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"Der zivile Aufbau muss zum Zentrum der politischen und finanziellen Anstrengungen werden"

Bericht über eine Informationsreise nach Afghanistan. Von Dr. Norman Paech

Vom 6. bis 16. April 2009 habe ich im Namen der Fraktion eine Informationsreise nach Afghanistan unternommen. Ausgangspunkt war Kabul, weitere Stationen waren die nordafghanische Stadt Kunduz und die zentralafghanische Provinz Bamyan.

Vor genau zwei Jahren war ich in Kabul, in Gardez, der Hauptstadt der Provinz Paktia an der Grenze zu Pakistan und in der sich nördlich an Kabul anschließenden Provinz Parwan gewesen. Beide Reisen dienten dem gleichen Ziel, mich über die soziale, politische und militärische Situation in diesem seit mittlerweile 30 Jahren sich im Krieg befindlichen Land zu informieren. Jetzt, bald acht Jahre nach der Entsendung von US- und NATO-Truppen an den Hindukusch, stellt sich immer noch unverändert die Frage, ob die Forderung unserer Fraktion, das deutsche Truppenkontingent aus Afghanistan abzuziehen, angesichts der Entwicklungen im Land und im Nachbarland Pakistan, aufrecht zu erhalten ist. Dazu habe ich – vorbereitet durch die MdB Mitarbeiter/innen Mechthild Exo und Florian Horn, vermittelt durch die Deutsche Botschaft in Kabul und unterstützt durch meine Dolmetscherin Tamina Safia Qasi sowie umfassend geschützt durch neun Mitarbeiter des BKA – eine Vielzahl von Gesprächen mit zahlreichen afghanischen und deutschen Persönlichkeiten geführt. (vgl. Namensliste im Anhang).

Die folgenden Anmerkungen fassen die Erkenntnisse aus diesen Gesprächen zusammen.

Zur sozialen und ökonomischen Situation

Afghanistan ist ein Land im Krieg. Dies merkt man allerdings in den Städten und Gebieten, in denen Ausländer sich bewegen können, nicht. Die Straßen und Märkte sind belebt. Armut war immer ein sichtbares Element des Straßenbildes und der neue Reichtum aus den zweifelhaften Quellen des Krieges und der ausländischen „Hilfe“ wird in einer bemerkenswerten privaten Bautätigkeit in „pakistanischem Barock“ zur Schau gestellt. Die Afghanen selbst können weitgehend ungehindert im Land reisen, ausgenommen unmittelbare Kampfzonen, zumeist im Süden und Osten des Landes. Was man nicht sieht, sind die ständigen und sich jetzt im Frühling sowie im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen verstärkenden Anschlags- und Terrordrohungen. Sie richten sich insbesondere gegen ausländische Einrichtungen, was diese, wie z.B. die Deutsche Botschaft oder das Hotel Serena, in dem ich untergebracht war, inzwischen mit festungsähnlichen Absicherungen beantworten.

Aus allen Gesprächen wird deutlich, dass sich die Lebenssituation der Afghaninnen und Afghanen in manchen Bereichen und Aspekten seit 2001 verbessert hat, was vor allem in den beiden englischsprachigen Tageszeitungen „Daily Outlok Afghanistan“ und „Afghanistan Times“ hervorgehoben wird. Die Fülle an geplanten, begonnenen oder abgeschlossenen Projekten, die dort vorgestellt werden, könnte den Eindruck „blühender Landschaften“ hervorrufen. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass die Bevölkerung, die zu 85 % auf dem Lande lebt, in vielen Teilen des Landes unter der schärfsten Armut seit Dekaden leidet. Jeder zweite Afghane gilt als arm, d.h. lebt unter der Armutslinie. Gut 20 % der ländlichen Bevölkerung konsumiert weniger als 2.070 kal/Tag, das UNOMinimum liegt bei 2.200 kal/Tag, acht Millionen Menschen leiden Hunger. Die Kinder und Müttersterblichkeit ist nach wie vor eine der höchsten in der Welt und die durchschnittliche Lebenserwartung ist mit 46 Jahren zwanzig Jahre kürzer als die in den Nachbarstaaten. 80 % der toten Kinder unter fünf sind auf Grund vermeidbarer Krankheiten gestorben und die UNO hat schon vor einigen Jahren über 500.000 behinderte Waisen geschätzt. Nur 25 % der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser. Armut zeigt sich jedoch nicht nur in den Kategorien von Einkommen und Versorgung, sondern auch in den psychischen und allgemein gesundheitlichen Verwüstungen, die der Krieg in diesen Jahrzehnten unter den Menschen angerichtet hat. Die männliche Bevölkerung ist dezimiert, es gibt Millionen von Witwen und viele der oft traumatisierten Kinder haben die Stelle der Ernährer einzunehmen und sind froh, wenn sie fünf Cent in der Stunde verdienen.

