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Große Koalition will Verlängerung aller drei Afghanistan-Einsätze

FAZ: "Stille Ausweitung" der Mandate - Berichte und Kommentare

Im Folgenden dokumentieren wir zwei Berichte, die sich mit der prekären Lage in Afghanistan sowie mit der vorgesehenen Verlängerung des Bundeswehreinsatzes befassen. Außerdem zitieren wir aus Pressekommentaren.



Pulverfaß Afghanistan

Von Jörn Boewe *

Auf besonderen Wunsch von SPD-Chef Kurt Beck wird der Bundestag über die Verlängerung der deutschen Beteiligung an der US-geführten »Operation Enduring Freedom« in Afghanistan erst im November – nach dem Parteitag der Sozialdemokraten – entscheiden.

Wie am Dienstag bekannt wurde, hatten sich die Koalitionsspitzen in der Nacht darauf verständigt, daß das Parlament zunächst nur über die Beteiligung an der NATO-geführten Afghanistan-Truppe ISAF sowie den Tornado-Einsatz abstimmen soll – beide Punkte sollen allerdings in einem Beschluß zusammengefaßt werden.

»Ein Drittel der SPD-Fraktion hatte dem Tornado-Einsatz nicht zugestimmt, deshalb soll dies jetzt mit dem in der SPD weniger umstrittenen ISAF-Mandat verbunden werden«, kommentierte Linksfraktionsvize Monika Knoche in einer Erklärung. Bei der Abstimmung über den Tornado-Einsatz hatten im März 69 SPD-Abgeordnete mit Nein gestimmt.

62 Prozent der Bundesbürger halten den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan für »eher falsch«, hatte eine Anfang August veröffentlichte Emnid-Umfrage im Auftrag der Wochenzeitung Die Zeit ergeben. Offenbar wird der SPD-Führung, die an vielen Fronten unter Druck ist, langsam klar, daß sich Afghanistan zum schwer kalkulierbaren Risiko für ihre Partei entwickelt – in dem Maße, wie sich die Sicherheitslage für die Besatzungstruppen verschärft.

Sicherheitsexperten des Verteidigungsministeriums beurteilen die Lage ernster als die Politiker in ihren Sonntagsreden. »Die Bedrohung des ISAF-Kontingents in Afghanistan ist sehr komplex«, heißt es in einem vertraulichen Papier des »Zentrums für Nachrichtenwesen der Bundeswehr/Abteilung Einsatz«, das junge Welt vorliegt. Zwar liege »der Schwerpunkt der Terroraktivitäten im Süden und Osten«, wird darin eingeräumt. »Aber auch im Norden und in Kabul kommt es regelmäßig zu Terroraktionen der Opposing Militant Forces gegen Einrichtungen und Kräfte der Antiterrorkoalition und gegen ISAF.« Insbesondere im Einsatzraum der deutschen Kräfte in Kundus und Feysabad habe sich die Lage »seit Beginn 2006 verschärtft«.

So hätten sich im Berichtszeitraum 2006 die Fälle von Gewaltanwendung gegen Angehörige des deutschen ISAF-Kontingents auf 42 gegenüber 18 im Vorjahr erhöht. Der Bericht führt verschiedene Beispiele an. Da wird eine deutsche Streife »während des Nachtlagers« südöstlich von Feysabad »mit Raketen und Handwaffen beschossen«. Eine andere wird »mit einer Panzerfaust« angegriffen: »Ein Spähwagen ›Fennek‹ wurde getroffen.« Doch nicht alle Angriffe zeichnen sich durch eine »dabei zu erkennende Professionalität« aus, wie der Bericht bemerkt: »Eine deutsche Patrouille wurde im Bereich der Ortschaft Haji-Amapulla durch Kinder mit Steinen beworfen«, heißt es an anderer Stelle. »Der Streifenführer wurde durch mehrere Wurfgeschosse getroffen und im Gesicht verletzt.«

Das Fazit ist dennoch optimistisch: »Die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen Einsätzen ist im Bewußtsein der Öffentlichkeit zur Normalität geworden und war nur selten Gegenstand von Demonstrationen oder ähnlichen Aktionen.« Das allerdings kann sich schnell ändern.

