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Für die Galerie

Hintergrund. Nichts als Rhetorik: Die »neue« Strategie von USA, EU und NATO ist auch nach der Londoner Afghanistan-Konferenz die alte

Von Knut Mellenthin *

Seit 30 Jahren herrscht ohne Unterbrechung Krieg in Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, das auch ohne ständige ausländische Einmischung riesige soziale und ökonomische Probleme hätte. Der Westen hat zuerst die Islamisten auf die Beine gebracht, finanziert, mit modernen Waffen ausgerüstet und als »Freiheitskämpfer« verherrlicht. Seit dem Abzug der sowjetischen Interventionstruppen werden die Verbündeten von vorgestern als finstere »Terroristen« verteufelt, die die größte existierende Gefahr für die gesamte Welt darstellen sollen. In Wirklichkeit handelt es sich um ganz genau dieselben Strukturen wie zuvor und zu einem großen Teil sogar immer noch um dieselben Menschen.

Seit über acht Jahren sind es die USA und ihre Verbündeten, die in Afghanistan Krieg gegen einen zunehmend größeren Teil der Bevölkerung führen. Sie haben erneut den völlig überflüssigen und teuer bezahlten Beweis geführt, daß es zur Förderung eines Aufstands kein wirksameres Mittel gibt als die militärische Aufstandsbekämpfung. Das war indessen aus der Geschichte nicht nur Afghanistans schon seit langem klar. Die Taliban, deren Macht nach dem militärischen Eingreifen der USA 2001 innerhalb weniger Wochen wie ein Kartenhaus zusammenzustürzen schien, sind heute in fast allen Teilen des Landes aktiv. Deutlicher kann das vollständige Scheitern der bisher betriebenen Besatzungspolitik nicht dokumentiert werden, ohne daß bisher eine selbstkritische Analyse stattfindet. Ein Ende der NATO-Intervention ist nicht abzusehen.

Die Folge ist: In allen an diesem Krieg beteiligten Ländern wächst die Verdrossenheit der Bevölkerung. Da die Verantwortlichen jedoch bisher noch nicht daran denken, ihre Politik zu ändern, können sie der Kriegsmüdigkeit nur durch eine Steigerung ihrer Durchhaltepropaganda und durch scheinbar innovative, Hoffnung andeutende Vorschläge begegnen.

Afghanisierung des Krieges

»Neue Strategie« ist das Schlagwort dieser Tage, besonders seit der internationalen Afghanistan-Konferenz am 28. Januar in London. Die willige Rezeption dieser Phrase durch die Mainstreammedien erinnert an Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Darauf kann es auch in der Wirklichkeit nur eine Antwort geben: Der Kaiser ist nackt!

Die »neue Strategie« beruht hauptsächlich auf zwei Säulen: erstens einem »Aussteigerprogramm« für einen möglichst großen Teil der Taliban; zweitens einem Crash-Programm zur personellen Verstärkung der afghanischen Armee und Polizei. Beides steht in engem Zusammenhang miteinander, denn die versprochenen »Jobs«, die für desertierende Taliban zur Verfügung gestellt werden könnten, gibt es angesichts der desolaten Lage der afghanischen Wirtschaft fast ausschließlich bei den Sicherheitskräften. Praktisch geht es darum, daß Aufständische durch »Anreize« oder bloße Versprechungen dazu gebracht werden sollen, »die Seiten zu wechseln«. US-amerikanische Politiker und Militärs bekennen sich zu diesem Ziel im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen ganz offen.

Insgesamt folgt aus der »neuen Strategie« eine Afghanisierung des Krieges. Der Krieg soll, wie die Werbeleute sagen, »ein afghanisches Gesicht« bekommen. Von einer afghanischen Maske zu sprechen, wäre ehrlicher und richtiger. Auf Grundlage dieser Vorschläge werden Abzugsdaten ins Spiel gebracht, deren Verbindlichkeit aber sogleich wieder dementiert wird. Auch die SPD, die ganz plötzlich in die Rolle der Oppositionspartei schlüpfen mußte, nachdem sie in der Regierung sieben Jahre lang die Ausweitung der deutschen Kriegsbeteiligung zu verantworten hatte, meint es mit ihrem Eckdatum 2015 nicht wirklich ernst. Da sind sich alle einig: Abzug »sobald wie möglich«, aber erst dann, wenn die Kriegsziele erreicht sind.