Die Arbeitslosigkeit der arbeitsfähigen Bevölkerung liegt bei über 40 %. Es gibt so gut wie keine Industrie, die den täglichen Lebensbedarf decken könnte. Alles wird aus den Nachbarländern importiert. Die Politik des offenen Marktes bietet keinen Schutz, unter dem sich eine einheimische Industrie entwickeln könnte. Nur Brot, Gemüse und Obst stammen aus heimischer Produktion. Selbst Trockenfrüchte, ein traditionelles Exportgut, werden billig nach Pakistan verkauft, da es im Lande keine Lagerungsmöglichkeiten gibt. Zu vielfach höheren Preisen werden sie später nach Afghanistan reimportiert. Die einstmals blühende Baumwollindustrie der Spinzar-Fabriken, die nicht nur ihren Firmengründer Nasher, sondern auch die Region um Kunduz wohlhabend gemacht hat, ist angesichts der ungebremsten Konkurrenz aus China und Indien chancenlos, die kümmerliche Produktion mit einem vierzig Jahre alten Maschinenpark am Leben zu erhalten, geschweige denn wiederaufzubauen. Versuche des Enkels, staatliche Unterstützung zu erhalten, sind fehlgeschlagen.

Der einzig blühende Produktionssektor ist nach wie vor der Mohnanbau. Selbst wenn die UNO angibt, dass der Anbau im vergangenen Jahr um 19 % gefallen sei und jetzt 20 der 34 Provinzen Mohn-frei seien, so erreichte die Jahresernte 2008 immer noch 8.200 Tonnen (nach afghanischen Angaben, die UNO gibt 7.700 Tonnen an), 80 % aus der Provinz Helmand. Für dieses Jahr wird in Afghanistan eine Rekordernte von Rohopium von über 9.000 Tonnen erwartet. Mit dem Drogengeld werden nicht nur die neuen Villen und Landcruiser bezahlt, sondern auch der Waffennachschub finanziert. Zudem schätzt die UNO inzwischen über eine Million Drogenabhängige. Die Vermutungen, dass die ausländischen Truppen in der einen oder anderen Form am Drogenhandel beteiligt sind, beruhen zwar nicht auf konkreten Beweisen, bilden aber selbstverständlichen Teil eines jeden Gesprächs.

Vor allem die entlegenen Regionen wie z.B. Bamyan (in Europa bekannt wegen der von den Taliban zerstörten Buddah-Statuen aus dem 5. Jhdt.) leiden unter extremer Vernachlässigung. Obwohl heute eine der sichersten Provinzen, wo die Taliban keine Unterstützung in der schwer heimgesuchten Bevölkerung finden, hat sich hier in den 40 Jahren, seitdem ich sie besucht habe, kaum etwas geändert. Das liegt zum einen an der mangelnden Anbindung an die knapp 200 km entfernte Hauptstadt Kabul – für den Landweg benötigt man über acht Stunden beschwerliche Autofahrt. Es gibt nur zwei km asphaltierte Straße in der Provinz, der kleine Flugplatz ist eine Schotterpiste. Zum anderen spielt die traditionelle Diskriminierung der chiitischen Hazara-Bevölkerung in Bamyan vor allem durch die Pashtunen immer noch eine Rolle.

