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NATO sucht Ausweg

Von Peter Wolter und Rainer Rupp *



Der Afghanistan-Krieg ist so gut wie verloren, dennoch will die Bundesregierung das deutsche Truppenkontingent um 1000 auf 4500 Mann aufstocken. Die Kriegspolitiker der Koalition werden tief in die Kiste mit rhetorischen Tricks und Halbwahrheiten greifen müssen, wenn der Bundestag am heutigen Dienstag in erster Lesung über die Entsendung zusätzlicher Soldaten entscheidet. Auch wenn der eine oder andere neoliberale Abgeordnete nachdenklich geworden ist – die Fraktion der Linkspartei wird die einzige bleiben, die sich geschlossen dagegen ausspricht. Die Abstimmung ist für den 13. Oktober vorgesehen.

Selbst die US-Geheimdienste beschreiben die Lage in Afghanistan mittlerweile als »düster«. Wie aus der »National Intelligence Estimate for Afghanistan« (NIE), einer gemeinsamen Einschätzung aller Dienste hervorgeht, wird für dieses Jahr nicht die sonst übliche Winterruhe erwartet. Regierungsquellen in Washington berichteten unter Berufung auf das Papier, daß die afghanischen Taliban ihr gewonnenes Terrain erweitern und den ausländischen Truppen sowie ihren einheimischen Kollaborateuren einen heißen Winter bereiten wollen. Bereits Anfang September hatten die ausländischen Truppen, allen voran die USA, mehr Gefallene zu verzeichnen als im gesamten Jahr 2007. Die Lage hat sich offenbar so verschlechtert, daß der Oberkommandierende in Afghanistan, US-General David McKiernan, forderte, »so schnell wie möglich« mehr Soldaten und Wirtschaftshilfe zu schicken.

Auch der britische Oberkommandierende in Afghanistan, General Mark Carleton-Smith, hatte Ende der Woche eingeräumt, daß der Krieg gegen die Taliban nicht mehr gewonnen werden könne. Und der britische Botschafter in Kabul, Sir Sherard Cowper-Coles warnte, jede weitere Verstärkung der NATO-Truppen sei kontraproduktiv. In einem vertraulichen Bericht an seine Regierung, den die Times of London am 1. Oktober auszugsweise veröffentlichte, heißt es: »Die allgemeine Lage ist schlecht, und die Sicherheitslage ist noch schlechter. Das gilt auch für die Korruption, die Regierung hat jegliches Vertrauen der Bevölkerung verloren.« Die militärische Präsenz der ­NATO sei Teil des Problems, nicht seine Lösung. Irgendwann müsse sie sich zurückziehen, was sich »sehr wahrscheinlich dramatisch gestalten« werde. Ob Cowper-Coles dabei an das britische Armeekorps dachte, das vor über 100 Jahren in Afghanistan bis zum letzten Mann aufgerieben worden war?

Angesichts der katastrophalen Lage ist der Begriff »Exit-Strategie« auch in Berliner Koalitionskreisen kein Tabuwort mehr. Am Wochenende forderte CSU-Landesgruppenchef Peter Ramsauer »klare Perspektiven für ein Ende der Militäraktion in Afghanistan«. Und der frühere CDU-Politiker Jürgen Todenhöfer verlangte am Montag, »die Bundeswehr und die NATO sollten sehr bald mit einem stufenweisen Abzug aus Afghanistan beginnen«.

Auch wenn die Koalition in Nibelungentreue zur USA die Truppenaufstockung durchwinkt – es scheint Bewegung in die verfahrene Lage gekommen zu sein. Laut ddp bestätigten »parlamentarische Kreise« in Berlin, es gebe ein NATO-Papier, das einen »Zeitrahmen für die Übergabe der Einsatzgewalt durch die alliierten Truppen an die afghanische Armee und die Polizei setzt«. Das Geheimdossier spreche von der »Unabdingbarkeit einer Verhandlungslösung mit den Taliban«.

Erste Kontakte scheint es jetzt schon zu geben: Laut Agenturberichten sollen Ende September in Mekka Delegationen der Taliban und der amtierenden Regierung Afganistans erste Gespräche geführt haben.

* Aus: junge Welt, 7. Oktober 2008


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