Kollateralschaden Afghanistan
Militärischer Weg zu Staats- und Nationenbildung, Frieden und Demokratie ist eine Sackgasse
Von Norman Paech *
Der Bundestagsabgeordnete Prof. Dr. Norman Paech, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion,
besuchte kürzlich Afghanistan. Seine Erfahrungen legt er für ND in folgendem Beitrag dar.
Seit knapp 30 Jahren kämpft Afghanistan nun schon um eine neue Gesellschaftsordnung. Es hatte
sich in der Vergangenheit allen Kolonisierungsversuchen entgegengestellt und dabei an einer
Gesellschaftsverfassung festgehalten, die tief in seiner Geschichte verankert ist. Die
Modernisierungsversuche König Amanullahs in den 20er Jahren dauerten nur kurz, da er schon
1929 durch Feudal- und Stammesaristokratie sowie die islamische Geistlichkeit zum Rücktritt
gezwungen wurde. Unter den folgenden Königen Nadir Khan und Zahir Shah blieben die alten
Privilegien und feudalen Strukturen unangetastet. Umso radikaler musste der Einbruch der neuen
Gesellschaft sein, als Nur Mohammed Taraki und Hafissullah Amin Afghanistan 1978 mittels
radikaler Reformen auf die Höhe des 20. Jahrhunderts bringen wollten. Es war der Anspruch, die
gesellschaftlichen Strukturen von innen revolutionär zu verändern – mit den falschen Mitteln, der
falschen Eile und den falschen Verbündeten, wie sich herausstellte. Der Versuch musste scheitern
und Afghanistan versank im Strudel einer Reaktion fundamentalistischer Mudshaheddin, die das
Land mit Hilfe der USA, Saudi-Arabiens und Pakistans ins frühe Mittelalter zurückkatapultierte.
Woher die Abneigung?
Nach dem 11. September 2001, als die USA binnen weniger Wochen Al Qaida und Taliban aus dem
Land vertrieben und auf dem Bonner Petersberg die Weichen für eine demokratische Zukunft
gestellt werden sollten, keimte bei vielen die Hoffnung auf eine Zukunft auf, die endlich Frieden und
Sicherheit versprach. Doch sechs Jahre später ist Afghanistan in den Status eines Protektorats,
einer Kolonie abgeglitten, aus dem derzeit niemand einen Ausweg weiß. Niemand kann die Frage
beantworten, die Nur al-Haq Ulumi, Abgeordneter der Nationalen Front und Vorsitzender des
Verteidigungsausschusses im afghanischen Parlament, stellte: Wie war es möglich, dass die USA
die Taliban 2001 in kürzester Zeit besiegen konnten, jetzt aber mit ca. 50 000 internationalen und ca.
50 000 afghanischen Soldaten nicht in der Lage sind, maximal 5000 Taliban in die Flucht zu
schlagen? Die Sympathie, mit der die USA-Truppen seinerzeit empfangen worden waren, ist tiefer
Abneigung gegenüber ihrem militärischen und politischen Auftreten und tiefem Misstrauen
gegenüber den strategischen Absichten gewichen.
Dieser Wandel dokumentiert sich in Sätzen wie: »Wir haben euch willkommen geheißen in unserem
Kampf gegen die Sowjets und die Taliban, wir haben aber nicht geahnt, dass ihr selbst
Sklavenhalter seid.« Diese Anspielung bezieht sich auf den aus den USA importierten Präsidenten
Hamid Karsai und die Clique, die er um sich versammelt hat. Sie rekrutiert sich aus den alten
Warlords und Drogenbaronen, die weithin als Banditen und Gauner bekannt sind und jedes
Vertrauen der Bevölkerung verloren haben.
Für den Kolonisierungsprozess und den Fehlschlag der Demokratisierung trotz eines Parlaments
und manch anderer neuer Institution macht man den Bonn-Prozess auf dem Petersberg
verantwortlich. Das Positive seines Ansatzes wird nicht verkannt, die Auswahl seiner Teilnehmer auf
afghanischer Seite aber, die weitgehend Minister Donald Rumsfeld und Botschafter Zalmay
Khalilzad angelastet wird, ist Gegenstand heftiger Kritik. Die demokratischen Kräfte hätten gegen die
alten kompromittierten Kriegsherren keine Chance gehabt, berücksichtigt zu werden. Karsai habe
zudem keine eigenen Anstrengungen gemacht oder machen können, sich von diesem zwielichtigen
Personal zu trennen, sondern im Gegenteil sich mit ihm verbündet.
Eine der eklatantesten Fehlentwicklungen, die die Gesellschaft wie ein Krebsgeschwür zersetzt,
steht in direktem Zusammenhang mit der zweifelhaften Umgebung Karsais: der exorbitante Anstieg
der Produktion von Schlafmohn und des Drogenhandels. Karsais Bruder selbst ist tief in diesen
Handel verstrickt. Alle Erörterungen über dieses Problem führen immer wieder zu dem Dickicht
personeller Verflechtungen, die auf Grund ihrer Reichweite bis in höchste Regierungsämter und
mangels einer effizienten Justiz als unauflösbar eingeschätzt werden. Selbst die US-amerikanischen
Flugstützpunkte sollen in den Transport der Drogen verwickelt sein. Niemand kann es beweisen,
aber allein das verbreitete Gerücht spricht nicht für ein allzu großes Vertrauen in die US-Truppen.
