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Die Ethnisierung des Afghanistankonflikts

Matthias Schmidt rezensiert das Buch von Conrad Schetter

Conrad Schetter: Ethnizität und ethnische Konflikte in Afghanistan. Berlin 2003, Dietrich Reimer Verlag, 641 Seiten, ISBN 3-496-02750-9.

Ist die Hochphase ethnischer Konflikte bereits zu Ende, oder stellt Ethnizität eine fortwährende Bedrohung des Friedens dar? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das herrschende politische Primat des Nationalstaats? Und wie verhält es sich mit der Ressource Raum? Diesen Fragen geht Conrad Schetter in seiner Dissertation am Beispiel des seit Jahrzehnten währenden Krieges in Afghanistan auf den Grund und zeigt auf, daß Ethnizität zu einer wesentlichen Komponente des Konfliktes avanciert ist.

Im ersten, theoretischen Teil der Arbeit beschäftigt sich Schetter mit der für die Entwicklung einer Theorie der Ethnizität notwendigen Terminologie. Dabei diskutiert und dekonstruiert er gebräuchliche Begriffsvorstellungen von Ethnie, ethnischer Gruppe und ethnischer Kategorie, von Volk, Stamm und Nation, grenzt sie voneinander ab und stellt ihnen eigene Definitionen entgegen. Als Geograph interessiert ihn besonders die Frage nach dem Raumbezug von Ethnizität. So wie der Nationalstaat nicht ohne fest umrissenes Territorium vorstellbar sei, könne auch eine ethnische Gruppe nur über eine räumliche Verankerung konstituiert werden. Der Ressource Raum komme daher eine entscheidende Bedeutung nicht nur für die Entstehung nationaler Vorstellungen zu, sondern auch im Hinblick auf die Ausbildung ethnischer Gruppen und gewaltsame Handlungen im Namen einer Ethnie.

Die Entwicklung Afghanistans zum Nationalstaat und dessen Zusammenbruch, Schetter spricht von einem "Land ohne Staat", werden im zweiten Teil detailliert erörtert und nach Fragen der ethnischen Strukturierung und Kategorisierung seziert. In der von der Bevölkerung stets als fremd empfundenen Nationalstaatgründung Ende des 19. Jahrhunderts sieht der Autor bereits die Wurzeln für den später ausgebrochenen Konflikt. So gewannen bei der Implementierung des Nationalstaats, der stets mit der Ausbildung einer Nationalideologie verbunden ist, die ethnischen Referenzen gegenüber religiösen und demotischen Faktoren die Oberhand. Deutlich wird auch, in welchem Maße die afghanische Nationalideologie paschtunisch durchdrungen ist: Bereits durch die Bezeichnung des Nationalstaates wurde eine Ausgrenzung aller Nicht-Paschtunen vorgenommen, da das Ethnonym "Afghane" innerhalb des Staates von unterschiedlichen Volksgruppen synonym für Paschtune verwendet wurde.

Den breitesten Raum innerhalb der Arbeit nimmt der Afghanistan-Krieg ein, der im Dezember 1979 mit dem Einmarsch der Sowjet-Armee begann. Äußerst detailliert werden die Stationen und wechselnden Kriegsparteien dargestellt, sowie die sukzessive Bedeutungszunahme der ethnischen Dimension in diesem Konflikt begründet. War Ethnizität in der ersten durch den Kalten Krieg geprägten Kriegsphase (1979-1992) noch durch die Propaganda "Kommunismus versus Islam" überschattet, so wurde Ethnizität nach dem Tod von Präsident Najibullah und der Herrschaft der Mujahidin (1992-1994) gezielt als Ressource der Kriegsführung eingesetzt, mit der alle Parteien ihre Kämpfer mobilisierten. Somit kam es zu einer Aufsplitterung der militärisch-politischen Organisationen entlang ethnischer Linien, und Afghanistan zerfiel in regionale Herrschaftsbereiche einzelner warlords. Mit dem Aufstieg der vorwiegend aus Paschtunen rekrutierten Taliban ab 1994 und dem Zusammenschluß anderer ethnisch definierter Parteien entwickelte sich ein Konflikt, der als Auseinandersetzung zwischen Paschtunen auf der einen und ethnischen Minderheiten auf der anderen Seite gedeutet werden kann. Die ethnisch definierte Freund-Feind-Logik avancierte zum entscheidenden Koordinatensystem des Krieges und bestimmte die militärischen und politischen Handlungen.

Plausibel legt Schetter des Weiteren dar, daß im Konstituierungsprozeß ethnischer Gruppen, der Raumbezug eine konstante Größe darstellt. Dieser ethnoscape ist in der Regel mit einem territorial definierten Herrschaftsanspruch verbunden, der sich jedoch mit dem anderer Ethnien überschneiden kann - Konflikte um Raum sind eine fast logische Konsequenz, zumal die ethnisch definierten Kriegsparteien häufig eine ethnische Homogenisierung ihrer Gebiete anstreben.

Zurückkommend auf die Eingangsfrage sieht Schetter keineswegs das Ende ethnischer Konflikte gekommen, solange das Konzept des Nationalstaats globale Grundlage des politischen Denkens sei. Hier werden die großen Zweifel des Autors an der "Nationalstaatsidee" deutlich. Allerdings stellt Schetter keine Alternative des Nationalstaats vor, beschäftigt sich vielmehr mit der Frage, wie eine nationale Integrität in Afghanistan geschaffen werden kann.

Obwohl die Arbeit vor den Terroranschlägen des 11. September 2002 abgeschlossen wurde, besitzt sie trotz des seither ausgerufenen "Krieges gegen den Terrorismus" und dem Sturz des Taliban-Regimes ihre Gültigkeit. In einem im September 2002 angefertigten Postskript sowie in zahlreichen Publikationen, auch in der überregionalen Presse, bemüht sich Schetter dem gegenwärtigen Zeitgeist zu widersprechen, innerstaatliche Konflikte auf die ethnische Dimension zu verkürzen. So spielten auch beim Krieg in Afghanistan weitere Faktoren eine Rolle, wie etwa die ausländische Einflußnahme, die Entstehung einer Gewaltökonomie sowie gesellschaftliche Veränderungen, etwa durch die massiven Fluchtbewegungen und den langjährigen Aufenthalt von Afghanen und Afghaninnen in Flüchtlingslagern im Iran und in Pakistan.

Es ist beachtlich, wie viele Materialien Conrad Schetter hier zusammengetragen, ausgewertet und in einen stringenten Sinnzusammenhang gebracht hat. Die Arbeit reizt an vielen Stellen zum Widerspruch, nicht zuletzt aufgrund ihres manchmal provozierenden Stils, regt damit aber auch zum Nachdenken an. Als Publikation eines Geographen beinhaltet sie auch sieben Karten, die jedoch nur bedingt Erkenntnisgewinn liefern und von denen manche wenig ansprechend gestaltet sind. Die 641 Seiten sowie der hohe Preis des Buches von € 82,- mögen abschreckend wirken - die gute Lesbarkeit und klar gestaltete Argumentationsketten machen die Monographie jedoch zu einer spannenden und wichtigen Lektüre in der aktuellen Afghanistan-Debatte.

Matthias Schmidt


Dieser Beitrag erschien in: inamo (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Nr. 39, 2004

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