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Was wusste Merkel über das Massaker von Kundus?

Arbeitsminister Jung trat wegen einer "Informationspanne" in seinem ehemaligen Verteidigungsministerium zurück – doch es geht um mehr

Von René Heilig *

Das – wie man sagt – politische Berlin bereitete sich gestern auf den Bundespresseball vor. Die Kanzlerin erschien nicht. Sie hatte in dieser Woche auch genügend »Tanz«. Ihr »Partner« war da vor allem Parteifreund Franz Josef Jung, bis gestern um 13.30 Uhr noch Bundesarbeitsminister.

Franz Josef Jung (CDU), Arbeitsminister der schwarz-gelben Koalitionsregierung, hat »nach reiflicher Überlegung« und dem »Grundsatz, dass man wichtige Entscheidungen erst eine Nacht überschläft«, das Handtuch geworfen. Er stellte sein Amt als Bundesminister für Arbeit und Soziales »zur Verfügung«, denn er »übernehme damit die politische Verantwortung für die interne Informationspolitik des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber den Ministern bezüglich der Ereignisse vom 4. September in Kundus«.

Die »Ereignisse« in Kundus, das ist der von einem deutschen Oberst befohlene Luftangriff in der Nähe der afghanischen Stadt Kundus, der auch nach den »Rules of Engagement«, also den Einsatzgrundlagen der Bundeswehr im Afghanistan-Krieg unzulässig war. Über 140 Menschen, darunter Kinder und Jugendliche, die weder als Person noch als »Aufständische« identifizierbar sind, waren dabei umgebracht worden.

Jung verteidigte den Einsatz und behauptete noch lange nachdem das deutsche Militär andere Erkenntnisse berichtet hatte, dass man »nur« Taliban getötet habe.

»Ich habe sowohl die Öffentlichkeit als auch das Parlament über meinen Kenntnisstand korrekt unterrichtet«, sagte er noch gestern.

Seltsam. Selbst seinem Nachfolger im Verteidigungsressort, Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), wurden neun Berichte und Einschätzungen zu dem Luftangriff vorenthalten. Das jedenfalls erklärte er am Freitag bei der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses und versprach eine mögliche Neubewertung seiner Einschätzung des Bombardements.

Um ihn dabei zu unterstützen, forderten vor allem die Vertreter der Linksfraktion die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Sie wurden von den Grünen unterstützt. Die SPD, die am Vortage lauthals danach gerufen hatte, klang verhaltener. Dabei könnte der Ausschuss – so der Untersuchungsauftrag nicht wieder beschnitten wird – einiges zutage fördern. Jedenfalls dann, wenn die Abgeordneten zu ergründen versuchen, was die Kanzlerin wann über den Vorfall wusste, der – so hohe deutsche Militärs – die Bundeswehr in Afghanistan die »Unschuld« gekostet hat.

Das Bombardement muss »Chefsache« gewesen sein. Denn der Angriff führte zu harschen Reaktionen der NATO-Befehlshaber. Sie sahen die neue, von US-Präsident Obama vorgegebene »Schmusestrategie« gefährdet. Schon am 4. September sprachen ISAF-Sprecher und der kanadische General Tremblay über zivile Opfer in nahen Krankenhäusern. Und da das Presseamt der Kanzlerin jeden Morgen die wichtigsten Meldungen der internationalen Medien vorlegt, müssten Angela Merkel vielleicht nicht die ND-Artikel, wohl aber Darstellungen der »Washington Post«, des »Stern«, des »Spiegel« und des britischen »Guardian« zur Verfügung gestanden haben. Hat sie nicht bei Jung nachgefragt? Waren dem die in seinem Hause vorhandenen Berichte unwichtig? Hat er etwa auch nicht den 20. Kontingent-Lagebericht des deutschen Afghanistan-Kommandos gelesen? Der liegt seit dem 14. September vor und bestätigte alle vorangegangenen Feldjäger-Einzelberichte über eine Vielzahl ziviler afghanischer Opfer. Haben die Kanzlerin oder ihr damaliger Vize Frank-Walter Steinmeier nie nachgefragt, was der am Donnerstag geschasste Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan herausgefunden hat? Den hatte Jung extra nach Kundus entsandt, um auch über Entschädigungen für tote Zivilisten zu beratschlagen.