Opium ist die einzige erfolgreiche Produktion in diesem Land. Alles andere, was zum täglichen
Leben notwendig ist, kommt aus den Nachbarländern, legal oder auf Schmuggelpfaden. An dieser
billigen Konkurrenz scheitern bisher alle Versuche, eigene Produktionsstätten in nennenswertem
Ausmaß aufzubauen – und auch für den Mohnanbau gibt es keinen Ersatz.
Allmählich thematisieren auch deutsche Medien, was im Lande schon lange kritisiert wird: die
rücksichtslose Kriegsführung, die der Kultur der Stämme keine Achtung schenkt, die nicht zwischen
Zivilisten und Kämpfenden unterscheidet und sich immer wieder über Völkerrecht und Genfer
Konventionen hinwegsetzt. Es gibt keine wahrnehmbare Unterscheidung mehr zwischen dem
Antiterrorkampf der Operation »Enduring Freedom« (OEF) und den die Regierung stützenden
Aktivitäten der ISAF. Kürzlich wurden in der Provinz Paktia an der Grenze zu Pakistan mehrere
tausend OEF-Kämpfer in ISAF-Soldaten »verwandelt« – nicht weil es keine Aufgaben im
Antiterrorkampf mehr gab, sondern weil es sich im neuen Gewand offensichtlich besser arbeiten
ließ. Auch die viel beschworene Unterscheidung zwischen der Kriegsführung der Bundeswehr und
der US-Army verschwindet allmählich.
Die zentrale Frage ist nicht mehr, ob dieser Krieg gegen die Taliban gewonnen werden kann. Das ist
eine Illusion. Außer einigen Stimmen wie der des Abgeordneten Daoud Sultanzoy, der demnächst
eine private Fluglinie eröffnen will, findet man kaum noch Optimisten. Die zentrale Frage betrifft die
wahren Absichten der USA. Auch unter Afghanen hat sich die Ansicht verbreitet, dass ihr Land nur
ein Mosaikstein im amerikanischen Projekt des »Greater Middle East« ist. Darin geht es jetzt um
Iran, weswegen Afghanistan als östlicher Stützpunkt von gleichem strategischen Wert ist wie Irak im
Westen. Afghanistan ist ein weiteres Opfer im weltweiten Antiterrorkampf, genauer: ein
Kollateralschaden des weltweiten Kampfes um die knapper werdenden Energieressourcen. Für den
wurden bis 2006 knapp 90 Milliarden US-Dollar ausgegeben, davon 7,3 Milliarden für zivile Projekte.
Karsai aber ist für die USA nur tragbar, so lange er diese strategische Aufgabe erfüllt. Die
wachsende Kluft zur Bevölkerung und die neue Opposition, die sich in der Nationalen Front formiert
hat und Gelder u.a. aus Russland und Pakistan erhält, sind für ihn und die USA bedrohliche
Zeichen. Zwei Tage vor meinem Rückflug wurde einer meiner Gesprächspartner von einem USAGeneral
aufgesucht, der gerade in Begleitung eines ehemaligen Ministers der Kabuler Regierung
aus den USA gekommen war, um mit ihm über Karsais Zukunft zu sprechen. 2009 sind Wahlen und
Karsai will wieder kandidieren, doch bestehen begründete Zweifel, ob er dazu noch Gelegenheit
haben wird.
Keine Lehren aus Irak?
Was also kann ein Ausweg sein? Bestimmt nicht die Fortsetzung des Krieges, der sich immer mehr
dem irakischen Vorbild nähert. Bestimmt nicht die »Abfederung« und »Begleitung« durch zivile
Projekte in »befreiten Zonen«. Notwendig ist auch hier – früher als in Irak – die Erkenntnis, dass der
militärische Weg zu Staats- und Nationenbildung, zu Frieden und Demokratie eine Sackgasse ist
und im Krieg verkommt. Nicht nur, weil dieser Krieg gegen die Taliban militärisch nicht zu gewinnen
ist, sondern weil die Souveränität und die Selbstbestimmung des afghanischen Volkes zutiefst
verletzt, ja faktisch beseitigt worden sind. Der Widerstand ist schon lange kein religiösfundamentalistischer
mehr, sondern ein nationaler gegen die fremde Besatzung. Was 2001 noch als
Befreiung vom Terrorismus ausgegeben werden konnte, hat sich schon bald als Einrichtung eines
neuen Protektorats an der Ostflanke von »Greater Middle East« mit einer Scheinselbstständigkeit
entpuppt. Wer jetzt nicht daran geht, ernsthafte Pläne für den Abzug der Truppen gemeinsam mit
den Afghanen zu entwickeln, wird in der Spirale der militärischen Eskalation untergehen. Wer nicht
bereit ist, von Irak zu lernen, sollte noch einmal die Lektion studieren, die die Afghanen den
Sowjettruppen erteilt haben.
* Aus. Neues Deutschland, 13. Juni 2007
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