Die der »neuen Strategie« zugrunde liegenden Ideen – Anwerben einheimischer Kollaborateure und Abwerben feindlicher Kräfte – sind so banal und primitiv, daß sie sich jeder Macht, die in einer ähnlichen Lage Aufstandsbekämpfung betreibt, aufdrängen müssen. Selbstverständlich haben die USA und ihre Verbündeten beides schon seit Beginn ihres Krieges in Afghanistan getan. Und vor ihnen hat es ebenso die Sowjetunion als Interventionsmacht versucht. Geht man noch weiter zurück, beruhte die Strategie der USA in Vietnam, Laos und Kambodscha auf genau den gleichen Prinzipien. Ihr Scheitern ist bekannt. Nur selten jedoch wird außerhalb der Linken darüber gesprochen, daß die US-Streitkräfte allein in Vietnam über eine Million Menschen töteten, bevor sie abzogen.

»Eingliederung« statt »Versöhnung«

Bei dem jetzt als brandneue, erfolgsversprechende Idee dargestellten »Aussteigerprogramm« für kriegsmüde Taliban handelt es sich, bei Licht betrachtet, um verschiedene Dinge, verschiedene Ebenen und verschiedene Taktiken. Politiker und Militärs der USA sind auch in diesem Punkt offener und präziser als ihre deutschen Kollegen, indem sie einen riesigen Unterschied zwischen »Reintegration« (Wiedereingliederung) und »Reconciliation« (Wiederversöhnung) machen. Unter Reintegration wird von den Amerikanern das Anwerben feindlicher »Fußsoldaten« (Foot soldiers) und von Kommandeuren der unteren bis höchstens mittleren Ebene verstanden. Geld spielt dabei eine zentrale Rolle, und die US-Besatzungstruppen verfügen für diesen Zweck über hohe Beträge. In der Reintegration seien sie schon seit Jahren unübertroffene Meister, behaupten US-Militärs und die ihnen glaubenden Journalisten. Tatsächlich aber scheinen die Taliban und andere aufständische Kräfte bisher immer noch in der Lage zu sein, sehr viel schneller und wirksamer Kämpfer anzuwerben, als die Amerikaner sie ihnen abwerben können.

Bei der Reconciliation hingegen geht es hauptsächlich um einen politischen Prozeß, der die oberste Führungsebene der Aufständischen oder wesentlicher Teile von ihnen einbezieht. Dabei kann individuelle Bestechung auch eine Rolle spielen, aber letztlich geht es um die Frage einer Regierungsbeteilung der Taliban auf allen Ebenen, einschließlich der sich daraus ergebenden sozialen und politischen Implikationen. Dem Anschein nach strebt Präsident Hamid Karsai eine »Wiederversöhnung« an, während die US-Regierung und die amerikanischen Militärs davon nichts wissen wollen. Zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt, wie sie einschränkend sagen. Erst müßten die Taliban militärisch so schwer geschlagen werden, daß sie die Sinnlosigkeit einer Fortsetzung des Aufstands akzeptieren. Auf diesem Weg wird die militärische Eskalation als einzig möglicher Weg zu einer politischen Lösung des Konflikts verkauft.

Allerdings sagen Regierungspolitiker wie Außenministerin Hillary Clinton, daß es mit einigen »really bad guys« (wirklich schlimmen Burschen) keinesfalls Gespräche, geschweige denn eine Verständigung geben dürfe. Als einen solchen »bad guy« nennt Clinton namentlich den Taliban-Führer Mohammed (»Mullah«) Omar, wobei sie vage »und seinesgleichen« (and the like) hinzusetzt. In Interviews begründet die Chefin des State Department diese Position damit, »daß die wirklich schlimmen Burschen niemals bereit sein werden, sich von Al-Qaida zu trennen, der Gewalt abzuschwören und ihrem Wiedereintritt in die Gesellschaft zuzustimmen«.

