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Es gibt keine militärische Lösung - Militär raus aus Afghanistan und Beendigung der Besatzung

Von Prof. Dr. Norman Paech *

In Afghanistan ist mit militärischen Mitteln kein Frieden erreichbar. In dem nunmehr seit 6 Jahren wütenden Krieg in Afghanistan haben weder die Operation Enduring Freedom (OEF) noch die International Security Assistance Force (ISAF) ihre Ziele „Terrorismusbekämpfung“ bzw. „Wiederaufbau“ und „Herstellung von Sicherheit“ erreicht: Terroristische Gruppen sind so stark wie nie zuvor und tagtäglich liefern sich diese mit den internationalen Truppen blutige Kämpfe, deren Opfer zunehmend auch Zivilisten und Zivilistinnen werden. Statt der Schaffung eines sicheren Umfeldes für den Wiederaufbau, zentrales proklamiertes Ziel, deutet alles auf eine weitere Verschlechterung der Sicherheitslage hin. Der Wiederaufbau kommt, von einigen Vorzeigeprojekten abgesehen, nur sehr schleppend voran.

Die Regierung Karzais hat es nicht vermocht, ihren Einfluss über die Grenzen Kabuls auszudehnen, was auch unmittelbar auf ihre Entstehungsgeschichte zurückzuführen ist. Bei der Bevölkerung büßt sie zunehmend an Akzeptanz ein, da die geschaffenen staatlichen Institutionen weder physische Sicherheit noch ökonomische und politische Teilhabe der Menschen garantieren können.

Die ausländischen Truppen werden zunehmend als Besatzer empfunden, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Dabei wird von der afghanischen Bevölkerung nicht mehr zwischen OEF und ISAF unterschieden, nicht zuletzt deshalb, weil diese Trennung in der Praxis der Militäreinsätze sukzessive aufgelöst wurde. Die zivile Aufbauhilfe gerät im Zuge dessen wortwörtlich vermehrt unter Beschuss und auch in Zukunft muss mit hohen Opferzahlen auf allen Seiten gerechnet werden. Darüber hinaus stellt die Vermischung des heute völkerrechtswidrig geführten militärischen Kampfeinsatzes der OEF mit dem ISAF-Einsatz eine Uminterpretation des ISAF-Mandats dar, womit ISAF zunehmend in deutliche Nähe zur Völkerrechtswidrigkeit gerät.

Das Fazit ist, dass die internationale Gemeinschaft in Afghanistan mit ihrer Strategie gescheitert ist. Deshalb ist eine sofortige und grundlegende Neuausrichtung der Afghanistanpolitik erforderlich, die der Zerstörung des Landes und seiner Menschen ein Ende setzt.

DIE LINKE. im Bundestag ist die einzige Fraktion im deutschen Parlament, die sich ausdrücklich für eine friedensorientierte zivile deutsche Außenpolitik einsetzt. Die Durchsetzung politischer Interessen mit militärischen Mitteln wird von uns strikt abgelehnt. DIE LINKE. fordert die sofortige Beendigung des im Namen der Terrorismusbekämpfung geführten Kriegs in Afghanistan. Sie ist überzeugt davon, dass es keine militärische Lösung für Afghanistan gibt und Frieden und Wiederaufbau nur mit politischen und zivilen Mitteln zu erreichen sind. Deshalb wird die Fraktion DIE LINKE. auch die bevorstehende Verlängerung der Bundeswehrmandate ISAF und OEF für den Krieg in Afghanistan ablehnen und geschlossen mit NEIN stimmen.

I. OEF ist gescheitert

1. Zielsetzungen

Der Auftrag der Operation Enduring Freedom lautet: "Diese Operation hat zum Ziel, Führungsund Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten."

Seit dem 16. November 2001 beteiligt sich die Bundeswehr an OEF. Am 10. November 2006 verlängerte der Deutsche Bundestag das Mandat zum fünften Mal und mandatierte 1.800 Soldaten/-innen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beteiligt sich Deutschland mit 300 Soldaten, einer Fregatte und zwei Bordhubschraubern an OEF am Horn von Afrika. Eine Beteiligung an Einsätzen im Rahmen OEF in Afghanistan soll derzeit nicht stattfinden. Insgesamt sind zur Zeit 10.000 Soldaten/-innen unter OEF im Einsatz.

