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Flucht vor der NATO

Von Rüdiger Göbel und Norman Griebel *

Die NATO hat vor den Toren der südafghanischen Stadt Kandahar eine neue Offensive gegen die Taliban gestartet. Presseberichten zufolge ist die Zivilbevölkerung auf Motorrädern, Traktoren, in Autos und mit Tieren auf der Flucht. Wer nur irgendwie kann, verläßt das Kampfgebiet. Laut der mit der NATO verbündeten lokalen Polizei wurden bei den »heftigen Gefechten« 50 Taliban getötet, 200 weitere Kämpfer waren demnach am Mittwoch umzingelt. Über zivile Opfer wurden keine Angaben gemacht. Taliban-Sprecher Jussuf Ahmadi hatte am Dienstag behauptet, die Rebellen hätten den Bezirk Arghandab unter ihre Kontrolle gebracht und den gegnerischen Truppen schwere Verluste zugefügt. Die NATO und ihr gegenüber loyale afghanische Streitkräfte bestritten dies.

Angesichts des wachsenden Widerstands haben die Besatzungstruppen am Hindukusch offensichtlich Nachschubprobleme. Presseberichten zufolge könnte die britische Armee in naher Zukunft gezwungen sein, 20 private Hubschrauber zu mieten, um Material und Soldaten innerhalb Afghanistans zu transportieren. Forderungen an mehrere ­NATO-Länder, darunter auch Deutschland, entsprechende Maschinen zur Verfügung zu stellen, waren zuvor abgelehnt worden. Offiziellen Angaben zufolge sind in Afghanistan seit Invasionsbeginn vor sechs Jahren 18 Militärhubschrauber durch Unfälle oder Feindeinwirkung zerstört worden. Offenbar sind weder die USA noch Großbritannien in der Lage, weitere Helikopter zur Verfügung zu stellen. Dies läßt den Schluß zu, daß bislang deutlich mehr NATO-Hubschrauber abgeschossen worden sind als offiziell eingestanden – wofür zahlreiche entsprechende Meldungen der Taliban sprächen. Oder aber die Kämpfe sind mittlerweile derart eskaliert, daß eine erhöhte Transportkapazität benötigt wird.

Laut Jerome »Paddy« Ashdown, der als nächster »Superbotschafter« der Vereinten Nationen in Afghanistan gehandelt wird, ist die militärische Lage für die Besatzer praktisch aussichtslos. »Wir haben verloren, glaube ich, ein Erfolg ist jetzt unwahrscheinlich«, zitierte der britische Daily Telegraph den britischen Spitzenpolitiker, der zwischen 2002 und 2006 Hoher Repräsentant der UNO für Bosnien-Herzegowina war. »Ich glaube, in Afghanistan zu verlieren ist schlimmer, als im Irak zu verlieren. Es wird bedeuten, daß Pakistan fallen wird, und es wird ernste interne Folgen für die Sicherheit unserer eigenen Länder haben und einen ausgeprägteren schiitisch-sunnitischen regionalen Krieg im großen Maßstab herbeiführen.«

Der zukünftige »Superbotschafter« der Vereinten Nationen soll Anfang 2008 auch den amtierenden UN-Sonderbeauftragten für Afghanistan, Tom Koenigs, ablösen. Koenigs hatte kürzlich kritisiert, daß die Besatzungstruppen – insbesondere die deutsche Bundeswehr – sich nicht an der Zerstörung von Schlafmohnfeldern beteiligen. Über den Kampf gegen den Drogenhandel berät seit Mittwoch eine internationale Konferenz in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Nachdem die USA und die NATO 2001 die Taliban entmachtet hatten, ist das Land zum Hauptproduzenten von Opium weltweit geworden.

* Aus: junge Welt, 1. November 2007


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