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Neues Mandat für neue Kämpfe

Kabinett beschloss Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes / Rückzugsformel unverbindlich

Von René Heilig *

Das Bundeskabinett hat am Mittwoch ein neues Mandat für den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr beschlossen. Die letzte Entscheidung darüber liegt beim Bundestag, der am 28. Januar abstimmen soll.

Der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr geht nun ins zehnte Jahr. Unter Rot-Grün 2001 stellte man für die ISAF zunächst 2100 Soldaten. Inzwischen sind 4600 Bundeswehrangehörige im Afghanistan-Krieg. Erlaubt wäre auch nach dem nun angestrebten neuen Ein-Jahres-Mandat der Einsatz von 5350 Soldaten.

Auf einen konkreten Termin für den Abzug der ersten deutschen Soldaten legt sich die Bundesregierung abermals nicht fest. Man strebe jedoch an, dass der Abzug gegen Ende dieses Jahres beginnt. Im Jahr 2014 sollen dann die letzten deutschen Kampftruppen Afghanistan verlassen. Wörtlich heißt es in dem Mandatsantrag: »Die Bundesregierung ist zuversichtlich, im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung die Präsenz der Bundeswehr ab Ende 2011 reduzieren zu können.« Dabei werde man »jeden sicherheitspolitisch vertretbaren Spielraum für eine frühestmögliche Reduzierung nutzen, soweit die Lage dies erlaubt und ohne dadurch unsere Truppen oder die Nachhaltigkeit des Übergabeprozesses zu gefährden«.

Vor der Kabinettsitzung warnte besonders Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) vor übereilten Rückzugsankündigungen. In seinem Umfeld geht man lediglich von einem symbolischen Rückzugsbeginn in diesem Jahr aus. ISAF-Chef David Petraeus hatte unmissverständlich klar gemacht, dass frei werdende Truppen zunächst in anderen Landesteilen eingesetzt werden müssten. Im deutschen Verteidigungsministerium hält man es auch für möglich, dass der Bundestag demnächst noch ein weiteres Mandat für den zu Jahresbeginn von Frankreich und Großbritannien begonnenen AWACS-Einsatz über Afghanistan verabschieden muss.

Die Zustimmung des Parlaments für eine Verlängerung des Einsatzes gilt als sicher, weil die Regierung der SPD-Spitze mit unverbindlichen Abzugsformeln entgegen gekommen ist. Mecklenburg-Vorpommerns SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering hat dennoch an die Bundestagsfraktion seiner Partei appelliert, der Verlängerung des Afghanistan-Mandats nicht zuzustimmen. Statt weiter auf militärische Eskalation zu setzen, »sollte die Bundesregierung einen inner-afghanischen Versöhnungsprozess und direkte Verhandlungen mit dem Ziel einer politischen Lösung unterstützen«, betonte gestern der Verteidigungsexperte der Bundestags-Linksfraktion Paul Schäfer.

In Afghanistan kamen 2010 mehr ausländische Soldaten als in den vergangenen Jahren seit dem Beginn des ISAF-Einsatzes 2001 ums Leben. Bisher wurden 45 deutsche Soldaten in dem Einsatz getötet, allein 18 von ihnen am gefährlichsten Standort bei Kundus.

Wie groß die Probleme der Truppe sind, lässt sich beispielsweise aus einem Erfahrungsbericht des Kommandeurs des 1. Jägerregiments, Oberst Michael Matz, ablesen. Die Einheit stellte zwischen April 2009 und April 2010 im Norden Afghanistans die sogenannte Quick Reaction Force. In der aktuellen Ausgabe des Fachblattes »Strategie und Technik« analysiert er »weit über 50 Feuerkämpfe«, in die seine Elitesoldaten verwickelt waren. Matz beschreibt dabei die zunehmende Kampfkraft der Aufständischen, die die Bewegungsfreiheit der ISAF immer mehr einengen. Andere Analysen beschreiben wachsende Spannungen innerhalb des Bundeswehrkontingentes, vor denen unlängst auch der Wehrbeauftragte des Bundestages warnte.

* Aus: Neues Deutschland, 13. Januar 2011


Erst Endsieg, dann Abzug

Von Arnold Schölzel **

Am Mittwoch verabschiedete die Bundesregierung ihren Antrag zur »Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am Einsatz einer Internationalen Sicherheitssunterstützungstruppe in Afghanistan (ISAF) unter Führung der NATO«. In dem siebenseitigen Papier kommt das Wort »Krieg« nicht vor, von Bombardierung einheimischer Zivilisten, Kampf gegen Aufständische oder den US-Plänen für die Einrichtung von Militärbasen in dem zentralasiatischen Land ist keine Rede. Zum gefühlt hundertsten Mal schwelgen die Oberkommandierenden »vom Aufbau leistungsfähiger afghanischer Sicherheitskräfte als Voraussetzung für eine schrittweise Übergabe der Sicherheitsverantwortung, einer dadurch möglichen Reduzierung der internationalen Militärpräsenz.« Der Bundestag soll voraussichtlich am 28.Januar über die Vorlage abstimmen.

