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Afghanistan-Konferenz: Eine ernüchternde Bilanz nach einem Jahr Krieg

Aufrüstung ist das Gebot der Stunde - Wie fest sitzt Karsai im Sattel?

Die Folgekonferenz auf dem Bonner Petersberg sollte wohl ein günstiges Bild über die Entwicklung in Afghanistan zeichnen. Bundesaußenminister Fischer wollte ein wenig Glanz in die baufällige Regierungshütte leiten, indem er den Krieg "Enduring Freedom" sowie die Aufbauleistung und die internationale Solidarität herausstrich. Wider Willen kam es anders. Die Bilanz, die gezogen wurde - teilweise allerdings nur zwischen den offiziellen Verlautbarungen - war ernüchternd. Nach einem Jahr Krieg ist außerhalb der Hauptstadt Kabuls - jenes UNOtops, das sich die internationale Gemeinschaft einiges kosten lässt - kein Problem gelöst. Am selben Tag, als die -vereinzelten - Damen und Herren von dreißig Delegationen bei Bonn in ihren Statements den Fortschritt im Land priesen, spielten sich in Afghanistan etwas andere Szenen ab. Davon berichteten die Nachrichtenagenturen am 2. Dezember u.a.:
"Die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und einer paschtunischen Miliz in Herat im Westen Afghanistans dauerten auch am Montag an. Der paschtunische Milizenführer Amanullah Khan sagte, seine Kämpfer hätten einen Angriff der Truppen von Gouverneur Ismail Khan nahe Serkoh zurückgeschlagen. Das berichtete die in Pakistan ansässige afghanische Nachrichtenagentur AIP."

Entsprechend verhalten gerieten denn auch die bestellten Jubelartikel. Die Deutsche Presseagentur (dpa) meldete u.a.:
"Nur für fünf Stunden versammelten sich Delegierte aus 32 Ländern zur Folgekonferenz auf dem Petersberg, um eine Halbzeitbilanz des mit Milliarden Dollar finanzierten Wiederaufbaus Afghanistans zu ziehen. Diese Bilanz fiel ernüchternd aus. Das Land am Hindukusch wird weiter von Kämpfen rivalisierender Provinzfürsten heimgesucht, der Drogenanbau floriert wie zur Taliban-Zeit, viele Mädchen dürfen immer noch nicht zur Schule gehen. Karsai zog die Augenbrauen hoch, als Bundeskanzler Gerhard Schröder Gleichberechtigung für die Frauen in Afghanistan einforderte. Unter den etwa 40 Teilnehmern der Konferenz, die in alphabetischer Reihenfolge der Länder um den runden Tisch saßen, war nur eine Hand voll Frauen."
Die Unterrepräsentanz der Frauen ist aber nicht nur ein Problem Afghanistans. Denn die Teilnehmer aus den 32 Staaten waren vor allem Außenminister Außenminister der Nachbarstaaten Afghanistans sowie der USA, Russlands, Japans und der europäischen Staaten.

"Der Wille zum Aufbau eines demokratischen Staates ist bei Karsai gewiss da. Doch der Paschtune Karsai, der von vielen nur als 'Bürgermeister von Kabul' gesehen wird, muss gegen Widerstände von Islamisten, Kriegsherren und Clans kämpfen. Vielleicht spielte Karsai deshalb seinen wichtigsten Trumpf nicht in Kabul, sondern tausende Kilometer entfernt im Westen aus, der schützend seine Hand über ihn hält."

Statt von den zivilen Aufbauleistungen zu schwärmen, herrschte strenges militärisches Kalkül. Ins Zentrum rückte die Aufrüstung. So veröffentlichte der afghanische Präsident Hamid Karsai fern von seinen Gegnern und Feinden einen Erlass zum Aufbau einer afghanischen Nationalarmee aus 70.000 Soldaten. dpa meldete: "Bis in die Nacht vor der Konferenz war offensichtlich um diesen Erlass gerungen worden. Denn erst kurz vor dem Auftritt Karsais wurde die entscheidende Passage in seine Rede eingefügt." Die 32 Länder, die sich zur Konferenz einfanden, haben sich das sicher anders vorgestellt. Nach den hoffnungsvollen Signalen des vergangenen November und Dezember (Sturz des Taliban-Regimes, Befreiung der Frauen von der Burka und was dergleichen damals noch durch die Medien spukte) meinte man insgesamt etwas weiter zu sein, als nun erst einmal mit Waffen und Soldaten jene Kriegsherren in Schach zu halten, die seinerzeit in der Nordallianz geholfen hatten, die Taliban zu vertreiben. Doch was sein muss, muss sein. "Der Aufbau der Nationalarmee", so meldet dpa weiter, "wird von der Staatengemeinschaft begrüßt". Die kümmerte sich auch wenig um die inneren Kämpfe in Kabul, wo die von Tadschiken beherrschte Regierung mittlerweile höchst umstritten ist. Ohne die internationale Sicherungstruppe der Vereinten Nationen (ISAF) wäre schon längst wieder Krieg ausgebrochen.

