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Afghanistan: Bomben, Blogs und kühne Sprüche

"Muschtarak"-Offensive ist eine Medien-Show der ISAF-Militärs / SPD will neuem Mandat zustimmen

Von René Heilig *

Die am Wochenende in der südafghanischen Provinz Helmand gestartete ISAF-Offensive – Codename »Muschtarak« (Gemeinsamkeit) – ist der erste große Test für die neue Strategie von US-Präsident Obama. Sie muss also zum Erfolg werden, selbst wenn sie in der Realität wenig bringt.

Rund 15 000 Soldaten – darunter 4400 afghanische – sind an der größten Offensive seit dem Sturz des Taliban-Regimes vor gut acht Jahren beteiligt. Ziel ist es, die Rebellen aus der Region Mardscha, einem der größten Opium-Anbaugebiete der Welt, zu vertreiben.

Der bisherige Erfolg der Operation ist fragwürdig. Es gibt keine Angaben über getötete oder gefangene Taliban oder solche, die aufgegeben haben. Dafür steigt die Anzahl ziviler Opfer. Bis zum vierten Tag der Offensive sind bereits mindestens 15 Zivilpersonen getötet worden. Die in der Provinz Kandahar durch Bomben getöteten fünf Zivilisten könne man – laut ISAF – nicht »Muschtarak« zuordnen.

Insgesamt jedoch beherrschen Erfolgsmeldungen die westliche Berichterstattung. Die Bezirke Mardscha und Nad Ali würden fast ganz von seinen Truppenverbänden kontrolliert, sagte der afghanische General Aminullah Patiani, der offiziell den Einsatz der afghanischen und internationalen Truppen führt. Patiani hat den gesamten Propaganda-Apparat der ISAF auf seiner Seite. Die Videos von »Muschtarak« sind an Harmlosigkeit nicht zu überbieten. US- und britische Soldaten steigen in Hubschrauber, landen, reichen Dorfältesten die Hand – genau so wie es die vor knapp einem Monat in London verabredete Strategie vorsieht. US-Soldaten – Familienväter – schreiben Internet-Tagebücher, sogenannte Blogs. Die per Internet verteilten ISAF-Fotos vermitteln, dass die gut ausgerüstete afghanische Armee das Heft des Handelns in der Hand hält. Anders als bei früheren Offensiven wolle man das »eroberte« Gebiet nicht räumen.

Niemand schießt, es gibt keine Toten – in den ISAF-Videos und auf deren Fotos. Es sei, so sagt General Abdul Rahin Wardak, Verteidigungsminister aus Kabul, nicht das Ziel, Rebellen zu töten. Sie müssten nur ihre Waffen niederlegen und sich dem Versöhnungsprozess anschließen. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid widerspricht. Man leiste erfolgreich Widerstand. Nach Art der Guerilla feuern Aufständische auf die ISAF-Truppen, legen ihre Waffen ab, verwandeln sich in Bauern und gehen »friedlich« zu ihrem nächsten Waffenlager. Nachts überwinden sie die Linien der Alliierten und greifen dann in Gebieten an, die als gesichert galten. Nicht nur US-Brigadegeneral Lawrence Nicholson meint, die Militäroperation könne noch 30 Tage dauern. Der britische Generalstabschef Jock Stirrup will den Erfolg des Einsatzes sogar erst in einem Jahr abschätzen. Man müsse die Einheimischen überzeugen, die Regierung in Kabul zu akzeptieren. Der neue Bundeswehr-Generalinspekteur Volker Wieker erwartet gleichfalls keine schnellen Erfolge und weigert sich daher, einen Zeitpunkt für den endgültigen Abzug der Bundeswehr zu nennen.

Der Bundestag wird am 26. Februar über ein neues Afghanistan-Mandat abstimmen, das eine Truppenerhöhung um 850 Soldaten vorsieht. SPD-Chef Sigmar Gabriel versicherte, seine Partei habe die Debatte um den Einsatz von Anfang an nicht auf ein Nein angelegt, auch wenn die Mehrheit der Bevölkerung dagegen sei. Die SPD-Fraktion werde dem neuen Afghanistan-Mandat zustimmen.