Bamyan hat, ähnlich wie das Swat-Tal in Pakistan, großes touristisches Potential. Die Region ist gerade zum Nationalpark gewidmet worden, ohne dass daraus konkrete Projekte oder finanzielle Zuwendungen folgen. Die Aga Khan-Stiftung möchte hier Öko- Tourismus entwickeln, dessen Chancen jedoch von der Gesamtsituation des Landes abhängen. Einige wenige internationale NGO sind mit kleineren Projekten engagiert. Die Provinz verfügt zudem über abbaubare Vorkommen an Kohle, Eisen und Kupfer. Über die Vergabe der Lizenzen zur Ausbeutung wird derzeit in Kabul beraten und ohne Mitwirkung der Provinzregierung entschieden. Zudem ist bemerkenswert, dass es in dem Gebiet trotz seiner Armut und Abgelegenheit keinen Mohnanbau und keine Drogenproduktion gibt.

Die größte Gefahr droht von den jeweils im Frühjahr von Pakistan aus aufbrechenden Kuchi, die ihre traditionellen Weidegründe in der Bamyan-Provinz aufsuchen. Diese Nomaden, überwiegend Pashtunen, haben sich in den letzten Jahren mit schwerem Gerät bewaffnet und terrorisieren die Bauern vor Ort, zerstören ihre Häuser, töten das Vieh und vertreiben die Einwohner. Das provoziert zunehmend militärische Reaktionen der ansässigen Bevölkerung und die Drohung, sich wieder zu bewaffnen, nachdem man zuvor weitgehend die Waffen abgegeben hatte. Die Provinzgouverneurin Hababi Sorabi und der Provinzrat erkennen die gewohnheitsrechtlichen Weiderechte durchaus an, finden derzeit aber keine Unterstützung bei der Regierung in Kabul, die Nomaden zu entwaffnen. Denn auch sie, ca. 40 000 Familien in Afghanistan, klagen über die Nichtbeachtung ihrer Rechte und drohen mit Wahlverweigerung bei den Präsidentschaftswahlen am 20. August. Das kleine Provincial Reconstruction Team (PRT) der Neuseeländer in Bamyan hält sich ebenfalls zurück, nur das Büro der United Nation Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) beobachtet die Situation sehr genau und entwickelt Aktivitäten zur Verhandlung und Gewaltprävention zwischen den Nomaden und Bauern.

Das Beispiel Bamyan zeigt sehr deutlich das Dilemma zwischen sozialer und ökonomischer Entwicklung sowie militärischer Sicherheit. Trotz der weit verbreiteten These, dass Sicherheit die Voraussetzung für Entwicklung sei, wird dort, wo Sicherheit besteht, faktisch nichts für die Entwicklung getan. Nur dort, wo militärische Kämpfe die Sicherheit gefährden, wird mit Entwicklungsprojekten versucht, die Situation zu stabilisieren. Dieses Konzept der zivil-militärischen Zusammenarbeit hat bisher jedoch seine Tauglichkeit nicht bewiesen. Im Gegenteil: Etliche zivile Projektträger haben in den letzten Jahren ihre Hilfe eingestellt, weil die Instrumentalisierung des humanitären Mandats durch das Militär eine unabhängige Hilfe nicht mehr gewährleistet. Der „Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.“ (VENRO) hat deshalb schon 2007 Kritik an der militärischen und strategischen Dominanz dieses Konzeptes geäußert, in dem die humanitäre Hilfe „im Windschatten militärischer Interventionen“ sich einzuordnen hat. Im Februar 2009 hat der Verband erneut die zivilmilitärische Zusammenarbeit in Form der PRTs abgelehnt und eine strikte Trennung von militärischen Aktionen und humanitärer Hilfe, Wiederaufbau und Entwicklungszusammenarbeit gefordert. „Durch die Vermischung von humanitärer Hilfe und militärischen Zielen“ gerieten „Hilfsorganisationen in den Sog des allgemeinen Vertrauensverlustes der afghanischen Bevölkerung.“ Folgerichtig haben mir die „Welthungerhilfe“ und der „Afghanische Frauenverein“ der Provinz Kunduz einen Besuch ihrer Projekte verweigert, weil dieser Besuch nach Maßgabe des PRT auf Grund der verstärkten Angriffe auf der Strecke nach Taloqan nur mit Bundeswehrfahrzeugen möglich gewesen wäre. Die Organisationen akzeptieren jedoch keine öffentliche Verbindung zum Militär, da diese wiederum ihre eigene Sicherheit gefährden könne.

