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Drei Schritte zum Frieden in Afghanistan

Naqibullah Shorish, ein Stammesführer des Landes, über Wege zu einem Ende der Gewalt und einer Übergangsregierung *


Bonn wird im Oktober erneut Gastgeber einer Afghanistan-Konferenz sein. Seine Teilnahme hat auch Naqibullah Shorish, ein wichtiger Stammesführer des Landes, zugesagt. Er repräsentiert als nationaler Stammesführer der Kharoti mehr als drei Millionen Afghanen. In den letzten Wochen gab es sehr widersprüchliche Meldungen über die Frage: Wie verhandlungsbereit sind die Taliban? Mit wem wollen sie reden, mit wem nicht? Über zentrale Fragen einer Friedenslösung für Afghanistan sprach mit Naqibullah Shorish vor wenigen Tagen Otmar Steinbicker, Herausgeber des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de.


Sie unterhalten in Afghanistan Kontakte zu allen Seiten, auch zur Taliban-Führung. Diese hat Sie als neutralen Vermittler akzeptiert. Es hat voriges Jahr Gespräche zwischen Taliban und USA gegeben, die aber offensichtlich gescheitert sind. Gibt es noch Chancen für eine Friedenslösung?

Bei den erwähnten Gesprächen zwischen Taliban und USA unter deutscher Vermittlung in Katar ging es ausschließlich um einen Gefangenenaustausch. Die Taliban haben seit Jahren den US-Soldaten Bowe Bergdahl in ihrer Gewalt und wollten ihn austauschen gegen Taliban-Führer, die in Guantanamo eingekerkert sind. Die US-Unterhändler hatten in den Katar- Gesprächen deren Freilassung zugesichert, doch der US-Senat genehmigte das nicht. Darüber sind die Taliban verärgert. Ich kann das verstehen. Wenn in solchen Gesprächen Zusagen gemacht werden, dann müssen sie auch eingehalten werden, ansonsten kann kein Vertrauen entstehen. Das Scheitern dieser Gespräche ist insofern besonders problematisch, weil es sich hier auch um einen Test handelte. Ein erfolgreicher Gefangenenaustausch wäre ein Startsignal für ernsthafte Gespräche über eine Friedenslösung gewesen.

Die Aussagen der Taliban zu Friedensgesprächen sind in letzter Zeit sehr widersprüchlich. Einerseits erklärten sie, sie hätten die Gespräche mit den USA definitiv abgebrochen, andererseits signalisieren sie Bereitschaft zu weiteren Treffen. Was ist davon zu halten?

Ja, das klingt widersprüchlich. Dennoch: Die Taliban wollen den Konflikt grundsätzlich lösen. Sie sind schon seit längerem zu Gesprächen mit Europäern und den USA bereit und haben das schon im Sommer 2010 bei Treffen mit Offizieren der NATO-Truppe ISAF aus den USA, Großbritannien und Deutschland unter Beweis gestellt. Ich hatte diese Gespräche vermittelt und selbst teilgenommen. Die Treffen waren lösungsorientiert und erstaunlich erfolgreich. Sie wurden im Oktober 2010 jäh vom oberkommandierenden US-General David Petraeus abgebrochen. Wenn im Westen Interesse bestehen sollte, können sie jederzeit wieder aufgenommen werden – selbstverständlich von beiden Seiten ohne Vorbedingungen.

Die USA und auch die Bundesregierung bestehen auf Gesprächen der Taliban mit der Regierung von Präsident Hamid Karsai. Einer Pressemeldung zufolge hat dieser jetzt die Bundesregierung um Vermittlung mit den Taliban gebeten. Gibt es dafür Chancen?