Die sechste Verlängerung des Mandates der Bundeswehr durch den Deutschen Bundestag steht im kommenden Monat, Mitte November an.

2. Völkerrechtliche Grundlagen

Der UN-Sicherheitsrat hat zu keinem Zeitpunkt der OEF ein Mandat erteilt, allerdings das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 UNO-Charta anerkannt. Am 02.Oktober 2001 beschloss der NATO-Rat, dass die Terrorangriffe als Angriffe auf alle Bündnispartner der NATO im Sinne der Beistandsverpflichtung des Art. 5 des Nordatlantikvertrages zu betrachten seien („Bündnisfall“). Der Zustand der Selbstverteidigung dauert allerdings nur so lange „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“ (Art. 51 UN-Charta). Abgesehen davon, dass der Sicherheitsrat bereits am 28. September 2001 eine Resolution mit umfangreichen Empfehlungen zum Anti-Terror-Kampf verabschiedet hat, schuf er mit einer Kapitel VII Resolution am 20. Dezember 2001 das multinationale Kommando der International Security Assistance Force ISAF. Damit endete die Legitimation eigenständiger „Verteidigungsmaßnahmen“ der USA und ihrer Verbündeten.

Allerspätestens aber mit der Ausdehnung des ISAF-Einsatzes über Kabul hinaus auf ganz Afghanistan im Oktober 2003 (Res. 1510/2003) hat OEF seine völkerrechtliche Grundlage vollends verloren. Die Tatsache, dass seitdem alle ISAF-Resolutionen bis hin zur jüngsten vom 19.09.07 die ISAF zur Koordination mit der OEF auffordern und diese nicht in Frage stellen, bedeutet allerdings nicht, dass OEF nunmehr auch über ein Mandat des Sicherheitsrats verfügt. Es bedeutet nur, dass der Sicherheitsrat offensichtlich die völkerrechtliche Legitimation der Selbstverteidigung auch im sechsten Jahr immer noch für gegeben hält. Diese Ansicht lässt sich allerdings nicht mit Art. 51 UNO-Charta vereinbaren, an den auch der Sicherheitsrat als politisches Gremium gebunden ist.

Bereits die Auftragsformulierung von OEF birgt die Gefahr einer hohen Zahl ziviler Opfer, da „Terroristen“ anders als Angehörige von Militärs meist nicht unmittelbar von der Zivilbevölkerung unterscheidbar sind. Die tatsächliche Praxis der Militäroperationen von OEF nimmt Opfer unter der Zivilbevölkerung billigend in Kauf und verstößt damit gegen die Genfer Abkommen von 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte, in dessen Zusatzprotokoll dem Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität eingeräumt wird (Art 51, 43. I. Zusatzprotokoll von 1976). Erwiesen ist jetzt auch, dass die US-Truppen bei ihren Kampfeinsätzen Splitterbomben und angereichertes Uran verwenden. Das sind Waffen, die zwar nicht ausdrücklich verboten sind, deren Wirkungen auf die Zivilbevölkerung jedoch gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Uranangereicherte Munition hat unkontrollierbare radioaktive und toxikologische Wirkungen auf Menschen, Tiere und die Umwelt, führt zu nicht reparablen Schäden an der Erbsubstanz und als Schwermetall zu schwerwiegenden tödlichen Vergiftungen.

3. Situation in Afghanistan

Der "Krieg gegen den Terror" der OEF hat Terrorismus und al-Qaida nicht beseitigt, sondern sowohl die Sicherheitslage in Afghanistan drastisch verschlechtert als auch die Terrorgefahr in den USA und Europa erhöht. Gezeigt haben dies nicht zuletzt die Anschläge in diversen europäischen Ländern. Es gibt weder Belege noch Indizien für die Annahme, dass der OEFEinsatz Anschläge verhindert hat. Der „Abschreckungseffekt im Unterstützerumfeld terroristischer Gruppen und Einzeltäter“, mit dem die Bundesregierung in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage zum Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von OEF argumentiert, führt also eher zum Gegenteil.

Al-Qaida hat sich heute wieder gut erholt, nachdem sie 2002 fast zerschlagen war, und ist weiträumiger vernetzt denn je.