Unzufrieden mit dem Armee-Erlass, so heißt es bei dpa, dürfte der afghanische Verteidigungsminister Mohammed Fahim sein, der nicht mit zum Petersberg kam. "Der Tadschike Fahim soll im Begriff sein, eigene Truppen aufzubauen. Eigene bewaffnete Verbände haben auch zahlreiche regionale Warlords in Afghanistan, die per Karsai-Erlass nun ihre Waffen abgeben sollen. Karsai wird zum Oberbefehlshaber der Nationalarmee, die mit Hilfe der Amerikaner aufgebaut wird und den Einflussbereich des Präsidenten über Kabul hinaus ausbauen dürfte."

Afghanistan bekommt eigene Streitkräfte

Mit dem schnellen Aufbau einer nationalen Streitmacht sollen in Afghanistan die Voraussetzungen für einen sicheren und stabilen Wiederaufbau geschaffen werden, kündigte der afghanische Präsident Hamid Karsai am 2. Dezember 2002 auf der Konferenz als wichtigstes nächstes Ziel seiner Übergangsregierung an. Er habe soeben ein entsprechendes Dekret unterzeichnet. Genau ein Jahr nach den Petersberger Beschlüssen zum Wiederaufbau sagte die "internationale Gemeinschaft" - in dem Fall waren es 32 Länder - weitere Unterstützung zu, forderte aber auch eigene Anstrengungen der Regierung in Kabul. Bundeskanzler Schröder, der die Konferenz insgesamt etwa eine halbe Stunde besuchte, betonte, der Wiederaufbau und die Befriedung des weiter von Kämpfen heimgesuchten Landes sei eine "langwierige Aufgabe, die uns allen Geduld und nachhaltiges Engagement abverlangt". Er rief die Parteien und Volksgruppen auf, Zwietracht und Machtkämpfe zu überwinden. In der neuen Verfassung müsse die Unabhängigkeit der Justiz, die Gleichberechtigung aller Volksgruppen und der Frauen verankert werden. "Sie können sich auf unsere Solidarität und Hilfe verlassen", sagte Schröder.

Und Bundesaußenminister Joschka Fischer, der Gastgeber und Leiter der Konferenz, setzte noch eins darauf, als er sagte: "Es geht hier um nichts Geringeres als um den Kampf der zivilisierten Welt gegenüber dem internationalen Terrorismus." Und er versprach: Ohne internationale Hilfe werde Karsai seine Arbeit nicht zu Ende führen können. "Afghanistan muss weiter ganz oben auf unserer Prioritätenliste stehen." Noch sei die Gefahr islamistischen Terrors in Afghanistan nicht gebannt. In die Befriedungs- und Wiederaufbaustrategie müssten auch die Provinzen einbezogen werden. Die Staatengemeinschaft sei entschlossen, den Friedensprozess zu einem internationalen Erfolg werden zu lassen.

Der Präsident warb für seine Armee. Die neue Nationalarmee werde "klein, effektiv und gut bezahlt sein" sowie unter ziviler Kontrolle stehen, sagte er. Die Rede war von 70.000 Soldaten. Sowohl der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, als auch Außenminister Fischer finden Gefallen am Aufbau dieser Armee. Fischer sagte, sie sei ein "entscheidender Beitrag" für Frieden und Stabilität. Zugleich bekräftigte er, es werde keine Ausweitung des Mandats der internationalen Schutztruppe in Afghanistan (ISAF) über die Region Kabul geben. Es gebe aber andere Überlegungen. Welche das seien, blieb zunächst unklar.