* Aus: junge Welt, 22. August 2007


Kein neues Konzept für Afghanistan

Koalition will Bundeswehr-Einsatzmandate bündeln und "Enduring Freedom" verschieben

Von René Heilig **


Die vom Bundestag demnächst zu verlängernden Mandate über die Bundeswehr-Beteiligung an ISAF sowie für die Einsätze der RECCE-Tornados sollen nach dem Willen der Koalitionsspitzen zusammengefasst werden. Später eingeholt wird die Verlängerung des Bundeswehrmandats für »Enduring Freedom« (OEF). Das handelte die SPD der Union ab.

Nicht einmal SPD-Chef Kurt Beck, der dieses Koalitionsrunden-Ergebnis am Dienstag mitteilen durfte, kann ernsthaft glauben, so billig aus dem »Schneider« zu sein. Der Plan ist: Das Parlament soll über ein gemeinsames Mandat für ISAF und Tornados im September und über die Beihilfe für »Enduring Freedom« im November entscheiden. Beck hofft so, auf einem Parteitag Ende Oktober den Unmut der SPD-Basis gegen die Unterstützung für die US-Operation »Enduring-Freedom« niederreden zu können.

Obwohl er sonst selten Prognosen über schwammige Entwicklungen abgibt, meint der Verteidigungsexperte der Grünen, Winfried Nachtwei: »Beck wird bei dem Thema eine gnadenlose Bauchlandung hinlegen!« Angesichts der desaströsen Lage der westlichen Koalition in Afghanistan wird immer deutlicher ein Strategiewechsel für den Afghanistaneinsatz gefordert. Doch das, was die Koalition nun den Parlamentariern in zwei Etappen vorlegen will, »ist kein Ausdruck eines wirklich notwendigen Strategiewechsels«, meint Nachtwei. Im Gegenteil, sagt auch die Vizefraktionschefin der LINKEN, Monika Knoche. »Die Bundesregierung unternimmt immer mehr vom Falschen.« Und das, obwohl der Unwille in der Bevölkerung gegen die deutschen Afghanistan-Einsätze zunimmt. Sie ist gegen die Zusammenlegung von ISAF- und Tornado-Einsatz. Das treibe »die ohnehin schwierige Vermischung zwischen Unterstützung des Wiederaufbaus und völkerrechtswidrigen Kriegseinsätzen voran und entzieht sie jeglicher parlamentarischer Kontrolle«.

Falsch sei es auch, die Debatte über ISAF und Tornados als »normales Alltagsgeschäft zu behandeln«. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtes müsse man genau prüfen, ob die Tornados direkt und indirekt an der OEF-Kriegsführung beteiligt sind. Nachtwei fordert gleichfalls »eine klare Evaluierung des bisherigen Aufklärungseinsatzes«.

Noch unklarer als die Flüge von Bundeswehr-Tornados ist der deutsche Beitrag zu OEF in Afghanistan. Seit 2005 sollen keine Angehörigen der KSK mehr am Hindukusch gewesen sein. Doch die von der Regierung in die Operation eingeweihten Obleute Winfried Nachtwei und Paul Schäfer (LINKE) fühlen sich nicht sonderlich gut informiert, was da unter alleinigem US-Befehl vor sich geht. Nicht einmal über logistische Hilfen Deutschlands werden sie unterrichtet. Wie eng ISAF-, Tornado und OEF-Einsatz dennoch zusammenhängen, zeigt eine Äußerung des Bundeswehr-Generalinspekteurs Wolfgang Schneiderhan: »Wir müssen uns höllisch davor hüten, OEF in die Igitt-Ecke zu stellen. Ohne bewaffnete Gegenwehr stünde den Taliban der Durchmarsch in den Norden und in die Hauptstadt Kabul offen.«

Die dritte Oppositionspartei im Bundestag, die FDP, kritisiert, dass sich die Union wegen des »Koalitionsfriedens« auf einen Vertagungskuhhandel mit der SPD eingelassen hat. Sie bietet sich der Union als verlässlicher Koalitionär an und wird bei der demnächst anstehenden Fraktionsklausur adäquate Positionen beschließen. In Sachen OEF lautet die Überlegung: Selbst wenn Deutschland sich aus diesem solidarischen Anti-Terror-Engagement lösen würde, bliebe OEF intakt. Nur hätte Deutschland dann keine Mitsprache mehr.

