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Afghanistan: Auf der Strecke geblieben

Erinnerung an die Aprilrevolution vor 25 Jahren

Afghanistan ist aus den Medien verschwunden, seit die Irakkrise und schließlich der US-Krieg gegen Irak auf der Tagesordnung stand. Im Folgenden soll es wieder um Afghanistan gehen, aber nicht um die nach wie vor labile innenpolitische Situation, sondern der Blick geht zurück auf eine dramatische Entwicklung des Landes vor genau 25 Jahren. Peter Rau erinnert in der Wochenendausgabe der Zeitung "junge Welt" an die Aprilrevolution 1978.


Von Peter Rau

Vor 25 Jahren wollte die Aprilrevolution in Afghanistan einem der ärmsten Länder der Welt den Weg in eine bessere Zukunft ebnen Als am 27. April 1978 patriotisch gesinnte Offiziere im Verbund mit der Demokratischen Volkspartei Afghanistans das bisherige Regime stürzten und ein Revolutionsrat die Macht im Land übernahm, trat man an, ein überaus trauriges Erbe zu überwinden. Zwar war in den ersten Verlautbarungen mitnichten von Sozialismus oder gar Kommunismus die Rede, doch das Wort Revolution genügte schon, um in den westlichen Metropolen die Alarmglocken läuten zu lassen. Was hatte sie aufgeschreckt? Die Sorge um Freiheit und Demokratie, um Marktwirtschaft und Menschenrechte? Von all dem konnte in dem Land am Hindukusch, das zu den allerärmsten der Welt zählte, keine Rede sein. Seine etwa 16 Millionen Einwohner lebten größtenteils unter feudalen bzw. vorfeudalen Verhältnissen, an denen der Sturz der Monarchie und die Ausrufung der Republik im Jahr 1973 nichts wesentliches geändert hatten. Obwohl reich an Bodenschätzen, existierte kaum eine Industrie; in nicht einmal hundert Betrieben war etwa ein Prozent der rund 3,8 Millionen Erwerbstätigen beschäftigt. Mehr als vier Fünftel der Bevölkerung lebten auf dem Land, das zur Hälfte einer kleinen Großgrundbesitzerkaste gehörte; hier waren teilweise sogar noch Formen der Leibeigenschaft anzutreffen. Über 95 Prozent der Menschen konnten weder lesen noch schreiben. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei nicht einmal 40 Jahren.

Diese Zustände radikal zu ändern, hatte sich die unter Führung der DVPA (1978: 18 000 Mitglieder, 1988: 185 000) Anfang Mai proklamierte Demokratische Republik zum Programm gemacht. Als Hauptrichtungen der »nationaldemokratischen Revolution« wurden formuliert: demokratische Landreform, Alphabetisierung der Bevölkerung, Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie der nationalen Minderheiten in dem Vielvölkerstaat, unentgeltliche Bildung und Gesundheitsbetreuung, Stärkung des staatlichen Sektors in der Wirtschaft, Erschließung und Industrialisierung des Landes. In der Außenpolitik wurden Nichtpaktgebundenheit und traditionelle Zusammenarbeit mit dem großen Nachbarn im Norden, der Sowjetunion, bekräftigt. Wichtig für die islamisch geprägte Gesellschaft – 90 Prozent der Bevölkerung sind Moslems – waren zudem Anerkennung und Respektierung des Islam sowie die Unterstützung religiöser Belange. (Der Vorsitzende des aus 13 moslemischen Würdenträgern bestehenden Religionsrates, Abdul Aziz Sadeq, bestätigte im Januar 1980 gegenüber der spanischen Tageszeitung El Pais diese Akzeptanz.)

Bei der Umsetzung des anspruchsvollen Programms wurden respektable Erfolge erzielt. Bis 1980 wurden 900 neue Schulgebäude errichtet und eine vierjährige Grundschulpflicht eingeführt, in der ersten Etappe der Bodenreform erhielten 285000 Bauern mehr als 600000 Hektar Land. Und natürlich wurden auch Fehler gemacht beim demokratischen Aufbau. Die sozialen Bedingungen einer noch weitgehend mittelalterlichen Traditionen und überkommenen Stammesstrukturen verhafteten Gesellschaft wurden zu wenig berücksichtigt – so etwa bei der Bodenreform, bei der Überwindung der feudalen Strukturen auf dem Lande wie der Abschaffung der Schuldknechtschaft, bei der angestrebten Gleichstellung der Frauen, bei der Alphabetisierung, die zum Teil auch mit Zwang vorangetrieben wurde.