Ebenfalls hat die „Bekämpfung des harten Kerns terroristischer Kräfte in dieser Region (Afghanistan, N.P.) durch die OEF“, mit dem der letzte Antrag der Bundesregierung vom 25.10.2006 zur Verlängerung von OEF begründet wurde, es nicht erreicht, die „militanten Oppositionskräfte“ zu besiegen. Im Gegenteil, durch die offensiven Einsätze der Anti-Terror- Einheiten gibt es mittlerweile viele zivile Opfer, was dazu geführt hat, dass Taliban und al-Qaida weiteren Zulauf erhalten haben. Nur begründet dieses eskalierende Kriegsszenario in Afghanistan und Pakistan keine Verteidigungslage gem. Art. 51 UNO-Charta für die USA und die BRD.

II. ISAF ist gescheitert

1. Zielsetzungen

Laut Antrag der Bundesregierung hat auch noch im Jahre 2006 der „ISAF-Einsatz (…) unverändert das Ziel, Afghanistan bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit so zu unterstützen, dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen und anderes internationales Zivilpersonal, insbesondere solches, das dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgeht, in einem sicheren Umfeld arbeiten können.“

ISAF wurde ursprünglich geschaffen, um die Afghanische Interimsverwaltung bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung zu unterstützen. In den folgenden Jahren wurden die Zielsetzungen sukzessive geografisch und inhaltlich ausgeweitet. So erfolgte 2003 die Ausweitung des ISAF-Einsatzgebiets auf ganz Afghanistan. Dabei wurde die Truppenstärke von etwa 9 000 Soldaten um etwa 7 000 Soldaten auf insgesamt 16.000 erhöht. Die Truppenstärke der ISAF wird derzeit mit 39.500 Soldatinnen und Soldaten angegeben. Die Bundeswehr ist z.Zt. mit knapp 3000 Soldaten und 6 RECCE-Tornados beteiligt.

In dem aktuellen Antrag der Bundesregierung vom 19.09.07 zur Mandatsverlängerung von ISAF heißt es in der Begründung des Antrags, dass die vorrangigen Ziele des Einsatzes Stabilisierung, Wiederaufbau und die Entwicklung Afghanistans blieben. Ferner wird formuliert, dass Afghanistan nicht erneut zum Rückzugs- und Regenerationsraum des internationalen Terrorismus werden dürfe.

2. Völkerrechtliche Grundlagen

Die 2001 durch die UN-Resolution 1386 geschaffene International Security Assistance Force ISAF basiert auf einem Mandat nach Kapitel VII der UN-Charta. Zunächst nur für 6 Monate mandatiert, wurde der Einsatz damit begründet, dass „die Situation in Afghanistan eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ darstelle. In weiteren UNResolutionen wurde diese Begründung bis heute wiederholt und ISAF zur Unterstützung des Wiederaufbaus in Afghanistan regelmäßig neu mandatiert und sukzessive auf ganz Afghanistan ausgeweitet (z.B. UN-Resolution 1510). Die letzte UN-Resolution 1776 vom 19.09.2007 gibt ISAF für weitere 12 Monate das Mandat.

3. Situation in Afghanistan

Die ISAF als „zivil-militärisches“ Engagement zur Absicherung und Stabilisierung des Friedensprozesses in Afghanistan ist gescheitert. Sie konnte erwartungsgemäß nicht zur Lösung der komplexen Probleme des Landes beigetragen und ist vielmehr schon lange selbst Teil des Problems geworden.

3.1 Das zivil-militärische Konzept ist zum Scheitern verurteilt

a) Seit Mitte der 1990er Jahre gewinnt die Civil-Military Cooperation CIMIC in der Einsatzplanung der NATO-Streitkräfte zunehmend an Bedeutung. CIMIC steht für die Interaktion zwischen zivilen und militärischen Akteuren und für den Versuch, durch intensive Kontakte mit der Bevölkerung, durch kurzfristige humanitäre Hilfeleistungen und Wiederaufbauhilfe die Akzeptanz der Truppen vor Ort zu stärken und damit die Gefahr von Anschlägen auf die Streitkräfte zu verringern. Dieser Ansatz steht im Widerspruch zu den Grundsätzen internationaler humanitärer Hilfe: Das Militär hat einen politischen Auftrag und ist nicht neutral und wird auch nicht als neutral wahrgenommen. Aktivitäten der Streitkräfte sind unvereinbar mit den Prinzipien Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit, die das Fundament jeglicher humanitären und zivilen Hilfe sind. Zudem sind Soldaten i.d.R. nicht ausreichend qualifiziert, um zivile Projekte in krisen – und kriegserschütterten Ländern kompetent durchzuführen.