Zur politischen Situation

Eines der größten Probleme des Landes ist nach wie vor die Korruption – sowohl Ursache wie auch Folge der desolaten Situation. Von den 15 Mrd. Euro, die seit 2001 in das Land geflossen sind, weiß niemand so richtig, wo sie geblieben sind. Die Korruption wird inzwischen offen von Präsident Hamid Karzai eingeräumt und ihre Bekämpfung versprochen. Dabei hat gerade die Regierung wegen ihrer weitgehenden Unfähigkeit und Korruption nur noch geringe Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung. Ausgenommen sind nur wenige Minister, wie etwa der Minister für höhere Bildung Azam Dadfar und der Außenminister Rangin Spanta. Selbst der Drogenhandel ist bis in die höchsten Spitzen der Regierung vertreten.

Auch die demokratische Legitimierung von Warlords, Kriegsverbrechern und Drogenbaronen durch ein Mandat im Parlament erzeugt starke Kritik und Abneigung gegen diese Institution. Der Versuch, die einstigen Kriegsverbrecher durch ein Amnestiegesetz vor gerichtlicher Verfolgung zu schützen, ist vorerst an der allgemeinen Empörung im Lande und am internationalen Druck gescheitert. Das Gleiche gilt für das gerade von Karzai unterzeichnete Familiengesetz für die schiitische Bevölkerung, das den Status der Frauen noch weiter ins Mittelalter zurückversetzen wollte. Die gängigen Interpretationen, dass Karzai entweder das Gesetz nicht gelesen habe oder damit die schiitischen Stimmen für seine Wahl im August einwerben wollte, sprechen beide gleichermaßen für das geringe noch verbliebene Ansehen von Regierung und Parlament. Karzai ist offensichtlich von einer kleinen Gruppe fundamentalistischer Mullahs umgeben, die für diesen Gesetzentwurf verantwortlich ist. Das Gesetz wird von den Hazara in ihrer großen Mehrzahl abgelehnt.

Auch die dritte demokratische Institution, die Justiz, um deren Aufbau sich die westlichen Staaten bemühen, steht unter dem Generalverdacht der Korruption und Mittäterschaft. Die Social Association of Afghan Justice Seekers (SAAJS) sammelt seit einiger Zeit Zeugnisse und Beweise für die Verbrechen, die durch das Auffinden immer neuer Massengräber ans Tageslicht kommen. Nicht nur die ca. 65 000 Toten, die auf das Konto der Mujaheddin-Führer Gulbuddin Hekmatyar und Burhanuddin Rabbani während ihrer Besetzung Kabuls kommen, sondern auch zahlreiche Morde in den Jahren davor unter sowjetischer Besatzung und danach z.Zt. der Taliban sind gerichtlich nicht aufgearbeitet. Die Association misstraut der afghanischen Justiz jedoch derart tiefgreifend, dass sie die gesammelten Beweise, zu denen fast täglich mehr kommen, dem Internationalen Strafgericht (ICC) in Den Haag für die notwendigen Anklagen vorlegen wollen. Sie werden dabei von italienischen Kollegen unterstützt.

Die Präsidentschaftswahlen im August 2009 bieten in den Augen der meisten meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nur wenig Alternativen zu Karzai. Die weiteren pashtunischen Kandidaten Ex-Finanzminister Anwar-ul Haq Ahadi, Ex- Innenminister Ali Ahmed Jalali, Ex-Finanzminister Ashraf Ghani Ahmadzai und Ex- Außenminister Abdullah Abdullah entstammen alle derselben Regierung und haben den gleichen US-amerikanischen Hintergrund. Dasselbe gilt für den ehemaligen amerikanischen Botschafter in Afghanistan und bei der UNO Zalmay Khalilzad. Dem Hazara Ramazan Bashardost, Abgeordneter des Parlaments und ebenfalls ein Ex- Minister, der jedoch die Regierung Karzai scharf kritisiert, werden allenfalls Außenseiterchancen eingeräumt. Derzeit haben 70 Kandidaten ihren Anspruch auf das Amt angemeldet. Die Hoffnungen auf einen Wechsel der Politik und eine größere Unabhängigkeit der Regierung von den USA sind gering.