Hinzu kamen grundlegende Differenzen und neu aufgeflammte Fraktionskämpfe in der Regierungspartei, in deren Folge schwerwiegende Fehler insbesondere in der nationalen Bündnispolitik gemacht wurden, Fehler, die den im Lande wie im Ausland agierenden Kräften der Konterrevolution in die Hände spielten. Spätestens an dieser Stelle muß jedoch auch auf die geostrategischen Interessen der USA verwiesen werden, ohne deren Dazutun die Entwicklung in Afghanistan anders verlaufen wäre. Deren Geheimdienst CIA hatte Anfang der 70er Jahre die Region ins Visier genommen; nach der Aprilrevolution kam als Ziel der langfristigen »Operation Hindukusch« hinzu, eine für andere unterentwickelte Länder beispielgebende Perspektive zu diskreditieren und zu verhindern. Am 3. Juli 1979 unterzeichnete US-Präsident James Carter die erste, zwar geheime, aber doch offizielle Regierungsdirektive über die »Unterstützung für die Opponenten des prosowjetischen Regimes in Kabul«, wie sein Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski Jahre später eingestand und einräumte, damit bewußt »eine militärische Intervention der Sowjets« provoziert zu haben.

Ob die Sowjetunion gut beraten war, als sie dem wiederholten Hilfeersuchen der Regierung in Kabul Ende 1979 entsprach und zum Schutz der bisherigen Errungenschaften wie zur Eindämmung des bereits begonnenen und von außen geschürten Bürgerkrieges Truppen entsandte, sei dahingestellt. Fakt ist aber, daß die von der CIA im Bunde mit dem pakistanischen Geheimdienst vor allem in Flüchtlingslagern rekrutierten »Widerstandskämpfer« mit bis zu 700 Millionen Dollar jährlich in ihrem »Heiligen Krieg« gegen die »Ungläubigen« unterstützt worden sind.

Das Ende ist bekannt. Die Sowjettruppen – im westlichen Sprachgebrauch gemeinhin als Interventen, Okkupanten, Besatzer verunglimpft – zogen sich bis zum Februar 1989 aus Afghanistan zurück. Die dazu führende, unter UN-Vermittlung 1988 zustande gekommene Vereinbarung zwischen den USA, der UdSSR und Pakistan wurde jedoch von den islamischen Glaubenskriegern ignoriert. Auch die im selben Jahr in Afghanistan verkündete Politik der nationalen Aussöhnung und die 1990 ausgerufene Islamische Republik hielten die im selben Jahr in Pakistan gebildete Exilregierung nicht davon ab, den Krieg gegen die Regierung in Kabul fortzusetzen.

Am 27. April 1992, auf den Tag genau 14 Jahre nach dem nationaldemokratischen Umsturz, wurde die Hauptstadt kampflos und nahezu unzerstört den Mudschaheddin übergeben. Der ersehnte Frieden blieb jedoch aus; auf dem Rücken der Bevölkerung bekriegten sich nun die verschiedenen Stammesfürsten bzw. islamistischen Gruppen untereinander um Macht und Einfluß, bis 1996 die Taliban als schlimmste Ausgeburt der Gottes- und Glaubenskrieger in Kabul einzogen. Seit deren Herrschaft unter den Bomben der US-Army und ihrer Verbündeten zerbrochen und das Land am Hindukusch zu großen Teilen unter eine internationale Militäraufsicht gestellt ist und weitgehend »befriedet« scheint, kommen gelegentlich auch wieder positive Nachrichten aus dem mehr denn je hilfebedürftigen Land. Das ist zwar nach wie vor meilenweit von dem vor 25 Jahren proklamierten Weg in die Moderne entfernt, doch immerhin war unlängst zum Beispiel von einer mit deutscher Hilfe erfolgreich betriebenen Fahrschule für Frauen zu lesen ...

Aus: junge Welt, 26. April 2003


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