In diesem Punkt besteht, jedenfalls auf der verbalen Ebene, ein unüberbrückbarer Dissens zu Karsai, der seine Gesprächsangebote schon seit mehreren Jahren ausdrücklich auch an Mullah Omar richtet und überhaupt niemanden explizit von einer künftigen Aussöhnung und Verständigung ausschließt. In der Praxis ist der Unterschied zwischen der US-Regierung und ihrem Statthalter in Kabul jedoch sehr viel geringer, als es den Anschein hat. Karsai macht Gespräche nämlich von drei Bedingungen abhängig: Die daran teilnehmenden Taliban müßten erstens Al-Qaida eine klare Absage erteilen, zweitens der Gewalt abschwören und drittens die von westlichen Fachleuten ausgearbeitete afghanische Verfassung anerkennen. Das sind im Grunde genau die von Hillary Clinton genannten Punkte, nur daß die Außenministerin a priori davon ausgeht, daß die Bedingungen für einige »bad guys« unannehmbar seien, während Karsai diese Fragen rein theoretisch offenhält – und damit der Gegenseite die scheinbare Schuld am Nichtzustandekommen einer Einigung zuschieben will.

Andererseits scheint der afghanische Präsident die Annahme der drei Bedingungen nicht unbedingt zur Voraussetzung für die Aufnahme erster – naturgemäß geheimer – indirekter Verbindungen zu machen. Karsais für dieses Thema zuständiger Sicherheitsberater Mohammad Masum Stanekzai jedenfalls behauptete am 2. Februar auf einer Pressekonferenz, es gebe bereits »einige Kontakte« zu den Taliban »auf lokaler, regionaler, nationaler und auf breiterer politischer Ebene«, auch wenn es verfrüht sei, über deren Ergebnisse jetzt schon zu sprechen. Die Taliban-Führung bestreitet das zwar kategorisch. Aber selbst wenn Karsais Chefberater nur bluffen würde, läßt seine Äußerung darauf schließen, daß solche Kontakte grundsätzlich nicht von der vorherigen Akzeptanz der drei Bedingungen abhängig sind oder wären.

Karsai macht seine öffentlichen Angebote an alle Ebenen der Taliban im übrigen schon seit etlichen Jahren, was das Gerede von der »neuen Strategie« umso dümmer erscheinen läßt. Bereits 2005 ließ der Präsident eine »Friedens- und Versöhnungskommission«, abgekürzt PTS, einrichten, die Überläufer aller Ebenen mit Versprechungen wie Geld, Arbeitsplätze und Land anlocken sollte. Wie die Londoner Sunday Times am 31. Januar dieses Jahres berichtete, klagen ehemalige Aufständische, die im Vertrauen darauf die Seiten gewechselt haben, jetzt darüber, daß keine der Zusagen eingelöst worden sei. Das schließt allerdings die Möglichkeit nicht aus, daß einige wichtige, hochrangige Überläufer möglicherweise erheblich besser behandelt wurden.

Überläufer einkaufen

Auf der Londoner Afghanistan-Konferenz wurde als nahezu einzige praktische Maßnahme beschlossen, einen Fonds zu bilden, aus dem, wie die Sunday Times am 31. Januar schrieb, »die Taliban bezahlt werden sollen, die die Waffen niederlegen«. Tatsächlich ist das eine subjektive Formulierung, die nicht unbedingt von allen Beteiligten getragen werden muß. Genau besehen ist die künftige Verwendung der Gelder ebenso ungeklärt wie die Frage, wer über die Mittel verfügt und wer die Ausgaben kontrolliert. So steht zum Beispiel das pragmatische Konzept, den Fonds schlichtweg für Bestechungszahlungen zu verwenden, idyllischen Vorstellungen entgegen, mit dem Geld Entwicklungsprojekte zu finanzieren, die Arbeitsplätze schaffen und soziale Verbesserungen für die Bevölkerung bestimmter Gebiete bewirken könnten. Dafür wären die bisher angedachten Beträge allerdings nur ein nutzlos verdampfender Tropfen auf den heißen Stein. Indessen könnten die sozialen Zielangaben ohne weiteres dazu dienen, die etwas anrüchigen eigentlichen Zwecke propagandistisch besser zu verkaufen.