In Afghanistan sind die negativen Konsequenzen des im ISAF-Mandat angelegten zivilmilitärischen Ansatzes deutlich erkennbar. Aufgrund der engen Anbindung humanitärer und ziviler Organisationen an die militärischen Strukturen (Bereitstellung von Infrastruktur, Vermittlungstätigkeiten, Bereitstellung von Geldern) sind diese Organisationen für die Bevölkerung häufig nicht mehr eindeutig von den militärischen Einheiten zu unterscheiden. Zivile Akteure büßen somit Anerkennung und ihre Neutralität ein und werden selbst zum Ziel von Anschlägen. Zahlreiche Hilfsorganisationen haben deshalb ihre Arbeit nicht mehr oder nur noch stark eingeschränkt weiterführen können und sich aus Afghanistan zurückziehen müssen.

b) Provincial Recontruction Teams (PRTs) werden in ihrer Bedeutung überschätzt, da die Einführung von PRTs zur Sicherheit und Stabilisierung in Afghanistan ebenfalls so gut wie nichts beigetragen hat. Die Ausgaben für die zivile und militärische Komponente sind auch hier einseitig zugunsten des Militärs verteilt (z.B. beim PRT Kundus in 2004 im Verhältnis 1:5). Es gibt bisher keine Analysen, die den Erfolg, der den PRTs immer wieder unterstellt wird, untermauern.

3.2 Die Vermischung von ISAF und OEF

Dass ISAF immer weniger in der Lage ist, für Sicherheit zu sorgen, lässt sich u.a. auf die sukzessive Veränderung der Mandatsinterpretation zurückführen.

Seit Oktober 2003 ist ISAF formal für die Unterstützung der afghanischen Regierung in Gesamtafghanistan zuständig. Nachdem die NATO bereits im August des gleichen Jahres die Führung der ISAF -Mission übernommen hat, begann sukzessive die Ausweitung der militärischen Kontrolle durch Aufstellung der ersten Regionalkommandos im Norden und Westen sowie dem Einsatz weiterer PRTs. Mit der Übernahme des Kommandos über die USamerikanischen OEF-Soldaten im Osten Afghanistans am 5.10.2006 wurde auch de facto die Zuständigkeit von ISAF über das ganze Land hergestellt. Im Zuge dessen wurde die enge Verbindung zwischen ISAF und OEF-Antiterroreinsatz erheblich verstärkt. ISAF übernahm in Teilen die Rolle, Vorgehensweise und Aufgaben der OEF, so auch die aktive Bekämpfung von Aufständischen. Ferner gewährten sich beide Militäroperationen immer häufiger bei Bedarf gegenseitig Luftnahunterstützung.

Auch die neue Kommandostruktur des ISAF-Headquarters spiegelt die Vermischung der Mandate wider: Der Kommandeur der OEF-Truppen in Afghanistan ist zugleich Chef des Regionalkommandos Ost der ISAF. Der gesamte Flugbetrieb über Afghanistan wird von der USBase in Katar koordiniert. Für internationale Beobachter ist „Die scheinbar eindeutige Trennung (…) in eine sicherheitsschaffende und terrorismusbekämpfende Operation (…) sachlich länger nicht aufrechtzuerhalten.“

ISAF mutiert so von der ursprünglich vorgesehenen „Schutztruppe“ immer mehr zur Kampftruppe und hat dazu beigetragen, die Sicherheitslage im Süden und Osten weiter zu destabilisieren. Mittlerweile ist allerdings auch eine Verschlechterung der Sicherheitslage im relativ ruhigen Norden zu beobachten. ISAF ist zunehmend (mit-) verantwortlich für die steigende Zahl von zivilen Opfern. Insgesamt wird für das Jahr 2006 von 4000 Toten ausgegangen, darunter seien mindestens 1000 Zivilisten. Laut einer Meldung des ARD-Korrespondenten Heinzle gehen die toten Zivilisten, Soldaten und Talibankämpfer überwiegend auf Kämpfe mit ISAF-Beteiligung zurück. Im Oktober 2007 sind laut Meldungen der Presseagenturen bereits 5000 Tote zu beklagen.