Die Taliban haben immer wieder gesagt, sie wollen mit Karsai nicht reden, weil sie ihn für eine Marionette der USA halten und die Legitimität seiner Regierung bestreiten. Daher sehe ich bis auf Weiteres keine Chance für direkte Gespräche zwischen ihm und den Taliban. Aber vielleicht sollte die Bundesregierung versuchen, in getrennten Gesprächen mit beiden Seiten zu sondieren, wo es Ansätze und vielleicht sogar Wege zu einer Friedenslösung geben kann. Da müssen die beiden verfeindeten Seiten nicht sofort miteinander reden. Eine Vermittlung indirekter Gespräche ist auch schon in anderen schwierigen Konflikten erfolgreich gewesen. Man sollte da nichts unversucht lassen.

Sie könnten da Vermittler sein?

Wenn das von der Bundesregierung gewünscht wird, jederzeit. Ich bin sicher, dass es dann schnell zu Gesprächen kommen kann.

Eine Friedenslösung zwischen der Karsai-Regierung und den Taliban wäre denkbar?

Das wage ich nicht zu prophezeien, denn wichtiger als Karsai in dem Konflikt ist die NATO! Aber Gespräche sind immer nützlich.

Wo könnten sie ansetzen?

Eine erste und für mich sehr zentrale Frage wäre: Was kann Karsai den Taliban an Sicherheit bieten? Wenn Karsai Friedensgespräche will, dann muss es eine neutrale Provinz geben, wo die Taliban weder von US-Drohnen noch vom pakistanischen Geheimdienst (ISI) bedroht werden. Es sollte daher keine Grenzprovinz zu Pakistan sein. Die ISAF müsste die Sicherheit dieser Provinz garantieren.

Warum sollte Karsai den Taliban Sicherheit bieten?

Es gibt einen massiven Druck von Pakistan auf die Taliban, Gespräche weder mit den USA noch mit Karsai zu führen. Pakistan, nicht die USA, die Taliban oder Karsai ist das Haupthindernis für eine Friedenslösung in Afghanistan. Solange die Talibanführer und ihre Familien in Pakistan leben, sind sie und ihre Familien massiven Pressionen des ISI ausgesetzt.

Ihr Friedensplan, der »Shorish- Plan«, knüpft an die Überlegungen an, die ISAF-Offiziere und Talibanführer bei ihren Gesprächen im Sommer 2010, anstellten.

Ja. Deshalb habe ich drei erste Schritte benannt, die die Konfliktparteien möglichst unmittelbar nach Aufnahme von Friedensgesprächen realisieren sollten: 1. Einstellung feindseliger Propaganda; 2. Freilassung von Gefangenen; 3. Waffenstillstand. Das Ziel meines Friedensplans ist eine neutrale Übergangsregierung, die nach dem Abzug der NATO-Truppen 2014 einen Bürgerkrieg verhindert und den afghanischen Konfliktparteien den Weg zu einer dauerhaften Friedenslösung ermöglicht. Dabei ist auch daran gedacht, dass sich die Taliban als politische Partei formieren und ebenso wie andere an freien und unverfälschten Wahlen teilnehmen.

Die NATO und die Karsai-Regierung bestehen darauf, dass die Taliban die gegenwärtige Verfassung Afghanistans anerkennen.

Das wird nicht funktionieren. Eine Verfassung muss die von allen relevanten Kräften im Konsens akzeptierte Grundlage des staatlichen und politischen Wirkens sein. So etwas kann nicht von außen einem Land aufgezwungen werden. Afghanistan hat seit seiner Gründung die Einrichtung der Loya Jirga als Verfassunggebende Versammlung. Diese Loya Jirga wird über die Verfassung Afghanistans neu beraten und beschließen müssen.

Heißt das, dass die nach 2001 festgeschriebenen Frauenrechte wieder abgeschafft werden?