Aus Pakistan wurde unterdessen gemeldet, dass die CIA und der pakistanische Geheimdienst ISI Mullah Baradar, den Militärchef und die Nummer Zwei der Taliban, festgenommen haben. Er ist der ranghöchste Taliban, der seit der US-Invasion 2001 gefasst wurde. Das ursprüngliche Kriegsziel, Al-Qaida-Chef bin Laden zu fassen, wird von Washington nicht mehr erwähnt.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Februar 2010


Superlatives Präfix

Von Olaf Standke **

Von Viktor Klemperer kann man lernen, dass sich die ursprüngliche Exaktheit soldatischer Sprache gern ins Fantastische wandelt, je misslicher die Lage wird. Dem superlativen Präfix kommt dabei eine besondere Rolle zu. Womit wir bei der sogenannten Großoffensive wären, die gerade am Hindukusch tobt. Die größte Militäraktion der NATO seit dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 und, so kann man aus Washington hören, eine Bewährungsprobe für die neue Afghanistan-Strategie von USA-Präsident Obama. Nur ist das Rezept alt und droht, um im Militärjargon zu bleiben, erneut ein Rohrkrepierer zu werden. Dabei sollte doch der Schutz von Unbeteiligten dieses Mal oberste Priorität haben. Aber die Zahl der zivilen Opfer steigt Tag für Tag. Tausende sind im Süden Afghanistans auf der Flucht. Und inzwischen stockt auch der Vormarsch der Alliierten und ihrer afghanischen Helfer.

Gestern hat der pakistanische Innenminister US-amerikanische Berichte über gemeinsame Operationen als »Propaganda« bezeichnet. Dass am Ende der Sieg über einen militärisch deutlich unterlegenen, aber nur schwer zu greifenden Feind verkündet wird, darf man wohl trotzdem prophezeien. Was aber wird, wenn eines der größten Opium-Anbaugebiete der Welt wirklich »gesäubert« sein sollte? Denn hier haben nicht nur die Taliban ihre Kriegskasse gefüllt. Viele in der Region brauchen dann eine alternative Existenzsicherung. Welche Strategie gibt es für sie?

** Aus: Neues Deutschland, 17. Februar 2010 (Kommentar)


Größte Offensive seit Sturz des Taliban-Regimes

15 000 afghanische und ausländische Soldaten sind in der südlichen Provinz Helmand im Einsatz ***

Nach dem Tod von zwölf Zivilisten bei der Großoffensive gegen die Taliban in der südafghanischen Provinz Helmand wollen Regierung und Militärs Unbeteiligte besser schützen.

Der afghanische Innenminister Mohammad Hanif Atmar kündigte am Montag in der Provinzhauptstadt Laschkarga an, man werde auf den Einsatz von schwerer Artillerie verzichten und sich täglich mit Stammesältesten über die Operation »Muschtarak« (Gemeinsam) beraten. Außerdem wolle die Regierung einen Radiosender im Kampfgebiet installieren, um Zivilisten besser zu informieren. Nach Angaben der NATO-geführten Besatzungstruppe ISAF waren am Sonntag zwölf Zivilisten gestorben, als zwei Raketen ihr Ziel um mehrere hundert Meter verfehlt hatten.

US-Brigadegeneral Lawrence Nicholson sagte dem US-Fernsehsender CBS, die Militäroperation in Mardscha könne möglicherweise noch 30 Tage dauern. Es werde zwar eine lange und mühsame Aufgabe sein, aber er sei »sehr optimistisch«. Die Aufständischen hätten mehr Sprengfallen installiert, als die Militärs erwartet hätten. Die Sprengfallen erschweren den Vormarsch der Truppen.

Am Sonntag (14. Feb.) habe starke Gegenwehr der Taliban US-Marineinfanteristen zu vorsichtigem Vorrücken gezwungen, berichtete die »Washington Post«. Die »New York Times« schrieb von heftigen Kämpfen am Sonntag in der Gegend um Mardscha. Zunächst hatten Militärs erklärt, die Taliban leisteten nur sporadischen Widerstand. Die Truppen gehen nach Angaben des US-Fernsehsenders CNN davon aus, dass sich noch Hunderte Taliban-Kämpfer im Kampfgebiet verschanzt haben.