In Abgrenzung zur OEF bezeichnet sich die ISAF nach wie vor als Friedenseinsatz bzw. Stabilisierungsmission. Die Bundesregierung betont immer wieder, dass die rechtliche und operative Trennung zwischen ISAF und OEF unverändert fortbestünde. Während das ISAFMandat zwar die Terrorismusbekämpfung ausschließt, erlaubt es aber explizit die Bekämpfung sog. "Aufständischer", unter die gemäß des deutschen UN-Sondergesandten für Afghanistan Tom Koenigs auch der Widerstand gegen die Anwesenheit ausländischer Truppen gehört. Spätestens seit der Süd- und Ostausweitung kämpfen die beiden Truppen Hand in Hand, die einen gegen "Aufständische" (ISAF), die andere gegen "Terroristen".

3.3 ISAF ist gescheitert, ein sicheres Umfeld für den Wiederaufbau in Afghanistan zu schaffen

Entgegen der zentralen Zielsetzung, durch ISAF ein „sicheres Umfeld“ für den Wiederaufbau zu schaffen, hat sich der Krieg ausgeweitet und die Sicherheitssituation im Land dramatisch verschlechtert.

Die Zahl der Selbstmordanschläge, Attentate und militärischen Angriffe durch Taliban und andere bewaffnete Gruppen ist in den letzten zwei Jahren erheblich gestiegen. Nachdem im Sommer 2006 die NATO-Truppen mit der „Operation „Medusa“ ihren Einsatz auch auf die umkämpften Teile Süd- und Ostafghanistans ausweiteten, sind die Auseinandersetzungen eskaliert. Die ISAF ist seitdem im ganzen Land an massiven Militäroperationen, insbesondere auch an Luftangriffen, beteiligt.

Von 2005 auf 2006 hat sich die Zahl der Selbstmordattentate fast verfünffacht (27 auf 139), die der Bombenanschläge verdoppelt (783 auf 1677) und die direkten Angriffe auf die westlichen Truppen haben sich nahezu verdreifacht (1588 auf 4542). Es ist davon auszugehen, dass sich die Angriffe auf die ISAF in 2007 noch weiter intensiviert haben, da selbst die Bundesregierung in ihrer Antwort vom August 2007 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. einen „Anstieg sicherheitsrelevanter Zwischenfälle“ feststellt.

3.4 ISAF ist gescheitert, weil sie ein System sichert und schützt, das der Entwicklung effektiver und demokratischer staatlicher Strukturen entgegensteht

a) Entgegen der Propaganda der Bundesregierung ist die Entwicklung effektiver und demokratischer staatlicher Strukturen nach 6 Jahren Engagement ausgeblieben. Zwar gibt es jetzt ein Parlament und eine gewählte Regierung, aber die Autorität der Regierung Hamid Karzais reichte von Anfang an kaum über Kabul hinaus („Bürgermeister von Kabul“). Der Machtverfall hält ungebrochen an und die Unterstützung der Regierung durch die eigene Bevölkerung geht zunehmend verloren.

Hieran hat auch die Internationale Gemeinschaft maßgeblich eine Mitverantwortung, weil sie die in Afghanistan durchaus vorhandenen demokratischen Kräfte nicht zur Petersberger Konferenz einlud und Karzai als Kandidaten massiv unterstützte. Seine von ihm gebildete Regierung ist zwar formal demokratisch legitimiert, wird aber als Vasall der Internationalen Gemeinschaft betrachtet.

Auch ist es mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass der gesamte Regierungsapparat und das Parlament tief in Korruption verstrickt sind. Alte Kriegsfürsten und Drogenbarone haben Sitze im Parlament erhalten (z.B. Quasim Fahim, Mohammed Ismael Chan) und in den meisten Regionen haben sie ihren Einfluss und ihre informelle Kontrolle verstärken können. Kriegsmilizen, Drogenmafia und Mujaheddin werden von hier aus der Rücken freigehalten. Karzais Patronagesystem, das dieser unter den Augen der internationalen Gemeinschaft erschaffen konnte, konterkariert den Aufbau demokratischer staatlicher Institutionen fundamental. Die Verabschiedung des Amnestiegesetzes für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in den beiden Kammern des Parlaments und seine Unterstützung durch Karzai machen unmissverständlich deutlich, das die Macht der regionalen Kriegsherren ungebrochen ist. Die Aufstellung einer Auxiliary National Afghan Police (ANAP) im Süden und Osten Afghanistans, deren Personal sich aus lokalen Milizen rekrutiert und nicht direkt der Polizei untersteht, droht das staatliche Gewaltmonopol weiter zu schwächen. Der Entwaffnungsprozess der illegal bewaffneten Gruppen (DIAG) wird nur zaghaft umgesetzt.

