Mal verklagen afghanische Opfer des Luftangriffs von Kundus die politisch Verantwortlichen vor deren Heimatgericht. Ab 12 Uhr wird vor der 1. Zivilkammer die Verantwortung der Bundesrepublik für ihre Truppen im fernen Afghanistan erörtert. Der Bremer Rechtsanwalt Karim Popal vertritt 79 Hinterbliebene.

Am 4. September 2009 ordnete der deutsche Bundeswehroberst Georg Klein die Bombardierung von zwei Tanklastwagen an, die von den Taliban entführt worden waren. Der Befehl führte zum schwersten Angriff auf Zivilisten, an dem deutsche Truppen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligt waren. Mehr als Hundert Menschen verbrannten, darunter viele Kinder. Sie waren mit Kanistern aus den umliegenden Dörfern herbeigelaufen, um Benzin aus den liegengebliebenen Fahrzeugen abzuzapfen.

Die US-amerikanischen Kampfpiloten hatten die Kinder aus der Luft gesehen und Bedenken geäußert, wie aus dem später bekannt gewordenen Funkverkehr während des Angriffs hervorgeht. Oberst Klein blieb jedoch bei seinem Befehl und die Piloten führten ihn aus. Sie sollen bis heute psychisch darunter leiden.

Die deutsche Bundesregierung weist jede Schuld von sich. Sie zieht sich auf Kommandostrukturen in der NATO zurück, erklärt die Opfer zu Talibankämpfern, behauptet, dass das deutsche Haftungsrecht nicht angewendet werden kann. Die Ermittlungen gegen Oberst Klein wurden von der Staatsanwaltschaft schon 2010 eingestellt. Über eine Verfassungsbeschwerde dagegen ist noch nicht entschieden. Auch die Bundeswehr verzichtete darauf, gegen Klein ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Demnächst soll er befördert werden.

Karim Popal und seine Kollegen fordern von der Bundesrepublik als Dienstherr des Offiziers die Anerkennung eines Kriegsverbrechens und Schadenersatz für die Hinterbliebenen. Deshalb findet der Prozess in Bonn statt, weil hier das Bundesverteidigungsministerium seinen Hauptsitz hat. Der renommierte Bremer Rechtswissenschaftler Andreas Fischer-Lescano unterstützt die Klage mit einem Gutachten. Er kommt darin zu dem Schluss, dass eine Entschädigung aus völkerrechtlichen Gründen angemessen sei.

Als »humanitäre Hilfe«, explizit nicht als Entschädigung, hat die Bundesrepublik für 100 Familien einmalig 5000 Dollar gezahlt, egal ob sie einen oder mehrere Angehörige durch den Luftschlag verloren haben. Bei der Hälfte der Betroffenen sei nicht einmal diese bescheidene Summe angekommen, klagt Anwalt Popal. Denn das Bundesverteidigungsministerium habe das Geld »nach Männertradition an Männer verteilt«, an korrupte Lokalpolitiker oder angebliche Familienangehörige. »Die tatsächlich bedürftigen Witwen und Waisenkinder haben davon nichts gesehen.«

Mit großer Mühe hat der Jurist, der selbst aus Afghanistan stammt und neben seiner Anwaltstätigkeit in Deutschland in seinem Herkunftsland beim Aufbau eines neuen Justizsystems hilft, gemeinsam mit Frauenvereinen und Menschenrechtsorganisationen vor Ort recherchiert und Angehörige der Opfer ausfindig gemacht. Die deutsche Regierung hat nichts dergleichen unternommen, zweifelt aber die Zahl von 137 toten Zivilisten an. In ihrer Klageerwiderung schreibt sie einen Satz in feinster Juristendiktion, der Popal besonders empört: »Mit Nichtwissen wird bestritten«, heiße es da, dass so viele Menschen getötet wurden. Zu deutsch: Wir wissen nichts, erklären die Ergebnisse der anderen aber für falsch. »Sie sollten sich schämen«, findet er.

Die heutige Verhandlung in Bonn behandelt die erste von zwei Zivilklagen, die Popal 2009 angestrengt hat. Die Kosten begleicht er aus Spenden, der größte Batzen, 10 000 Euro, stammt von einem afghanischen Kinderarzt. Für weitere Schadenersatzverfahren reicht das Geld nicht. Über seinen Antrag auf Prozesskostenhilfe ist noch nicht entschieden. Aber vielleicht ist die gar nicht nötig: »Wenn wir ein Verfahren gewinnen, dann alle«, erklärt Popal.

Der Bremer Anwalt fordert für die Hinterbliebenen zwischen 25 000 und 75 000 Euro Schmerzensgeld. Je nach Bedürftigkeit. Vor allem die Frauen, deren Männer durch die Bomben getötet wurden, stehen mit ihren Kindern ohne Familienernährer da. »Sie überleben durch Almosen von Nachbarn oder Angehörigen«, sagt Popal.