Laut Planung sollen irgendwann einmal mindestens 500 Millionen US-Dollar (358 Millionen Euro) im Topf liegen. Feste Zusagen gab es in London allerdings nur für 140 Millionen Dollar (100 Millionen Euro). Etliche Medien berichteten, daß die US-Regierung es ablehnt, sich überhaupt an dem Fonds zu beteiligen. Die für solche Zwecke eingesetzten Gelder sollen die US-Truppen wie bisher nach eigenem Gutdünken verwenden können.

Karsai hat als nächsten Schritt zur »Wiederversöhnung« die Einberufung einer Loja Dschirga, einer Versammlung von Stammesältesten und anderen als wichtig geltenden Personen, angekündigt. Sie soll bereits innerhalb der nächsten sechs Wochen stattfinden und eine große Friedensinitiative starten. Die Aufständischen – ohne Einschränkung – sind vom Präsidenten ausdrücklich eingeladen, sich an der Versammlung zu beteiligen.

Dem steht zum einen entgegen, daß die Taliban es offiziell immer wieder abgelehnt haben, sich an irgendwelchen Diskussionen dieser Art zu beteiligen, solange die westlichen Besatzungstruppen sich im Land befinden. Mit Blick darauf forderte Karsai die Taliban am 31. Januar auf, diese Vorbedingung fallenzulassen. Gespräche würden es für die ausländischen Truppen leichter machen abzuziehen, so das Argument des Präsidenten.

Jedoch ist dieser Disput rein hypothetisch, da unter den gegebenen Umständen sowieso keine Taliban-Vertreter zu öffentlichen Treffen kommen könnten, ohne nicht nur ihre Freiheit, sondern sogar ihr Leben zu riskieren. Das weiß selbstverständlich auch Karsai, der im »eigenen« Land so total machtlos ist, daß er potentiellen Gesprächsteilnehmern noch nicht einmal freies Geleit gewährleisten könnte.

Schon lange setzt sich der afghanische Präsident vergeblich dafür ein, die Namen der führenden Taliban – einschließlich Mullah Omars – wenigstens von der Sanktionsliste der Vereinten Nationen zu streichen. Das wäre zwar nur ein ganz kleiner symbolischer Schritt, aber nicht einmal dieser war bisher zu erreichen. Statt dessen nahm die zuständige UN-Kommission Ende Januar lediglich fünf Extaliban von der 144 Personen umfassenden Liste, die für die Aufgeführten Einreiseverbote und Vermögensbeschlagnahmungen vorsieht. Es handelt sich bei den fünfen ausschließlich um Politiker, die schon vor Jahren ihren Frieden mit der Regierung in Kabul gemacht haben und unter deren Schutz leben oder sogar schon mit Verwaltungsposten betraut wurden. Ihre Namen tauchten wiederholt in Verbindung mit angeblichen indirekten Geheimkontakten zwischen der Kabuler Regierung und Teilen der Taliban-Führung auf. Der bekannteste unter den fünf ist der letzte Außenminister der Taliban, Wakil Ahmad Muttawakil.

Die US-Regierung hat sich schon länger dafür eingesetzt, die bereits 1999 – also noch vor der Militärintervention – erstellte Liste gründlich zu überarbeiten, da auf ihr etliche Namen von Personen stünden, die entweder inzwischen tot seien oder nicht mehr auf diese Liste gehörten. Angeblich hatte sich Rußland bisher gegen eine solche Revision gesträubt. Andererseits ist offenbar auch Washington nicht bereit, die Streichung noch aktiver Taliban-Führer von der Liste in Erwägung zu ziehen.

Saudi-Arabien soll vermitteln

Karsai hat angekündigt, daß er die saudische Regierung als Vermittlerin einschalten will, um Geheimgespräche auf höchster Ebene mit der Führung der Aufständischen in Gang zu bringen. Saudi-Arabien hatte – als einziger Staat neben den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan – bis zur westlichen Militärintervention im Oktober 2001 diplomatische Beziehungen zu den Taliban unterhalten. Angeblich will der Präsident schon in den allernächsten Tagen nach Riad fliegen, um über seine »neue« Initiative zu verhandeln.