Präsident Hamid Karsai hatte die Truppen zu Beginn der Offensive aufgefordert, die Zivilbevölkerung zu schützen. Auch die Vereinten Nationen hatten einen entsprechenden Appell an die Konfliktparteien gerichtet. Die ISAF meldete am Montag, bei der Operation »Muschtarak« seien am Vortag mehrere Aufständische getötet oder gefangen genommen worden. Bei den Truppen habe es Verletzte gegeben. Einzelheiten nannte die ISAF nicht. Die Operation mit 15 000 afghanischen und ausländischen Soldaten ist die größte Offensive gegen die Aufständischen seit dem Sturz des Taliban-Regimes. Mit ihr sollen die Taliban aus den Distrikten Mardscha und Nad Ali vertrieben werden.

Angesichts der vorrückenden Truppen forderte die Regierung die Taliban erneut zu einem Ende der Gewalt auf. »Heute ist unsere Botschaft an sie (die Taliban) diese: Ihre beste Möglichkeit ist, das afghanische Friedens- und Versöhnungsprogramm zu nutzen«, sagte Minister Atmar. Sollten die Taliban sich zu einer Teilnahme an dem Versöhnungsprogramm entschließen, »werden wir definitiv positiv reagieren«.

*** Aus: Neues Deutschland, 16. Februar 2010


NATO zufrieden mit Afghanistan-Offensive

Besatzer führen Großangriff in Helmand fort. Sechs Kinder getötet

Von Rüdiger Göbel ****

Bei dem Raketenangriff der NATO in Südafghanistan am Wochenende sind auch sechs Kinder getötet worden. Das teilte ein NATO-Sprecher am Montag mit. Insgesamt starben zwölf Menschen. Die Angreifer äußerten sich zu dem Vorfall widersprüchlich. Am Sonntag hieß es seitens der NATO, zwei gegen die Aufständischen gerichtete Raketen hätten nahe der Stadt Marja ihr Ziel verfehlt und ein Wohnhaus getroffen. NATO-Kommandeur Stanley McChrystal bat um Entschuldigung und ordnete an, den betroffenen Raketentyp nicht mehr zu benutzen, bis der Fall untersucht ist.

Am Montag (15. Feb.) übernahm schließlich die durch Wahlfählschung und Besatzer im Amt gehaltene afghanische Regierung die Verantwortung. Innenminister Hanif Atmar behauptete, unter den Getöteten seien auch zwei oder drei Aufständische. Sie hätten das Haus eingenommen und daraus die Soldaten beschossen. »Leider wußten unsere Soldaten nicht, daß in dem Haus Zivilisten wohnten«, sagte Atmar.

Die Zahl der seit Beginn der Angriffe am Samstag getöteten ausländischen Soldaten erhöhte sich laut AFP auf mindestens sieben. An der Operation »Muschtarak« (Gemeinsam) in der Provinz Helmand sind 15000 Soldaten beteiligt, darunter 4400 afghanische. Offiziell schreiben die Besatzer letzteren die Führungsrolle zu.

Laut britischem Verteidigungsministerium verlief die erste Phase der Offensive »planmäßig«. Die nächste Etappe, in der sich Einheiten vor Ort festsetzten und Infrastruktur wie Stützpunkte und Brücken errichteten, habe bereits begonnen. Der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, James Jones, sagte, die Offensive gegen die Taliban komme »gut« voran.

»Die ›neue‹ Strategie der NATO in Afghanistan ist nicht neu – sie ist nicht einmal eine Strategie«, kommentiert Jan van Aken, stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. »Zwölf tote Zivilisten am ersten Tag sind kein Unfall, sie sind die Normalität des Krieges in Afghanistan, und es wird weitere Todesopfer geben. Als Folge werden sich noch mehr Afghanen den Taliban anschließen und der Krieg wird weiter eskalieren.«

**** Aus: junge Welt, 16. Februar 2010


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