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Bundeswehr fühlt sich entlastet: Massaker von Kundus löst sich in militärischem Wohlgefallen auf

Artikel / Kommentar von Peter Strutynski

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel, der sich mit dem "geheimen Bericht" der NATO-Untersuchungskommission befasst, die das Massaker von Kundus aufklären sollte. Im Anschluss ein Kommentar: "Rechenkünstler bei der NATO"

NATO-Deckung für deutschen "Klein-Krieg"

Afghanistan: Luftangriff auf entführte Tankwagen forderte »zwischen 17 und 142 Menschenleben« / Sachsens Generalstaatsanwalt wartet ab

Von René Heilig *


Die Bundeswehr sieht sich durch den geheimen NATO-Bericht zum Luftangriff auf von den Taliban vor rund zwei Monaten entführte Tanklaster entlastet. Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, sieht »keinen Grund, daran zu zweifeln«, dass der deutsche Befehlshaber, Oberst Georg Klein, »angesichts der schwierigen Lage in operativer Hinsicht militärisch angemessen« gehandelt habe.

Die genaue Opferzahl beim Luftangriff auf zwei entführte Tanklaster in Afghanistan ist nach NATO-Angaben nicht mehr genau zu ermitteln. Befohlen wurde der Angriff von Bundeswehr-Oberst Georg Klein am 4. September. Die Bomben warfen US-Piloten. Zwischen 17 und 142 Menschen seien getötet worden, sagte Bundeswehr-Generalinspekteur Wolfgang Schneiderhan am Donnerstag in Berlin unter Berufung auf den NATO-Untersuchungsbericht, in dem es heißt, dass es 30 bis 40 getötete und verletzte Zivilisten gegeben haben könnte. Schneiderhan versuchte einen – diesmal medialen – Entlastungsangriff: »Das bestätigt nicht, dass durch den Luftschlag unbeteiligte Personen getötet wurden.«

So wie der unter kanadischer Hoheit abgefasste Untersuchungsbericht ausgefallen ist, haben die USA »etwas gut« bei ihren deutschen Verbündeten. Berlin wird sich erkenntlich zeigen (müssen). Darauf weist auch die »hinhaltende Kampfführung« des deutschen Verteidigungsministeriums hin. Minister Karl-Theodor von und zu Guttenberg (CSU), noch keine 24 Stunden im Amt, belastet sich noch nicht mit den politischen Implikationen des Untersuchungsberichtes. Er lässt seinen Armeechef Schneiderhan vor der Presse agieren. Der allerdings hatte sich, bereits unmittelbar nachdem der Brand im Fluss bei Kundus erloschen war, gegen Vorwürfe des obersten afghanischen NATO-Befehlshabers, US-General Stanley McChrystal, gewandt. McChrystal hatte – Irak-erfahren und mit US-Präsident Obama im Nacken – eine neue Strategie angeordnet, die den Schutz der afghanischen Bevölkerung vor den Sieg über einzelne Widerstandsgruppen stellt. Unter der Hand vermitteln Bundeswehroffiziere jedoch den Eindruck, als habe der Luftangriff die Taliban geschockt und so die Sicherheit gestärkt. Auch weil einige regionale Führer getötet worden seien. Zudem registrierten KSK-Trupps, die nächtens Führer der Aufständischen nach Angaben des afghanischen Geheimdienstes verhaften wollen, zunehmende Unsicherheit im nördlichen Führungsnetz der Taliban.

Ein spezielles Thema ist die deutsche Justiz. Nach dem Luftangriff wollte Potsdams Staatsanwaltschaft – am Sitz des Einsatzführungskommandos – klären, ob Ermittlungen angezeigt sind. Potsdam gab das Verfahren an die Kollegen in Kleins Standort Leipzig ab. Leipzig wurde von der Generalstaatsanwaltschaft in Dresden »entlastet«. Die sammelt weiter Fakten und wartet den – im Verteidigungsministerium eingetroffenen – NATO-Bericht ab. Noch liege kein Anfangsverdacht für eine Straftat vor.