Wirklich neu wäre aber auch ein solcher Vorstoß nicht: Karsai hatte den saudischen König Abdallah bin Abdulasis Al-Saud schon im September 2008 ganz offiziell darum gebeten, bei der Anbahnung von Friedensgesprächen mit den Aufständischen behilflich zu sein. Damals berichtete die britische Sonntagszeitung Observer, es gebe bereits von Saudi-Arabien gesponserte Geheimverhandlungen mit den Taliban über Wege zur Beendigung des Krieges. Beteiligt sei ein ehemaliges hochrangiges Führungsmitglied, das schon seit einiger Zeit zwischen Kabul, Pakistan und Saudi-Arabien hinundherreise. Großbritannien habe die Unterredungen durch logistische und diplomatische Unterstützung gefördert. Die Gespräche seien im Sommer 2008 begonnen worden. Die Taliban hätten inzwischen eine Liste mit elf Bedingungen für einen Friedensschluß übermittelt. Darunter sei die Übergabe von Schlüsselministerien und die Festlegung eines Zeitplans für den Abzug der Besatzungstruppen.

Diese Gerüchte waren damals so fragwürdig und unüberprüfbar wie jetzt die Behauptung, der UN-Beauftragte für Afghanistan, Kai Eide, habe sich am 8. Januar (oder an irgendeinem anderen Tag) in Dubai mit Taliban-Vertretern getroffen. Oder wie die Meldungen über Geheimgespräche auf den Malediven.

Unabhängig von den Vorbedingungen, die die Taliban – zumindest offiziell – immer noch für die Aufnahme von Verhandlungen stellen, ist klar, daß Karsai nicht die geringste politische Bewegungsfreiheit hat, um selbständig zu einem Friedensschluß beizutragen. Die entscheidende Frage ist vielmehr, ob die Regierung in Washington und die maßgeblichen Kreise der USA jetzt schon an einem Punkt angelangt sind, wo sie selbst um den Preis von Kompromissen und Rückschlägen nach Wegen suchen, ihr militärisches »Engagement« in Afghanistan so schnell wie möglich zu beenden.

Eskalation statt Versöhnung

Was das angeht, sollte man sich keine Illusionen machen. Die US-amerikanische Öffentlichkeit erträgt weitgehend widerspruchslos die steil ansteigende Zahl der toten Soldaten ebenso wie die jetzt schon irrsinnigen Kosten dieses Krieges. Das gleiche gilt letztlich für die Demokratische Partei von Präsident Barack Obama. In einem Jahr, in dem Kongreßwahlen anstehen, werden die Scharfmacher wieder einmal die Oberhand behalten. Obama würde die Chancen der Kandidaten seiner Partei beschädigen, wenn er jetzt Bereitschaft zu einer Verhandlungslösung zeigen würde.

Mit den Durchhalteparolen von der »neuen Strategie« setzt die US-Regierung in Afghanistan radikal auf militärische Eskalation und versucht zugleich, Pakistan immer mehr in diesen Krieg hineinzuziehen. Gleichzeitig wollen die USA offenbar ihre Bemühungen verstärken, mit massivem Geldeinsatz kollaborierende militärische Formationen aufzubauen, und zwar parallel zu den staatlichen Sicherheitskräften. Als modellhaft sind in diesem Zusammenhang die aktuellen Meldungen zu sehen, nach denen die Führung der Schinwari, mit rund 400000 Menschen einer der größten paschtunischen Stämme, sich verpflichtet habe, gegen die Taliban zu kämpfen. Wie die New York Times am 28. Januar informierte, hat das US-Militär als Gegenleistung eine Million Dollar versprochen, die ohne Einschaltung der Kabuler Regierung direkt an die Stammesführer fließen sollen, angeblich für »Entwicklungsprojekte«.

Die dabei angewandten Methoden erinnern an Praktiken, die schon seit Jahren aus Pakistan bekannt sind. So haben die Ältesten der Schinwari sich angeblich verpflichtet, daß sie jede Familie zwingen werden, ein männliches Mitglied für Armee oder Polizei zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus sollen sie, laut New York Times, zugesagt haben, die Häuser aller Stammesmitglieder niederzubrennen oder zu sprengen, die im Verdacht stehen, Aufständische aufgenommen zu haben.

Diese keineswegs neue Strategie kann indessen, auch das zeigt das pakistanische Vorbild, nur zur Verschärfung der Widersprüche und zur Radikalisierung von zunehmenden Teilen der Bevölkerung führen.

* Aus: junge Welt, 4. Februar 2010


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