Die Schönfärberei ergänzte die CDU/CSU-FDP-Koalition mit Zarah-Leander-Hoffnung (»Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn«, 1942) und halluziniert, es werde eine »langfristige Partnerschaft« mit dem zentralasiatischen Land geben. Dabei dürfte es sich wie bisher um einen Protektoratsstatus handeln. Dafür strebe man eine »politische Lösung« des Konflikts und einen »Prozeß der Verständigung und des politischen Ausgleichs mit der Insurgenz« an.

Nachrichtenagenturen faßten diese Erklärung zur Kriegsfortsetzung mit Sätzen zusammen wie: »Die ersten deutschen Soldaten sollen nach dem Willen der Bundesregierung möglichst schon Ende 2011 aus Afghanistan abziehen.« Tatsächlich hatte zwar Außenminister Guido Westerwelle öffentlich darauf bestanden, den Rückzug ab Ende 2011 im Mandatstext festzuschreiben. Der Beginn des Abzugs steht aber unter dem Vorbehalt, daß die Sicherheitslage dies erlaubt. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg warnte daher vor überzogenen Erwartungen und setzte auf Endsieg. Der Beginn des Abzuges werde sich unbedingt an Realitäten und Fortschritten der Sicherheitslage orientieren, erklärte der CSU-Politiker und kommentierte den entsprechenden Passus im Mandat mit den Worten, dies sei »an die Lage vor Ort« gebunden. Eine Übergabe der Sicherheitsverantwortung, die Voraussetzung für einen Abzug ist, müsse irreversibel sein. Mit Blick auf anstehende Wahlen in Deutschland fügte Guttenberg hinzu, er warne vor einem politischen Wettlauf von Abzugsdaten.

Der Verteidigungsexperte der SPD-Fraktion, Rainer Arnold, verlangte hingegen, den Abzug mit einer glaubwürdig großen Zahl von deutschen Soldaten zu beginnen. Im Südwestrundfunk sagte er, im Norden Afghanistans gebe es Provinzen, wo die Übergabe an einheimische Sicherheitskräfte inzwischen möglich sei. Die Sozialdemokraten haben zuvor trotz Kritik ihre Zustimmung zur Fortsetzung des Einsatzes signalisiert. Die Grünen bezeichneten das neue Mandat als reinen »Formelkompromiß«. Linke-Fraktionschef Gregor Gysi kritisierte: »Wer wirklich abziehen will, muß einen klaren Tag des Beginns und einen klaren Tag des Endes des Abzugs benennen.« Die vage Ankündigung der Bundesregierung sei jedoch unter so viele Vorbehalte gestellt, daß sie »nur falsche Hoffnungen wecken« könne. Daher werde seine Partei dem Mandat für eine Fortsetzung des Einsatzes »mit einem klaren Nein« begegnen.

Die personelle Obergrenze der deutschen Beteiligung am NATO-Krieg soll künftig weiter bei 5350 Soldaten liegen. Derzeit sind rund 4600 Bundeswehrsoldaten am Hindukusch im Einsatz. Das neue Mandat soll bis zum 31. Januar 2012 gelten.

** Aus: junge Welt, 13. Januar 2011


Makulatur

Von Olaf Standke ***

Was man von Abzugsterminen in Afghanistan zu halten hat, macht Joe Biden auf seiner Hindukusch-Tour gerade noch einmal deutlich. Mag sein Präsident auch die beschlossene Aufstockung der USA-Truppen um 30 000 Soldaten mit dem Rückzugsbeginn Mitte nächsten Jahres verbunden und die NATO Ende 2014 als Deadline für den Kriegseinsatz gesetzt haben – wenn nötig, werde man natürlich länger bleiben, so der Obama-Vize. Auch die Bundeswehrsoldaten haben allen Grund, jetzt verkündete Zeitpläne vor allem als Wahlkampfposter im Jahr der vielen Urnengänge zu betrachten.

Was haben die forcierte Aufrüstung und all die Offensiven im Vorjahr aber gebracht? Von »fragilen Erfolgen« spricht Biden. Selbst das ist beschönigend. Vertrauliche Karten der UN-Mission in Afghanistan zeigen, dass die Risikoeinschätzung vor allem für den Norden und den Nordosten des Landes am Ende dramatischer ausfällt als zu Beginn der »jährlichen Kampfsaison«. Sogar in einigen zuvor sicheren Gebieten verschlechterte sich die Situation deutlich. Der verstärkte Einsatz von USA-Soldaten in der Rebellenhochburg Kandahar etwa hat in der Provinz bisher vor allem Schäden im Wert von rund 100 Millionen Dollar angerichtet, Häuser und Felder zerstört – und immer mehr unbeteiligte Zivilisten zur Flucht gezwungen. Trotzdem wollen Washington und NATO ihre Strategie der militärischen Eskalation fortsetzen. Ihr Exposé ist zuerst ein Fahrplan ins Desaster.

*** Aus: Neues Deutschland, 13. Januar 2011 (Kommentar)


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