In der Truppe vernimmt man leichtes Murren. Als ein 28-jähriger Oberfeldwebel unlängst bei Kundus die Nerven verlor und an einer Straßensperre eine Frau und zwei Kinder umbrachte, ermittelte die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) umgehend. Auf einem bayerischen Übungsplatz wurde ein »Ortstermin« nachgestellt. Der Tatverdacht wurde vor Ort ausgeräumt. Nicht einmal einer solchen Prozedur musste sich Oberst Georg Klein, jüngst noch ISAF-Kommandeur in Kundus, unterziehen.

»Wir ermitteln ohne Ansehen des Dienstgrades«, hält Oberstaatsanwalt Wolfgang Klein, Sprecher der Dresdner Generalstaatsanwaltschaft, dagegen. Man habe sehr sorgfältig die Bundeswehrunterlagen studiert und warte nun auf das Untersuchungsergebnis der NATO. »Aus der Gesamtheit der Angaben bilden wir uns eine Meinung.«

* Aus: Neues Deutschland, 30. Oktober 2009


Rechenkünstler bei der NATO

Von Peter Strutynski

Man könnte von einer Lachnummer sprechen, wenn der Hintergrund nicht so ernst wäre: Am 4. September veranlasste ein deutscher Kommandeur in der Nähe von Kundus einen Luftangriff auf zwei von den Taliban entführte Tanklastwagen und richtete damit ein Inferno an. Von über 100 Toten, darunter zahlreichen Zivilisten war die Rede und die Bundeswehr geriet unter erheblichen öffentlichen Druck im In- und Ausland. Nun, gut sechs Wochen nach dem "Vorfall", legt die NATO einen Untersuchungsbericht vor, in dem angeblich davon die Rede ist, dass die Zahl der Getöteten nicht genau ermittelbar sei; sie läge zwischen 17 und 142 Menschen. Die Bundeswehrführung fühlt sich entlastet (die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine titelte: "Freispruch für die Bundeswehr") und interpretiert den Bericht als Bestätigung der Richtigkeit des damaligen Angriffs. Nicht der zuständige Minister - von und zu Guttenberg wollte sich mit diesem Thema wohl noch nicht die Hände schmutzig machen -, sondern der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Wolfgang Schneiderhan, stellte die Kernpunkte des Berichts vor der Presse dar und gab eine an Rabulistik grenzende Bewertung ab: "Der Bericht bestätigt damit nicht, dass durch den Luftschlag unbeteiligte Personen getötet wurden."

Die Öffentlichkeit muss sich in mehrfacher Hinsicht getäuscht, hintergangen und verarscht fühlen. Zum einen ist der Untersuchungsbericht geheim - er liegt der Bundeswehrführung vor und die pickt sich die Botschaft heraus, die ihr genehm ist. Die Öffentlichkeit hat keine Chance mitzudiskutieren, da ihr die im Bericht genannten Fakten vorenthalten bleiben.

Zum anderen hat die NATO-Kommission, die den Vorfall untersuchte, ein wahres Meisterstück vollbracht. Die Zahl der Todesopfer liege zwischen 17 und 142, soll es im Bericht heißen. Die genaue Zahl der Toten sei laut Schneiderhan "nicht mehr ermittelbar". Das macht stutzig. Dass die genaue Zahl heute "nicht mehr ermittelbar" sei, wäre allenfalls dann plausibel, wenn mit den Ermittlungen erst sehr spät angefangen wurde. Die NATO-Kommission ermittelt aber von Anfang an. Zudem gab es unmittelbar nach dem Angriff eine offizielle Verlautbarung der Bundeswehr. Darin war von "56 getöteten Aufständischen" die Rede. Die afghanische Provinzregierung von Kundus sprach damals bereits von 90 Todesopfern (diese Zahl wurde später auf 50 gesenkt). Und ein Einwohner aus dem betroffenen Dorf Hadschi Amanullah sagte der Deutschen Presse-Agentur am 4. Sept. am Telefon, es habe mehr als 150 Tote und Verletzte gegeben: "In der Gegend waren auch Taliban, aber mehr Opfer gibt es unter Zivilisten."