Verfassung

Bis Ende 2003 soll die Große Ratsversammlung (Loja Dschirga) nach Worten des amtierenden Präsidenten Karsai eine neue Verfassung ratifizieren. "Administrative und finanzielle Reformen werden einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung von Sicherheit leisten", sagte Karsai. Wichtig sei aber auch die Schaffung einer vertrauenswürdigen nationalen Polizei. Eine Fachtagung mit afghanischen und internationalen Experten legte der Konferenz eine Empfehlung für eine demokratische Verfassung vor, die auch islamische Werte und Traditionen der Stammesgesellschaft einbezieht. Besonders müsse der Zugang der Frauen zum politischen und wirtschaftlichen Leben sowie die Pressefreiheit gesichert werden. Nicht nur dies ist aber in Afghanistan höchst umstritten. Unter den Afghanen brach heftiger Streit darüber aus, inwieweit das islamische Recht, die Scharia, in der Verfassung verankert werden solle oder nicht.

Als weitere zentrale Aufgaben bis zu den geplanten freien Wahlen im Jahr 2004 nannte Karsai die Entwaffnung früherer Mudschaheddin-Kämpfer sowie einen entschlossenen Kampf gegen den Drogenanbau und Korruption. Jüngste Meldungen bestätigten, dass der Drogenanbau (Schlafmohn) seit dem Sturz der Taliban ausgeweitet worden sei.

Pst

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Im Folgenden dokumentieren wir Auszüge aus Kommetaren der hiesigen Presse sowie einen längeren Bericht aus der kritischen Internetzeitung "ngo-online" (www.ngo-online.de).

Die Frankfurter Rundschau (Rolf Paasch) betonte am 3. Dezember vor allem den Kampfcharakter von Karsais Auftreten in Deutschland. Es muss aber auch nötig sein:

... Kein Redemanuskript auf dem Petersberg, in dem nicht betont wurde, wie essenziell die Sicherheitsfrage für die Zukunft Afghanistans ist. Auch das Abschluss-Kommuniqué enthält einen Annex, der eine Kampfansage Präsident Karsais an seinen Verteidigungsminister und selbst ernannten Feldmarschall Fahim darstellt. Oder um es vor dem makabren Hintergrund afghanischer Fraktionskämpfe deutlicher auszudrücken: Wenn Hamid Karsai nicht nur die Verkündung seiner Armeereform in Königswinter, sondern auch deren Umsetzung daheim überlebt, hätte Afghanistan den wichtigsten Schritt zur Staatsbildung getan.
Der afghanische Präsident wird mit einer solchen Politik nur eine Chance haben, wenn seine westlichen Unterstützer ihre militärische Hilfe bündeln. Dass die USA und Großbritannien jetzt erste Sicherheits-Kommandos auch in ausgewählte Provinzstädte schicken wollen, ist ein überfälliger Beitrag zum in Washington viel zu lange verpönten "nation building". Wenn sie denn je berechtigt war, dann ist die strikte Arbeitsteilung zwischen US-amerikanischen Anti-Terror-Kriegern und hauptsächlich europäischen Isaf-Soldaten heute überholt. Ohne eine erweiterte und integrierte internationale Sicherheitspräsenz werden Verwaltungsreform und Demobilisierung in Afghanistan am Widerstand der Warlords scheitern.

Im Leitartikel der Süddeutschen Zeitung (Verfasser: Tomas Avenarius) herrscht ebenfalls Skepsis hinsichtlich des ereichten Sicherheitsstandards.