Zur militärischen Situation

Es wird inzwischen selbst von den USA eingeräumt, dass der Widerstand im Lande nicht militärisch zu besiegen ist. Diese Ansicht wird von der ISAF in Kunduz geteilt. Man hat sich von der Vereinfachung getrennt, jeden Widerstand den Taliban zuzuschreiben und diese mit den Pashtunen zu identifizieren. Man spricht deshalb von „insurgency“ und „Insurgenten“. Sie sind in den sog. Konfliktregionen allgegenwärtig und unberechenbar. Während meines nur kurzen Aufenthaltes im deutschen Camp in Kunduz wurden fünf Raketen auf das Camp abgefeuert, ohne allerdings größeren Schaden anzurichten. Zugleich griffen afghanische Truppen mit deutscher Unterstützung Widerstandsgruppen nördlich von Kunduz an. Die deutschen Soldaten verlassen nur noch in gepanzerten Militärfahrzeugen das Camp, ihre Dingos sind weithin sichtbare Ziele und werden immer wieder angegriffen.

Die jüngsten Berichte in deutschen Zeitungen, dass die Bundeswehr die Taliban aus dem Distrikt Chardara westlich von Kunduz vertrieben habe, basieren offensichtlich auf Wunschvorstellungen. Ein Lehrer aus Chardara, der die Schule verlassen hat und jetzt mit der „Cooperation for Peace and Unity“ (CPAU) in Kunduz zusammenarbeitet, berichtete, dass die Taliban nach wie vor in Chardara präsent seien und den Besuch der Schule bedrohen. Begonnen habe die prekäre Situation vor zwei Jahren, als die USAmerikaner mit Panzern und deutscher Unterstützung in Chardara eingerückt seien. Seitdem habe sich die Sicherheit drastisch verschlechtert.

US-Spezialtruppen der OEF führen übrigens immer wieder militärische Aktionen im Operationsgebiet der deutschen ISAF aus, ohne vorher die deutsche Führung zu unterrichten. Der neue Kommandeur der ISAF, Oberst Georg Klein, will das zwar mit den US-Amerikanern besprechen, sieht aber offensichtlich keine Möglichkeit, diese Interventionen in Zukunft zu verhindern. Das Ansehen der deutschen Truppen in der afghanischen Bevölkerung ist nicht nur dadurch rapide gesunken und sinkt nach Auskunft meiner Gesprächspartner immer weiter. Ausdruck dieses Vertrauensverlustes ist die Tatsache, dass sich die Soldaten nicht mehr auf den Märkten, in den Straßen oder bei den beliebten Reiterspielen „Buskashi“ frei bewegen können.

Der „Obama-Surge“, der die US-amerikanischen Truppen um bis zu 30.000 neue Soldaten verstärken soll, wird vom deutschen Militär in Kunduz einhellig begrüßt und als wirksame Maßnahme eingeschätzt. Die zusätzlichen Truppen werden zudem eine erhebliche Aufstockung des Waffenpotentials an Panzern, Hubschraubern, Drohnen, Geschützen etc. mit sich bringen. Von meinen afghanischen Gesprächspartnern hat dies niemand als sinnvoll und erfolgversprechend beurteilt. Der Oberkommandierende der US-amerikanischen Truppen, Michael Mullen, sieht selber ein „sehr aktives Jahr“ voraus, in dem die Gewalt und das Blutvergießen sich erheblich steigern werden. Dennoch ist die militärische Aufrüstung für ihn eine notwendige Voraussetzung für die Verbesserung der Sicherheit in den nächsten zwölf Monaten. Die Taliban haben bereits das Gegenteil angekündigt, und nichts deutet darauf hin, dass das leere Sprüche sind. Die Eskalation ist damit vorprogrammiert.