** Aus: Neues Deutschland, 22. August 2007


Vernunft gesucht

Von René Heilig

Wie verfahren die Situation in und um Afghanistan und dort ausgefochtene Kämpfe des »Guten« gegen die »Bösen« ist, zeigt uns unter anderem Egon Bahr. Der ist nun wahrlich alles andere als ein Bellizist. Doch er sagt: Schickt fünfmal mehr Soldaten an den Hindukusch. Aber selbst 200 000 Mann sieht er nicht als Gewähr dafür an, dass der Westen in der Region halbwegs gesicherte und schon gar nicht demokratische Verhältnisse herstellen kann. Wie auch?! Mehr Soldaten bedeuten mehr Krieg. Mehr Krieg bedeutet mehr Leid. Mehr Leid erzeugt mehr Hass. Mehr Hass vergiftet den letzten Hauch von Vernunft. Doch nichts ist dringender als Vernunft, um aus dem Irrsinn globaler Gewalt auszubrechen. In Afghanistan kann niemand siegen. Doch alle verlieren, wenn man so weiter macht wie bisher. Die Erkenntnis ist simpel und vielfach begründbar. Umso schäbiger sind die taktischen Spielchen, die von der schwarz-roten Koalition derzeit um die Mandatszusammenlegung beziehungsweise ihre getrennte Behandlung aufgeführt werden. Die SPD versucht Zeit zu gewinnen, die Union lässt sie ihr, in der Hoffnung, dass Beck »seine« Überläufer zur Friedensbewegung zurückhalten kann.
Derweil geht das gewohnte Töten weiter. Klar, dass man es nicht mit Nein-Stimmen und Appellen stoppen kann. Dazu bedarf es kompromissfähiger Konzepte. Ein Schritt zu einer notwendig neuen Afghanistan-Strategie wären sondierende Gespräche über die Fronten und Bushs Klüngel hinweg.

(Neues Deutschland, 22. August 2007)


Abzug hieße Wegschauen

Von Steffen Hebestreit [AUSZUG]

Dieses Geiseldrama ist noch einmal glimpflich ausgegangen. (...)
Und doch werden die Folgen des Falls der 31-jährigen Christina M. deutlich länger spürbar sein. Lenkt er doch Wasser auf die Mühlen jener, die reflexhaft jeden dieser Vorfälle als willkommenen Anlass sehen, einen raschen Abzug der Deutschen aus Afghanistan zu fordern. Wer genau dort abziehen soll - die Bundeswehrsoldaten, zivile Wiederaufbauhelfer oder "normale" Geschäftsleute -, geht in der Hitze der Debatte gern einmal verloren. (...)
(...) Und doch wird diese bequeme Version der Vogel-Strauß-Politik in den nächsten Wochen die politische Diskussion prägen, wenn der Bundestag über die Verlängerung der drei Afghanistan-Mandate befinden muss. Nur: Selbst wer gegen eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik ist, muss die Frage beantworten, wie ziviler Wiederaufbau stattfinden soll - ohne die Sicherheit für zivile Helfer.

(Frankfurter Rundschau, 22. August 2007)

Stillschweigende Aufstockung

In einem redaktionellen Artikel in der FAZ kommt Stephan Löwenstein zum Ergebnis, dass mit der Integration des Tornado-Einsatzes in das ISAF-Mandat es zu einer "stillen Ausweitung" der Afghanistan-Mandate kommen würde. In dem Artikel heißt es u.a.:

Allen Beteiligten ist klar, dass der deutsche Beitrag zu OEF symbolischer Natur ist, zumindest in Afghanistan. Dort können bis zu 100 Spezialkräfte eingesetzt werden. Der Gesamtumfang der Operation beträgt gut 10.000 Mann. Die deutsche Hundertschaft wurde von OEF seit zwei Jahren nicht mehr abgerufen.
Bei Isaf ist Deutschland hingegen der drittgrößte Truppensteller. Durch die Zusammenlegung wird der Umfang sogar noch still erhöht. Denn bisher lag die Obergrenze für die Kräfte am Boden 3000, die für die Aufklärungsflugzeuge vom Typ Tornado bei 500. Für den Betrieb der sechs Flugzeuge werden aber kaum mehr als 200 Mann benötigt. Durch die Zusammenlegung käme der Spielraum von 300 Soldaten also der Isaf-Mission am Boden zugute, eine Ausweitung immerhin um zehn Prozent. Dass dieser Raum sehr schnell wieder bis zur Decke ausgefüllt sein wird, lässt die bisherige Erfahrung mit den Mandatsausweitungen erwarten. (...)

FAZ-online, 22. August 2007 ("Die stille Ausweitung der Afghanistan-Mandate")




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