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Ohne Abzug kein Frieden

Einzige Option für Afghanistan: Nur ein Ende der NATO-Präsenz ermöglicht einen Wiederaufbau am Hindukusch. Die Linke stimmt Verlängerung des Bundeswehreinsatzes nicht zu

Von Norman Paech *

Am Freitag wird der Bundestag zum wiederholten Mal den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan verlängern – gegen die Stimmen der Linksfraktion. Es geht um den Einsatz im Rahmen der ISAF, der offiziell ein »sicheres Umfeld« für den Wiederaufbau und die Arbeit der Staatsorgane in Afghanistan schaffen soll. Die Verlängerung des anderen Mandats, welches die Bundeswehr am Antiterrorkampf der »Operation Enduring Freedom« (OEF) beteiligt, steht erst für den November an.

Immer mehr Fakten sprechen dagegen, daß das Militär in seinem kaum noch unterscheidbaren Auftritt als Sicherungs- und Antiterrorkampftruppe die Friedenshoffnungen wird erfüllen können. Der andauernde Guerillawiderstand und die sich ausdehnende Gegenwehr mit unkalkulierbaren Sprengstoffanschlägen haben allmählich irakische Ausmaße angenommen. Die Sicherheitslage hat sich drastisch verschlechtert. Die sogenannte zivil-militärische Kooperation, wie sie in dem ISAF-Einsatz erfolgt, hat eher die Arbeit der zahlreichen zivilen Hilfsorganisationen gefährdet und diskreditiert, als daß sie dem Militär geholfen hätte. Viele Hilfsorganisationen haben sich bereits zurückgezogen. »Afghanistan wird bald verloren sein«, prophezeite der bekannte US-Journalist Seymour Hersh bei seinem jüngsten Besuch in Berlin. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Afghanistan zusammenbrechen wird.«

Demgegenüber klammert sich die große Koalition von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Grüne immer noch an verschiedene Legenden, die jedoch immer brüchiger werden. Dazu gehört der Aufbau demokratischer Institutionen wie Wahlen, Parlament, Regierung und Justiz. Ein tieferer Blick in ihre inneren Strukturen läßt einen jedoch schaudern über das Ausmaß an Korruption, Patronage, Kriminalität und Machtlosigkeit, die alle Merkmale eines Vasallenregimes, aber nur wenige eines funktionierenden demokratischen und souveränen Staates aufweisen.

Eine weitere Legende ist die von der Verbesserung der Situation von Frauen. Die hat sich nach Einschätzung der afghanischen Frauenministerin Massouda Jallal in weiten Teilen des Landes deutlich verschlechtert. Menschenrechtsorganisa­tionen berichten über eine Analphabetinnenrate von nach wie vor über 90 Prozent, über steigende physische und psychische Gewalt gegen Frauen und sich häufende Suizidfälle.

Fiktion ist ebenfalls das »beträchtliche Wirtschaftswachstum«, welches die Bundesregierung gerne hervorhebt. Recht hat sie, wenn sie den Mohnanbau und den Opiumhandel meint, der mit jedem Jahr neue märchenhafte Zuwachsraten aufweist. Gleichzeitig wird verschwiegen, daß 90 Prozent aller Waren auf dem Markt aus Importen bestehen und die Steuer- und Zolleinnahmen des Staates unter fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes liegen. Afghanistan kann laut Bundesagentur für Außenwirtschaft »als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land.« Wir kennen dieses Modell und seine Folgen: die faktische Abwesenheit einer einheimischen Industrie, die Finanzierung aller investiven Staatsausgaben durch die internationale »Gebergemeinschaft« und chronischer Nahrungsmangel bei 70 Prozent der afghanischen Bevölkerung. Das ist das Bild der neuen Kolonie.