Eine starke Bedeutung bei der Einschätzung der militärischen Lage hat in allen Gesprächen die Rolle Pakistans gespielt. Die pashtunischen Grenzgebiete, die sog. Federal Administered Tribal Areas (FATA) im Westen Pakistans werden allgemein als gefährliche Rückzugs-, Flucht- und Rekrutierungsgebiete aller möglichen Widerstandsgruppen angesehen. Ihre Kontrolle gilt als entscheidend für die zukünftigen Kämpfe. Das Vordringen der Anschläge bis in die großen Städte destabilisiert das ohnehin labile politische System Pakistans zusehends und schwächt die Möglichkeiten der Regierung, der Taliban Herr zu werden. Der engste Verbündete der USA im Antiterrorkampf ist nun selbst Opfer der Kräfte, die er einst mit Unterstützung der USA selbst aufgebaut und ins Nachbarland geschickt hat. Jetzt haben sich auch noch zwei ehemalige Gegner, Mullah Omar, Führer der afghanischen Taliban mit Sitz im pakistanischen Quetta, und Beitullah Mehsud, Führer der pakistanischen Taliban, ausgesöhnt und verbündet. Vor diesem Hintergrund werden keine Hoffnungen in die Aktivitäten der pakistanischen Regierung und der USA in dieser Region gesteckt. Im Gegenteil, die Abmachung mit Maulana Sufi Mohammad im Swat-Tal, die den Frieden gegen die Einführung der Scharia erkaufen soll, wird auch in Afghanistan überwiegend abgelehnt. Der Preis eines mittelalterlichen Rechts, welches insbesondere die Rechte der Frauen drastisch beschneidet, erscheint den meisten zu hoch und das Friedensversprechen zu vage. Dennoch werden Kontakte zu den Taliban vielfach als notwendig angesehen. Senator Bakhtar Aminzay, Vorsitzender der Nationalen Friedens Jirga, die 2008 in Kabul, Nangarhar und Mazar-i-Sharif große Friedensversammlungen veranstaltet hat und demnächst eine weitere in Khost plant, befürwortet derartige Kontakte, die im übrigen bereits mit der Regierung stattgefunden haben. Nicht zu überhören sind jedoch auch Stimmen, die die Taliban nicht an einer Regierung beteiligen wollen.

Schlussfolgerungen

Der ehemalige Ingenieur Aziz Rafiee, seit einigen Jahren Leiter des „Afghan Civil Society Forum“ (ACSF), einer Dachorganisation zahlreicher Nichtregierungsorganisationen, benennt fünf tiefgreifende Krisen der gegenwärtigen afghanischen Gesellschaft: Die größte Krise sei der Mangel an Vertrauen, der alle Teile der Gesellschaft, selbst seine Organisation ergriffen habe. Die zweite Krise sei das Fehlen einer Identität, die Menschen wüssten nicht, wer sie seien, die Gesellschaft sei vollkommen gespalten und fragmentiert. An dritter Stelle stehe die Armut, die der Grund für alle derzeitigen Übel in Afghanistan sei. An vierter Stelle komme die Krise der Rechtsstaatlichkeit (rule of law), es gebe kein Vertrauen in das Recht, die Gesetzgebung und die Justiz. Erst an fünfter Stelle erwähnt er den Krieg, die militärischen Auseinandersetzungen mit den Aufständischen und die Anwesenheit der ausländischen Truppen. In der einen oder anderen Form haben diese Probleme in allen Gesprächen eine Rolle gespielt.

Weitgehende Einigkeit besteht auch in der Befürchtung, dass bei einem sofortigen Abzug der ausländischen Truppen ein Bürgerkrieg in der polarisierten Gesellschaft ausbrechen werde, ein Abzug daher nicht ratsam sei. Diese Ansicht war bei allen meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, ob afghanisch oder deutsch, vorherrschend. Nur wenige Stimmen, so die von der aus dem Parlament wegen ihrer offenen Kritik ausgeschlossenen Malalai Joya und der Vorsitzenden der SAAJS, Weeda Ahmand, und des Besitzers der Spinzar-Fabriken Feraidun Nasher, plädieren für den Abzug der ausländischen Truppen. Zum einen schätzen sie die zu erwartenden Auseinandersetzungen als nicht derart gewaltsam und die Wiederkehr der gefürchteten Taliban-Herrschaft als nicht sehr wahrscheinlich ein. Zum anderen sind sie der Ansicht, dass eine weitere längere Besatzung durch ausländische Truppen die Gewalt eskalieren lasse und zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft führen werde, die eine spätere Versöhnung noch viel schwieriger machen werde.