Die vage Behauptung des NATO-Berichts, bei dem Angriff seien zwischen 17 und 142 Menschen ums Leben gekommen, ist nicht das Ergebnis eigener Recherche, sondern referiert lediglich verschiedene Quellen. Dazu aber hätte es keiner Untersuchungskommission bedurft. Interessant ist auch der Umstand, dass offenbar eine NATO-Untersuchungskommission bereits am 7. September, also sehr zeitnah zum tödlichen Geschehen, einen geheimen Berichtsentwurf erarbeitet hatte, in dem von 90 Toten und Verletzten die Rede war. Darunter seien mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zahlreiche Zivilisten gewesen, wie das ZDF berichtete. Die Zahl der Toten schwankte gemäß dieser NATO-Untersuchung zwischen 70 und 78. Geht man ernsthaft vom jetzt "ermittelten" Niedrigswert 17 aus, dann müssten viele am 4. September getöteten also wieder auferstanden sein.

Und dann noch diese Aussage im NATO-Bericht: Es könne zwischen 30 bis 40 getötete und verletzte Zivilisten gegeben haben! Wir rechnen nach: Wenn bei der Anzahl der Todesopfer von der Untergrenze ausgegangen wird (17), wie kommt man dann auf 30 bis 40 zivile Opfer? Gut, da sind auch "verletzte" Zivilisten dabei. Aber wie verhalten sich solche Angaben zu den anderen Berichten, etwa dem des Kabuler Präsidenten Hamid Karsai - einem ausgesprochenen Freund und Liebling der Bundesregierung. Die von ihm eingesetzte Untersuchungskommission war Mitte September zu dem Schluss gekommen, dass bei dem Bombardement 30 Zivilisten und 69 Taliban-Kämpfer getötet worden waren. Karsai wollte damit keineswegs die Bundeswehr kritisieren - im Gegenteil: Er gab ausschließlich den Taliban die Schuld an dem Vorfall. Aber kann sich seine Kommission so verrechnet haben?

Eine andere Quelle, die seriös zu sein scheint, ist der britische Guardian. Am 12. September veröffentlichte er Aussagen von 11 Augenzeugen, die kurze Zeit nach dem Angriff am Ort des Geschehens waren um nach vermissten Angehörigen, allesamt zivile Dorfbewohner, zu suchen. Es ist ein erschütternder Bericht, der darauf hindeutet, dass die Zahl der Opfer, die von den Explosionen zerstückelt, verbrannt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurden, sehr groß gewesen sein muss.

Aber konnte man ernsthaft erwarten, dass der NATO-Bericht solches preisgibt? Man sollte nicht vergessen, dass hier eine NATO-Untersuchungskommission sich selbst untersucht hat. General Schneiderhan hat in seinem Pressestatement darauf hingewiesen, dass "der Vorfall am 4. September nicht isoliert betrachtet werden" dürfe. So sehen wir das auch. Es war nicht das erste Mal, dass Zivilisten bei NATO-Angriffen ums Leben kamen, sondern das gehört zum schmutzigen Krieg in Afghanistan, der zum größten Teil aus der Luft geführt wird und in der Regel nicht zwischen "Taliban-Kämpfern", "Terroristen" und Zivilpersonen unterscheiden kann. Und auch die Frage darf gestellt werden, was die NATO, was die Bundeswehr in Afghanistan überhaupt verloren hat. Dass Deutschland am Hindukusch verteidigt werde, glaubt nun wirklich niemand mehr. Und mittlerweile pfeifen es alle Spatzen und Experten von den Dächern, dass dieser Krieg von den Besatzern nicht gewonnen werden kann. Bis die das aber einsehen, wird es noch viele Tote geben - auf beiden Seiten und vor allem unter der Zivilbevölkerung. Es gibt nur einen Weg, diese Tragödie zu beenden: den Abzug der Truppen und die Beendigung des Krieges.


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