Vermutlich wollten weder Merkel noch Steinmeier, dass der »Vorfall« vom 4. September ehrlich untersucht wird. Denn 23 Tage nach dem von der Bundeswehr zu verantwortenden mutmaßlichen Kriegsverbrechen fanden Bundestagswahlen statt. Die LINKE hatte plakatiert: Raus aus Afghanistan und damit den Willen der Bevölkerungsmehrheit artikuliert. Die Wahrheit über das Massaker von Kundus hätte andere vermutlich Wahlprozente gekostet.

Am Abend teilte Kanzlerin Merkel mit, dass die bisherige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) ins Arbeitsressort wechseln soll. Ihr Amt wird die hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Kristina Köhler übernehmen.

* Aus: Neues Deutschland, 28. November 2009


Ein denkwürdiger Donnerstag

Von Otfried Nassauer **

Eigentlich wollte der Bundestag am Donnerstag nur über die Verlängerung der Auslandseinsätze der Bundeswehr debattieren. Über UNIFIL, OEF und ISAF. Über die richtige Afghanistan-Strategie für die Zukunft. Doch dann kam alles ganz anders.

Die Debatte begann mit einem Paukenschlag: Verteidigungsminister zu Guttenberg teilte mit, Generalinspekteur Schneiderhan trete auf eigenen Wunsch zurück. Auch Staatssekretär Peter Wichert müsse zurücktreten. Beide übernähmen die Verantwortung für die fehlerhafte Informationspolitik des Ministeriums im Zusammenhang mit dem fatalen Luftangriff am 4. September nahe Kundus, bei dem bis zu 142 Menschen ums Leben kamen. Nicht zurücktreten wollte zunächst der politisch Hauptverantwortliche, Ex-Verteidigungsminister Jung. Er habe jederzeit gemäß seines aktuellen Kenntnisstandes die Wahrheit gesagt. Doch einen Tag später zog auch er die Konsequenzen.

Jungs Rücktritt eröffnet der Bundesregierung eine Chance. Sie kann alle drei Rücktritte offensiv kommunizieren: »Wenn die Bundeswehr einen Fehler macht, dann kommt es letztlich ans Licht. In einer Demokratie werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen. Ohne Rücksicht auf Rang und Namen.« Selbst dann, wenn es sich – wie im Fall des Generalinspekteurs – um einen Kollateralschaden handelt, weil die militärische Führung für den mangelnden Aufklärungswillen der politischen mithaftet. Viel zu wenig Beachtung fanden angesichts dieser Vorgänge die Vorlagen der Regierung zur Verlängerung des Afghanistan-Mandates. Es wird unverändert um ein Jahr verlängert. Unter Vorbehalten.

In der kommenden Woche will US-Präsident Barack Obama seine Entscheidung über die Zukunft des Afghanistan-Einsatzes kundtun. Da ist mit viel »soll« zu rechnen: Die US-Truppen sollen deutlich aufgestockt werden, die Verbündeten mithelfen. Eine erneute Afghanistan-Konferenz soll die künftige Strategie festlegen. Die Truppenaufstockung soll eine kaum legitimierte Regierung absichern, die ihrerseits Besserung und gute Regierungsführung geloben soll. Die Ausbildung nationaler Sicherheitskräfte soll massiv voran- und die Aufständischen sollen zumindest aus den Bevölkerungszentren zurückgetrieben werden. Übergabe der Verantwortung sei das Ziel.

In einer »ressortübergreifenden Entscheidungsgrundlage« hat die Bundesregierung diese Absichten am 16. November gebilligt. Aufrüsten um abzurüsten, aufstocken, um abziehen zu können, so lautet der Gedanke. Doch eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Weder dafür, dass die Regierung Karzai sich bessert, noch dafür, dass mehr Truppen mehr Sicherheit schaffen. Und auch nicht dafür, dass den internationalen Militärs in wenigen Jahren ein Abzug ohne Gesichtsverlust möglich wird. Garantiert ist nur, dass mehr Truppen und mehr Geld eingesetzt werden.

Der Bundestag wird sich schon bald erneut mit dem Thema Afghanistan befassen. Im Lichte der Ergebnisse der Afghanistan-Konferenz will die Bundesregierung das Bundestagsmandat überprüfen und anpassen. Das kann nur eines heißen: Der deutsche Beitrag wird aufgestockt. Mehr Geld wird schon jetzt eingeplant. 820 Millionen Euro sieht das Mandat vor, ein Plus von mehr als 200 Millionen im Vergleich zum Vorjahr.

** Aus: Neues Deutschland, 28. November 2009 (Gastkolumne)

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