Keine akzeptable Alternative zur Forderung nach Abzug der Truppen

Trotz der unbestreitbaren Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen nach Abzug der ausländischen Truppen sehe auch ich nach wie vor keine akzeptable Alternative zur Forderung nach Abzug der Truppen.

Das Beispiel Bamyan macht deutlich, dass bei einem geschlossenen Widerstand der Bevölkerung die Taliban keine Chance haben, wieder die Herrschaft zu übernehmen. Zudem zeigt die offene Zurückweisung des Shia-Familiengesetzes durch die shiitische Bevölkerung, dass fundamentalistische Projekte in der afghanischen Bevölkerung keine Basis haben. Der Islam war in Afghanistan historisch immer liberal und weltoffen.

Bald acht Jahre Krieg gegen die Taliban haben weder die ökonomische und soziale Situation der Menschen noch die allgemeine Sicherheitslage verbessert. Im Gegenteil, selbst im ursprünglich ruhigen Norden nehmen die Überfälle und Anschläge zu und die Armut der ländlichen Bevölkerung hat katastrophale Ausmaße angenommen. Nichts deutet trotz der vielen Projekte auf eine durchgreifende Besserung der Lage hin. Die neuerliche Verstärkung der US-Truppen ist mit der Ankündigung weiterer Gewalteskalation verbunden. Gleichzeitig ist kein Konzept in Sicht, wie man dem Nachschub des Widerstandes aus Pakistan Herr werden will. Die Armut und die Perspektivlosigkeit der Jugend, die immer wieder als die Quellen der Taliban- Rekrutierung genannt werden, sind nicht mit militärischen Mitteln zu beheben, selbst wenn sie mit zivilen Projekten garniert werden.

Projekt „Greater Middle East“

Hinzu kommt die Erfahrung aus meinen Gesprächen, dass sich auch in Afghanistan immer mehr die Erkenntnis verbreitet, dass die USA ihren Anti-Terrorkampf vornehmlich unter dem bereits von Zbigniew Brzezinski skizzierten und von der Bush-Administration vorangetriebenen Projekt des „Greater Middle East“ führen. D.h. dass es um die strategische Eingliederung der Staaten des Nahen und Mittleren Ostens in ihr Interessen- und Einflusskonzept geht, das in erster Linie durch die immer noch reichsten Erdöl- und Gasressourcen bestimmt ist. Afghanistan spielt dabei nicht als Ressourcenlieferant eine Rolle. Wohl aber hat es als Transferland für die aus den zentralasiatischen Nachbarländer zu transportierenden Öl- und Gasvorräte sowie wegen seiner Nähe zu China und seiner langen Grenze mit dem Atomstaat Pakistan eine strategisch wichtige Rolle.

Keine meiner afghanischen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner erwartet von der neuen Obama-Administration, dass sie die alte Strategie tatsächlich substanziell ändern und die Truppen in den nächsten Jahren abziehen wird. Sie werde vielmehr ihre Stützpunkte in Shindan nahe der iranischen Grenze, Bagram im Zentrum und Kabul (zur Zeit soll dort für 700 Millionen Euro der Flughafen ausgebaut werden), um ihre Position in der gesamten Region zu festigen.

Das Beispiel des Irak-Krieges und die Einrichtung eines Protektorats dort wirken insoweit überzeugender als die Bekenntnisse zu einer sog. „Afghan Ownership“. Es gibt Stimmen, die dies als Besatzung und koloniales Protektorat kritisieren, andere, die die Truppen als Schutz vor den Taliban begrüßen. Einig sind sie sich nur in der Einschätzung, dass diese Situation auch in den nächsten Jahren weiter andauern wird.