(...) Auch wenn Präsident Karsai nun den Aufbau einer 70000 Mann starken Armee verkündet hat und sämtliche Milizen verbieten will, heißt dies noch lange nicht, dass er sich auch durchsetzen wird. Fakt ist: Die Sicherheitslage ist desolat, die Zentralregierung aufgespalten in sich bekämpfende ethnische Fraktionen. Der Wiederaufbau kommt nicht in Gang. Allein die Drogenproduktion boomt. Fundamentalisten haben wieder begonnen, die gerade erst geöffneten Mädchenschulen zu schließen.
Ein Teil dieser Probleme wäre durch ein landesweites Engagement der internationalen Schutztruppe Isaf zu lösen. Das aber wird nicht passieren. Fischer hatte den Afghanen schon vor wenigen Tagen einen Korb gegeben. Weder wird sich die Isaf-Schutztruppe außerhalb Kabuls engagieren noch werden die Deutschen länger als ein halbes Jahr deren Führung übernehmen, vorerst zumindest. Auch bei anderen Problemen wird Petersberg II kaum Bewegung auslösen. Die vor einem Jahr versprochene Hilfe – 5,2 Milliarden Dollar – wird kaum fließen, nur weil Karsai und die Geber sich die Hände geschüttelt haben. Die Geber stehen weiter auf dem Standpunkt, dass Sicherheit herrschen muss, bevor das Geld kommt. Nur: Ohne Geld wird es keine Sicherheit geben in einem Land, in dem der zuverlässigste Arbeitgeber die Kalaschnikow ist. Auch deshalb haben Kriegsherren das Sagen in der Provinz.
Auch die im Westen so oft missverstandene Frauenfrage bleibt ein Problem. In Kabul haben zwar die Mädchenschulen wieder geöffnet. Aber selbst in Provinzen, die nie von den Taliban beherrscht wurden, legen die Frauen den Schleier bis heute nicht ab, gehen Mädchen nicht zur Schule. (...)
Zu lange schon konzentriert sich die Afghanistan-Debatte auf das Schlagwort vom Krieg gegen den Terror. (...) Der Einsatz von Lehrern und Landwirtschaftsexperten liefert keine so dramatischen Fernsehbilder wie der Abwurf tonnenschwerer Bomben. Und er erweckt auch keine patriotischen Gefühle beim Steuerzahler in den Geberländern. Afghanistan ist ein rückständiges Land. Der größte Teil seiner Bevölkerung bleibt Traditionen verhaftet, die mit dem 21. Jahrhundert kaum in Übereinstimmung zu bringen sind. Nur langfristige Entwicklungshilfe und der Aufbau eines funktionierenden Staatswesens kann den Afghanen zu selbstbestimmter Zukunft verhelfen.
Dies liegt ebenso im Interesse der Staatengemeinschaft wie der Krieg gegen den Terror. Denn der Terror, vor allem der islamistische, hat seine Wurzeln auch in den ungerechten Lebensverhältnissen, die die Dritte und Vierte Welt von der Ersten unterscheiden.

Noch vernichtender fällt der Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Dezember aus. Dort heißt es u.a.:

Man wird das Gefühl nicht los, dieses neuerliche Treffen sei bloß unternommen worden, um die klägliche Isolation Berlins in der Irak-Politik zu konterkarieren nach dem Motto: "Es gibt uns noch!" Afghanistan ist aber zu grausam hergerichtet, als daß es dazu taugte, den Hintergrund einer diplomatischen Werbeaktion für die Bundesregierung abzugeben.

Martin Ling thematisiert im "Neuen Deutschland" vor allem die "Unsicherheit", die in Afghanistan herrscht.:

Sie waren sich gestern alle einig auf dem Petersberg bei Bonn, ob der afghanische Premierminister Hamid Karzai oder Bundesaußenminister Joseph Fischer: Die Sicherheitsfrage hat erste Priorität in Sachen Wiederaufbau Afghanistans. Die andauernden Kämpfe zwischen Paschtunen und Tadshiken im Westen des Landes sprechen dafür. Doch die gebotenen Konzepte sind dürftig. Fischer lehnt den Einsatz der internationalen Schutztruppe (ISAF) außerhalb Kabuls ab. Verständlich, das Risiko für die Soldaten wäre unkalkulierbar. Und dennoch inkonsequent, wenn man so große Worte bemüht wie Fischer: "Es geht hier um nichts Geringeres als um den Kampf der zivilisierten Welt gegenüber dem internationalen Terrorismus." Gehen müsste es aber um eine gemeinsame Strategie der so genannten Anti-Terror-Allianz für den Wiederaufbau des Landes.
Von der ist nichts zu sehen. Die USA unterstützen aus militärischen Überlegungen heraus Kriegsfürsten, ohne Rücksicht auf die destabilisierenden Effekte. Die EU-Kritik daran verhallt wirkungslos. Nun an die Selbsthilfe der schwachen Regierung Karzai zu appellieren, ist hilflos. Ohne zivile Einigkeit innerhalb der Anti-Terror-Allianz lässt sich auch Afghanistan nicht einen.