Zu den offensichtlichen Legenden gehört auch der von Afghanen in Führungspositionen behauptete Wunsch aller ihrer Landsleute, das Militär im Lande zu behalten. Auf meiner Reise im Juni dieses Jahres fand ich seine Bestätigung vornehmlich in der unmittelbaren Nähe der deutschen Botschaft. Je ferner meine Gesprächspartner der Regierung und Botschaft waren, desto mehr verwandelte sich dieser Wunsch in sein Gegenteil.

Was bleibt, sind Durchhalteparolen der Art: »Wir dürfen das Projekt der NATO jetzt nicht einseitig in Frage stellen und die Alliierten im Stich lassen.« »Wenn wir Afghanistan jetzt verlassen, werden Chaos und Gewalt über Afghanistan hereinbrechen.« Und: »Es ist unverantwortlich, den Abzug zu fordern, wenn man keine Alternativen vorschlägt.«

Gegen den ersten Einwand ist wenig zu sagen, wenn man sich wie alle anderen Fraktionen im Bundestag für die Bundeswehr als weltweit auftretende imperiale (Hilfs-)Ordnungsmacht entschieden hat. Der zweite Einwand provoziert die Frage: Was haben wir denn jetzt anderes als Krieg und Gewalt? Daß es dabei offenbar mehr Opfer der Taliban als der internationalen Truppen gibt, ist für die Opfer gleichgültig. Entscheidend aber ist, daß mit dem Abzug der Truppen das Hauptziel der Angriffe und des Widerstandes nicht mehr vorhanden ist und damit auch die Zahl der zivilen Opfer sinken wird.

Der dritte Vorwurf einer mangelnden Alternative ist grundsätzlicher – zugleich aber auch demagogisch. Denn der Abzug der Truppen und der Verzicht auf die militärische Einrichtung und Durchsetzung einer neuen Gesellschaftsform, ob Demokratisierung oder »Nation building« genannt, ist bereits der entscheidende Ausgangspunkt für eine Alternative. Sie besteht in der Wiederherstellung der Souveränität eines Landes und des Rechts auf Selbstbestimmung einer Bevölkerung, die auf den Status eines kolonialen Protektorats herabgesunken sind. Wer nicht sieht, daß der Krieg in Afghanistan in die »Greater Middle East«-Strategie der USA eingebettet ist und auf machtpolitischen, geostrategischen und energiepolitischen Interessen aufbaut, hat von dem ganzen Geschehen zwischen Bagdad und Kabul keine Ahnung. Es geht um die Sicherung von Stützpunkten, Rohstoffquellen sowie Transportwegen in Zentralasien und nicht um die Wiederherstellung von Souveränität und Selbstbestimmung der Afghaninnen und Afghanen. Was uns als »Krieg gegen den Terror« und zur Einführung der Demokratie verkauft wird, droht sich jetzt weiter auszudehnen gegen Iran, den letzten Stein im Nah- und Mittelostmosaik der USA.

Zur Souveränität gehört die Integration aller gesellschaftlichen Kräfte in den Neuaufbau des Staates, wozu auch der Dialog mit den Gruppen gehört, die durch die USA und ihre Verbündeten zu den heute relevanten gesellschaftlichen Kräften gemacht worden sind: die Mudschaheddin und Taliban. Es ist durchaus nachvollziehbar, daß jemand durch seine eigene Geschichte und frühen Fehler gepeinigt wird. Aber nach der gescheiterten Invasion der Sowjets in Afghanistan knapp dreißig Jahre später die Fortsetzung der scheiternden Intervention der ehemaligen Gegner USA und NATO zu fordern, ist eine bizarre Lehre.

Der Wiederaufbau muß von innen aus der Gesellschaft und ihren demokratischen Kräften selbst geleistet werden. Dafür bedarf es viel Zeit und Unabhängigkeit, aber keiner internationalen Truppen. Afghanistan im Jahre 2001 war nicht Deutschland im Jahr 1945 und ist es auch nicht in den letzten sechs Jahren geworden. Deswegen muß das Militär das Land verlassen, ehe Afghanistan vollends zusammenbricht.

* Der Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.

Aus: junge Welt, 11. Oktober 2007



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