Von Anfang an war im Falle Afghanistan nicht die Herstellung von Souveränität und Selbstbestimmung der afghanischen Bevölkerung das zentrale Interesse der Interventionen. Der Krieg in Afghanistan ist in die „Greater Middle East-Strategie“ der USA eingebettet und auf machtpolitische, geostrategische und energiepolitische Interessen zurückzuführen. Es geht um die Sicherung von Stützpunkten, Rohstoffquellen sowie Transportwegen in Zentralasien und es steht zu befürchten, dass sich dieser Krieg weiter ausdehnen wird. Die Kriegsdrohungen gegen Iran sind mittlerweile deutlich wie nie zuvor.

Vieles spricht für die These, dass sie aus strategischen Gründen Afghanistan neben Irak zu einem Hauptstützpunkt im Mittleren Osten machen wollen. Britische Quellen sprechen neuerdings von einer 40-jährigen Präsenz.

Das Konzept, ein Land durch massive militärische und politische Besetzung zur Demokratisierung zu verhelfen und die Chance zum „nation-building“ zu geben, ist ein koloniales Konzept und endet in einem Protektorat, nicht aber in einem unabhängigen demokratischen Staat.

b) ISAF hat nicht dazu beitragen können, die Situation von Frauen zu verbessern. Der gegen die Taliban geführte Krieg wurde insbesondere in der deutschen Öffentlichkeit durch die Aussicht auf eine Befreiung afghanischer Frauen von deren Unterdrückung legitimiert. Zwar sind Frauen und Männer verfassungsrechtlich jetzt gleichgestellt, leider wird aber noch keine Gleichstellung praktiziert. Ähnlich verhält es sich mit dem verhältnismäßig hohen Anteil von Frauen im Parlament. Demokratische Kräfte wie beispielsweise Malalai Joya beschreiben, dass Parlamentarierinnen vor den Wahlen insbesondere von fundamentalistischen Strömungen in den Wahlkampf einbezogen wurden, um die Frauenquote zu verbessern. M. Joya hat uns detailliert darüber berichtet, dass sich für die meisten Frauen ihre reale Lebenssituation nicht wirklich verbessert hat. Eine fortdauernde militärische Besetzung hat zur Folge, dass Frauen und Mädchen verstärkt (nicht nur) häuslicher psychischer und physischer Gewalt ausgesetzt sind. Von 3674 Frauen aus Kabul, die für eine Studie der Caritas Deutschland 2004 im Hinblick auf ihre Lebenssituation und die ihrer Familien interviewt wurden, waren 91% des Lesens und Schreibens unkundig. Die Mütter-Sterblichkeit ist nach wie vor eine der höchsten in der Welt. Auch nach Einschätzung der afghanischen Frauenministerin Dr. Massouda Jallal hat sich in weiten Teilen des Landes die Lage von Frauen deutlich verschlechtert. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage tragen Frauen wieder vermehrt die Burka. Alle diese Entwicklungen werden durch den ISAF-Einsatz eher befördert, da ISAF-Truppen auch mit Kriegsfürsten zusammenarbeiten, deren Umgang mit Frauen sich wenig von denen der Taliban unterscheidet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommt zu dem Schluss, dass Frauenrechte in Afghanistan von den truppenstellenden Regierungen nur noch nachrangig behandelt werden.

c) Zu einem effektiven und demokratischen Staat gehört auch die Sicherstellung einer eigenständigen ökonomischen Entwicklung, die den Menschen eine Lebensgrundlage verschafft. Die Bundesregierung führt an, dass in Afghanistan ein „beträchtliches Wirtschaftswachstum“ zu verzeichnen sei: Seit 2001 stiegen die Exporte um 10 - 30 % jährlich an. 2005 habe Afghanistan Waren im Wert von 570 Millionen ausgeführt (vor allem Teppiche und Trockenfrüchte). Dabei wird allerdings verschwiegen, dass 90 % der Waren auf dem afghanischen Markt aus Importen bestehen. Die Zoll- und Steuereinnahmen des afghanischen Staates im Haushaltsjahr 2004/05 betrugen mit ca. 200 Mio US-$ nur 4,5 % des BIP und praktisch alle investiven Staatsausgaben werden derzeit durch die internationale Gebergemeinschaft finanziert.