Die Wiederherstellung der afghanischen inneren und äußeren Souveränität ist nach allem nur mit einer durchgreifenden Änderung der gegenwärtigen Strategie zu realisieren, die ohne den Abzug der Truppen nicht zu erreichen ist. Der zivile Aufbau muss zum Zentrum der politischen und finanziellen Anstrengungen werden. Die freiwerdenden Finanzmittel können eingesetzt werden, um die Armut zu überwinden, Handwerk und Industrie aufzubauen und um die landeseigenen Ressourcen auszubeuten.

Derzeit ist die Hilfe in zahlreichen Projekten einer unübersehbaren Anzahl von Nichtregierungsorganisationen aus aller Herren Länder aufgesplittert. In Kunduz mussten die Vertreterinnen und Vertreter von BMZ, GTZ und DED einräumen, dass man dabei den wichtigsten Sektor, die Förderung der Landwirtschaft, bisher vergessen habe. Dem wollen sich jetzt die Italiener widmen.

Allerdings werden noch so viele Projekte und Finanzmittel nur wenig zur Überwindung der Armut beitragen können, wenn nicht gleichzeitig das neoliberale Konzept der absoluten Marktfreiheit, in dem staatliche Regeln zum Schutz des Aufbaus heimischen Handwerks und Industrie nichts zu suchen haben, aufgegeben wird. Mohnfelder können zwar vom Militär zerstört werden, Arbeitsplätze entstehen dadurch jedoch nicht. Neue Produktionsstätten, die Arbeitsplätze schaffen, benötigen nicht nur Geld. Vor allem müssen sie staatlich gefördert und vor ausländischer Konkurrenz geschützt werden.

Der Abzug der deutschen Bundeswehr, immerhin die drittgrößte Truppe im Land, wäre hier der entscheidende Beitrag, um aus dem Teufelskreis der Gewalt und Armut auszubrechen. Es wäre ein wichtiges Signal, dass die Strategieänderung, von der die Bundesregierung derzeit spricht, nicht nur leere Rhetorik ist.

Hamburg, den 29.4.2009

Liste der Gesprächspartner/innen Liste der Gesprächspartner/innen

  • Dr. Christian Buck, Geschäftsträger a.i., Botschaftsrat
  • Simone Stemmler, Politische Referentin
  • Dr. Philip Wendel, Kulturreferent
  • Leeda Yaqoobi und Saifora Barekzai, Afghan Women’s Network (AWN)
  • Dr. Bakhtar Aminzay und Naqibulla Shorish, Nationale Friedens-Jirga
  • Dr. Alema, Ibrahim Arify, Nicole Birtsch, Henrik Rüskamp, DED Friedensfachkräfte
  • Masood Karokhail, The Liaison Office TLO, Kabul
  • Aziz Rafiee Afghan, Civil Society Forum ACSF, Kabul
  • Dr. Azam Dadfar, Hochschulminister
  • N.N., „Fighting for Peace“ Frauen-Projekt, Kabul
  • Malalai Joya, Mitglied des Parlaments, suspendiert
  • Yaqub Ibrahimi und Frau Jean MacKenzie Journalist, Programme Director, Institute for War & Peace Reporting
  • Weeda Ahmand Social Association of Afghan Justice Seekers SAAJS, Kabul
  • Prof. Dr. Wadir Safi Direktor, Independent National Legal Education Center INLTC, Kunduz
  • Oberst Georg Klein, Kommandant ISAF Kunduz
  • Hermann Nicolai, Zivile Führung des PRT Kunduz
  • Torge Matthiesen BMZ, Kunduz
  • Feraidun Nasher, Sohn des Gründers der Spinzar Cotton Fabrik, Kunduz
  • Khaled Qazi, Dolmetscher bei ISAF, Kunduz
  • Hababi Sorabi, Gouverneurin der Provinz Bamyan
  • Walter Osenberg, Welthungerhilfe Taloqan
  • Amir Foladi, Aga Khan Foundation, Bamyan
  • Mirwais Wardak, Cooperation for Peace and Unity CPAU
  • Dr. Ihsan Ullah Shahir, Gesundheitsdirektor der Provinz Bamyan



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