Mit einer Entscheidung am Ende der heutigen Sitzung dürfen sie nicht rechnen. Das hat das Landgericht Bonn bereits angekündigt. Beide Seiten könnten sich jedoch »gütlich« einigen. Popal hätte nichts dagegen. »Je schneller die Hinterbliebenen Hilfe bekommen, desto besser.« Mit 1000 Euro will er die Bundesregierung allerdings nicht davonkommen lassen. »Wenn nötig, gehe ich bis zum Europäischen Gerichtshof«, sagt er. »Ich bin kampfbereit.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. März 2013


Falsche Signale für die Bundeswehr

Völkerrechtler Andreas Schüller über das Bombardement von Kundus, die fehlende juristische Aufarbeitung und Auswirkungen auf laufende Einsätze **

Andreas Schüller ist Referent für Völkerstraftaten und rechtliche Verantwortung bei der juristischen Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Das ECCHR unterstützt Opfer des Angriffs im strafrechtlichen Verfahren. Das Gespräch führte Harald Neuber.

Vor dem Landgericht Bonn wird heute über die Konsequenzen des von der Bundeswehr befohlenen Bombenangriffs auf zwei Tanklastwagen nahe der afghanischen Stadt Kundus verhandelt. Was kann dieses Verfahren bringen?

Als Menschenrechtsorganisation hoffen wir in erster Linie, dass ein solcher Prozess zur Wahrheitsfindung beiträgt. Außerdem hoffen wir, dass die rechtliche Verantwortung für diesen tödlichen Bombenangriff geklärt wird. Vor dem Landgericht Bonn geht es ja nun um Entschädigungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland und nicht um eine strafrechtliche Verurteilung einzelner Personen.

Bei dem Verfahren geht es um Fragen von Vorsatz und Fahrlässigkeit nach deutschem Zivil- und Strafrecht. Muss sich der verantwortliche Bundeswehroberst Georg Klein denn nicht auch vor dem humanitären Kriegsvölkerrecht verantworten?

Das humanitäre Kriegsvölkerrecht wird auch von den deutschen Gerichten und Juristen berücksichtigt, es ist also auch im deutschen Recht anwendbar. In dem Kundus- Prozess geht es vor allem aber um die Interpretation dieser Regeln. Und dabei gibt es einige Streitpunkte.

Welche Streitpunkte?

Es geht im Kern um den Vorsatz, der nachgewiesen werden muss. Zudem spielt in der juristischen Diskussion eine Rolle, inwieweit flankierende Regelungen des humanitären Völkerrechtes wie zum Beispiel Vorsichtsmaßnahmen beim Angriff berücksichtigt werden müssen.

Nun haben sich deutsche Instanzen in dem Streitfall bislang eher ablehnend verhalten. Der verantwortliche Oberst Klein könnte noch während des laufenden Verfahrens womöglich zum Brigadegeneral befördert werden. Weist das nicht auf eine Wagenburgmentalität hin?

Man muss unterscheiden zwischen dem Strafverfahren gegen einzelne Personen und dem Zivilverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland als Verantwortliche. Im Strafverfahren ist es schon erstaunlich, dass es von der Bundesanwaltschaft nach einer wirklich sehr kurzen Ermittlungszeit wieder eingestellt wurde. Es wurde auch nicht ermittelt, was vor Ort eigentlich passiert ist. Stattdessen wurde das Ermittlungsverfahren aufgrund der Aussagen der beiden Beschuldigten und zwei weiterer Zeugen eingestellt. Diese Eile verwundert uns schon und deswegen haben wir auch eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, damit dies noch einmal geprüft wird. Das zivilrechtliche Verfahren läuft dazu parallel und muss daher auch getrennt betrachtet werden.

Inwieweit wären internationale Gerichte anrufbar, wenn die Verfahren in Deutschland weiterhin keine Konsequenzen haben?

Theoretisch wäre der Internationale Strafgerichtshof zuständig. Allerdings hat dieses Gericht relativ hohe Hürden, bevor es einen Fall annimmt. Die Chancen sind deswegen derzeit gering. Man muss auch beachten, dass der Internationale Strafgerichtshof meistens keine Einzelfälle prüft, sondern sich einen Gesamtkontext anschaut. Dennoch besteht theoretisch die Möglichkeit, diesen Weg zu beschreiten. Dann würde auch geprüft, ob deutsche Behörden ausreichend ermittelt haben.

Die Bundeswehr ist nicht nur in Afghanistan im Einsatz, sondern an gut einem Dutzend weiterer Missionen beteiligt. Welche Auswirkungen kann das laufende Kundus-Verfahren auf diese Einsätze haben?

Bisher ist ja juristisch noch nicht allzu viel geschehen, was sehr bedauerlich ist. Schließlich wird auch den Soldaten im Einsatz dadurch eine nötige Rechtssicherheit verweigert, weil die Entscheidung der Bundesanwaltschaft gerichtlich nie überprüft wurde. Die Vorbereitung der Beförderung von Oberst Klein setzt unserer Meinung nach in dieser Situation ein falsches Zeichen. Es ist eben nicht so einfach zu sagen, dass hier juristisch keine Schuld nachzuweisen war. Es kann nun passieren, dass ein Zerrbild entsteht, das derzeit und künftig mobilisierte Bundeswehrsoldaten im Einsatz in die Irre führt.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 20. März 2013


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