Zum Schluss dokumentieren wir noch einen Artikel aus der Internetzeitung www.ngo-online.de, der wewit über die Tagesberichterstattung hinausgeht und Hintergründe des Krieges in und um Afghanistan mit einbezieht. Dass dabei auch auf Stellungnahmen der IPPNW oder des "Friedensratschlags" Bezug genommen wird, tut dem sachlichen Gehalt des Artikels keinen Abbruch - im Gegenteil.

Afghanistan-Konferenz

20.000 Kriegstote und 4.000 Tonnen Opium in Afghanistan


Afghanistans Präsident Hamid Karsai warb auf der zweiten Afghanistan-Konferenz am Montag auf dem Petersberg bei Bonn für Unterstützung beim Aufbau einer nationalen Armee und einer durchsetzungefähigen Polizei. Mit der 70.000 Soldaten umfassenden afghanischen Armee soll die Zentralgewalt gestärkt werden. Begründet wird sie weiterhin mit dem Kampf gegen den Drogenanbau. Afghanistan gilt mit einer geschätzten Jahresproduktion von 4.000 Tonnen Rohopium als größter Lieferant des europäischen Heroinmarktes. Vor diesem Hintergrund forderte Karsai verstärkte internationale Hilfe, um den Opiumbauern eine Alternative bieten zu können. Im Mittelpunkt der Petersberg-Konferenz steht weiterhin die Festschreibung der weiteren wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des in 22 Kriegsjahren zerstörten mittelasiatischen Landes. Der "Bundesausschuss Friedensratschlag", ein Sprachrohr der deutschen Friedensbewegung, hat kürzlich darauf hingewiesen, dass durch den aktuellen "Krieg gegen den Terrorismus" in Afghanistan bereits 20.000 Menschen getötet worden sind. Schon in den ersten beiden Kriegsmonaten sollen rund 5.000 Zivilisten durch Streubomben, neuartige "thermobarische" Bomben, "Daisy Cutter"-Bomben, B-52-Flächenbombardements, Marschflugkörper mit Schrapnell-Gefechtsköpfen und durch Bomben mit Uran-Munition (DU-Munition) getötet worden sein.

Aus einem Bericht der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) vom Februar diesen Jahres geht hervor, dass die abgeworfenen Clusterbomben eine "Misserfolgsrate" von 20 Prozent hätten. Das bedeute, dass Hunderte von Blindgängern überall im Land verstreut lägen und eine gefährliche Bedrohung für die Zivilbevölkerung darstellten.

Nach Angaben des Friedensratschlags hat die US-Regierung bis heute keine eigenen Daten über die Kriegstoten und die durch den Krieg verursachten sonstigen Schäden herausgegeben. Die vorhandenen Daten beruhten auf Berechnungen von unabhängigen Experten. Marc Herold, Professor für Wirtschaftswissenschaften, habe in einem akribischen Verfahren errechnet, dass bereits im Dezember 2001, zwei Monate nach Kriegsbeginn, rund 5.000 Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder bei Bomben- und Raketenangriffen ums Leben gekommen seien. Zähle man die Taliban-Soldaten oder Al-Qaida-Kämpfer hinzu, die bis zum heutigen Tag bei Kampfhandlungen oder in Gefangenschaft getötet wurden, so steige die Zahl der Toten dieses Krieges auf über 20.000.

Darunter befänden sich auch jene bis zu 3.000 Kämpfer, die bei Mazar-i-Sharrif gefangen genommen worden waren und anschließend spurlos verschwunden seien. Wie die Zeitung "Le Monde diplomatique" im September berichtete, hat der britische Journalist Jamie Doran Beweise gesammelt, wonach diese 3.000 Männer einem Massaker zum Opfer gefallen sind, verübt von Soldaten der Nordallianz unter den Augen von US-Armeeangehörigen.

Hamid Karsai, der Ende Dezember 2001 in Kabul die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, bewertete das erste Jahr des "Transformationsprozesses" - ebenso wie der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joseph Fischer - weitgehend positiv. Die "Meilensteine" der ersten Petersberg-Konferenz seien umgesetzt und die Übergangsgremien aufgebaut worden. Er kündigte tief greifende Reformen der Verwaltung und der Finanzen an sowie einen stärkeren Kampf gegen das "Krebsgeschwür" der Korruption.