In Afghanistan wird eine „offene“ Wirtschaft implementiert. Die Wirtschaftsreformen des Landes, (z.B. sog. Investitionsschutzabkommen) sind alle davon gekennzeichnet, dass sie einem extrem neoliberalen Modell folgen. So bescheinigt die Bundesagentur für Aussenwirtschaft in ihrem Jahreswirtschaftsbericht zu Afghanistan für 2004/2005: Das Land, „ kann als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber als die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land.“ Dass der Aufbau solch eines Wirtschaftssystems und die damit einhergehende langfristige Besetzung zentraler Teil-Ökonomien der Volkswirtschaft durch Ausländer von den Afghaninnen und Afghanen tatsächlich gewollt wird, ist anzuzweifeln.

Nach wie vor sind 70% der Afghaninnen und Afghanen chronischem Nahrungsmangel ausgesetzt, vor allem im Süden des Landes. ¼ der Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Die humanitäre Lage hat sich mit der Ausweitung der Kämpfe drastisch verschlechtert, auf dem Land ist die Grundversorgung nicht mehr gewährleistet.

Eines der grundlegendsten Probleme in diesem Zusammenhang ist, dass 80 % der afghanischen Wirtschaft mit der Schlafmohnproduktion verknüpft sind und schätzungsweise 13 % der Gesamtbevölkerung (2006) im Drogenanbau beschäftigt sind. Nach Angaben des United Nations Office on Drugs and Crime ist die Anbaufläche für Schlafmohn in Afghanistan in den letzten Jahren dramatisch angestiegen, allein zwischen 2005 und 2006 um 59 Prozent. Afghanistan stellt 92% der gesamten Weltproduktion von Opium. Solange keine ökonomischen Alternativen und legale Erwerbsquellen existieren, werden die Afghanen/-innen zum Überleben ihrer Familien weiterhin den illegalen Anbau von Schlafmohn für die Opiumproduktion betreiben.

Forderungen
  • Sofortiger Abzug aller ausländischen Truppen. Das neueste Konzept zivil-militärischer Sicherung behindert den zivilen Wiederaufbau und ist Teil des Sicherheitsproblems.
  • Wiederherstellung der Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Afghaninnen und Afghanen. Dazu gehört auch der Verzicht auf Fremdbestimmung des politischen und ökonomischen Systems.
  • Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten Infrastruktur und Wiederaufnahme derEntwicklungshilfeprojekte.
  • Aufnahme eines innerafghanischen Dialoges mit allen gesellschaftlichen Kräften.
  • Einführung eines Programms zur Durchsetzung der Resolution 1325 (2000): Systematische und umfassende Beteiligung von Frauen bei der Förderung von Frieden und Sicherheit, bei der Beendigung des Krieges sowie der Bewältigung der Kriegsfolgen
  • Internationale Hilfe bei der nichtmilitärischen Drogenbekämpfung und der Etablierung alternativer „Rohopium“-Märkte
  • Evaluation des gesamten ISAF-Einsatzes. Vorlage einer Evaluation des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen von ISAF durch die Bundesregierung
Berlin, den 10.10.2007 Dr. Norman Paech

* Wichtiger Hinweis:
Dieses Papier von Dr. Norman Paech, dem Außenpolitischen Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, ist eine Vorarbeit für eine ausführliche Broschüre des Arbeitskreises VI Internationale Politik der Fraktion DIE LINKE. zum Themenkomplex Afghanistan. Die Broschüre wird spätestens Ende des Jahres 2007 erscheinen und eine umfassende, kritische Reflexion der Konsequenzen der letzten sechs Jahre der Kriegseinsätze ISAF und OEF, an denen auch die Deutsche Bundeswehr beteiligt ist, zum Gegenstand haben.


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