Der Bundesausschuss Friensratschlag bewertet die Situation weit weniger positiv. Kein Problem in Afghanistan sei durch den Krieg gelöst worden. "Die geringen Fortschritte im Land beschränken sich fast ausschließlich auf die Hauptstadt Kabul, eine Art UNOtop, das der Welt zu beweisen versucht, dass die militärische Intervention zur Befriedung einer Region beitragen könne."

Der Friedensratschlag verweist auf Zahlen der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF und der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR vom 4. Oktober 2002. Demnach ist die Hälfte der Kinder in Afghanistan chronisch mangelernährt.

"Es fallen weiter Bomben - manchmal auf friedliche Hochzeitsgesellschaften", beklagt der Friedensratschlag. "Und es wird weiter gestorben in Afghanistan." Deutschland sei seit dem Entsendebeschluss vom 16. November 2001 mit einer nicht exakt bekannt gegebenen Zahl von Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) mit von der Partie. Sämtliche Fragen nach Auftrag, Art, Umfang und Ergebnis der Einsätze der KSK-Einheiten seien bisher vom Bundesverteidigungsminister unbeantwortet geblieben. Auch die Frage, wie viele Gefangenen bisher gemacht und wie viele davon den US-Streitkräften zur weiteren "Behandlung" übergeben wurden, bedarf einer Antwort, meint der Friedensratschlag. "Die Friedensbewegung fordert ein sofortiges Ende des Krieges in Afghanistan" und den Abzug der deutschen KSK-Truppen aus Afghanistan.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) bekräftigte auf der Afghanistan-Konferenz einen weiteren substanziellen deutschen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes. Zu dem eintägigen Treffen auf Außenministerebene waren Delegationen aus 32 Ländern angereist, darunter alle Nachbarstaaten Afghanistans sowie Vertreter der UNO und der Europäischen Union. Laut Außenminister Joseph Fischer werden die finanziellen Leistungen des Auslands für Afghanistan in diesem Jahr die Grenze von einer Milliarde Euro erreichen. Die EU möchte 2,3 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau bereitstellen.

Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte bereits am 13. November im Bundeskabinett Bilanz über die deutsche Hilfe in Afghanistan gezogen. Sie berichtete, dass die Bundesregierung im Jahr 2002 insgesamt 126 Millionen Euro für den Wiederaufbau in Afghanistan bereitgestellt hat. So seien 34 Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen instandgesetzt und ausgestattet worden. Auch wurde die Trinkwasserversorgung "verbessert". Zusammen mit anderen nicht staatlichen Trägern seien rund 80 Schulen wieder aufgebaut worden. Mit 18 Millionen Euro habe Deutschland seit Januar 2002 über 45.000 afghanische Lehrer und Polizisten bezahlt.

Das Bundeskabinett will am Dienstag in Berlin die Fortsetzung der Bundeswehreinsätze in Afghanistan und Mazedonien beschließen. In Afghanistan möchte Deutschland im Februar gemeinsam mit den Niederlanden die Führungsrolle für die im Großraum Kabul stationierte ISAF-Schutztruppe übernehmen. Das deutsche Kontingent wird daher von derzeit 1280 Mann aufgestockt. Für die genaue Zahl zusätzlicher Kräfte will die Bundesregierung eine "Truppenstellerkonferenz" abwarten. Als Größenordnung hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder vergangene Woche die Stationierung von rund 2000 deutschen Soldaten in Kabul und Umgebung genannt.

Keine Rolle mehr spielte die einstige Forderung Karsais, die Soldaten der internationalen "Schutztruppe ISAF" auch außerhalb Kabuls einzusetzen. Diese Forderung erhebe er nicht mehr, sagte der afghanische Präsident. Zuvor hatte Fischer angekündigt, für die Sicherheit in den Provinzen Afghanistans werde es "andere Lösungen" geben. Details nannte der Minister nicht.

Auf dem Petersberg hatten sich Anfang Dezember 2001 zahlreiche afghanische Gruppen auf einen Friedensprozess verständigt, der Mitte 2004 in freie Wahlen münden soll. Seit Juni ist eine von der so genannten Großen Ratsversammlung bestätigte afghanische Übergangsregierung unter Leitung von Karsai im Amt. Ende 2003 soll eine neue afghanische Verfassung vorliegen.

Aus: www-ngo-online.de, 2. Dezember 2002


Zu weiteren Beiträgen über Afghanistan

Stellungnahme des Bundesausschusses Friedensratschlag zum Jahrestag des Beginns des Afghanistan-Krieges

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