Nein. Afghanistan hat längere Traditionen akzeptierter Frauenrechte. Richtig ist, dass die Taliban in ihrer Regierungszeit diese Rechte mit Füßen getreten haben. Aber sie haben gelernt, dass das ein Fehler war. Mittlerweile erkennen sie das wichtige Recht von Frauen und Mädchen auf Ausbildung und Berufsausübung an. So hat auch der afghanische Bildungsminister zugegeben, dass die Taliban ihre Position gegenüber Mädchenschulen korrigiert haben. Als vor kurzem 23 Schulen im Süden geschlossen wurden, hieß es zuerst, die Taliban seien schuld, doch der Minister musste zugeben: Es fehlten die Lehrer.

Wie stehen die Taliban zu Ihrem Friedensplan?

Mir wurde signalisiert, dass sie zu etwa 95 Prozent diesem Plan zustimmen. Das Hauptproblem ist, dass es im Westen keine einheitliche Linie gibt, geschweige denn einen Friedensplan, über den man ernsthaft diskutieren und gegebenenfalls verhandeln könnte.

Der Shorish-Plan ist damit der einzige Friedensplan?

Nicht der einzige Plan, aber der einzige, der zumindest von einer Konfliktpartei im Wesentlichen akzeptiert wird und damit entsprechende Relevanz hat.

In den vergangenen Monaten gab es Meldungen über Streitigkeiten unter den Taliban.

Es gibt derzeit Spannungen unter verschiedenen Gruppen der Taliban. Eine Fraktion der Taliban hört auf den ISI; eine andere will dagegen eine »afghanische« Politik verfolgen. Aber: Eine Spaltung der Taliban würde die Probleme nicht verringern, sondern vergrößern.

Welche Perspektive bleibt Afghanistan, wenn keine Friedensgespräche zustande kommen oder diese scheitern?

Wenn es bis 2014 keine Gespräche gibt, droht ein Bürgerkrieg, dessen Ausgang nicht vorhersehbar ist: Dann kann es eine Übergangsregierung im Sinne der Taliban geben, nicht im Sinne der USA und nicht im Sinne der Afghanen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 22. August 2012


"Gemeinsam rein, gemeinsam raus" erodiert

Neuseeland zieht seinen Truppenabzug aus Afghanistan um einige Monate vor. Die Soldaten sollen das Land spätestens im April verlassen

Von Thomas Ruttig **


Mit Neuseeland steht ein weiteres Teilnehmerland für die derzeit aus Soldaten aus 49 Nationen bestehende ISAF-Schutztruppe in Afghanistan vor dem vorzeitigen Abzug. Nachdem am Montag in der Zentralprovinz Bamian ein Konvoi der Neuseeländer in eine Sprengfalle gefahren war und dabei drei Soldaten umkamen, sagte der konservative Premierminister John Key, es sei möglich, dass seine Regierung ihre Soldaten vielleicht schon bis zum Jahresende, und nicht erst zum offiziellen ISAF-Abzugstermin Ende 2014, nach Hause hole. Dies hänge aber nicht mit dem Tod der Soldaten zusammen. Derlei Überlegungen habe es bereits davor geben.

Die 145 Soldaten des südpazifischen Landes waren zuletzt unerwartet unter Feuer geraten. Die meisten sind als Provinzaufbauteam (PRT) in Bamian stationiert, wo bis zum letzten Jahr kaum Aktivitäten der Aufständischen zu verzeichnen waren. Neben Australien, Schweden, Südkorea, aber auch Georgien, der Mongolei, der Ukraine, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Tonga und anderen gehört Neuseeland zu den Nicht- NATO-Ländern unter den Truppenstellern für ISAF, dessen letzte publizierte Gesamtzahl im Mai mit 129 469 Soldaten angegeben wurde. (http://www.nato.int/isaf/docu/epub/pdf/ placemat.pdf) Die Regierung in Wellington ist zwar nicht direkt an die NATO-Doktrin des »Gemeinsam rein, gemeinsam raus« (Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière) gebunden. Aber dass die Bereitschaft erodiert, der US-geführten derzeitigen Militärmission in Afghanistan bis zum Ende treu zu bleiben, ist bereits seit längerem deutlich.

Frankreichs Präsident François Hollande hatte zügig nach seinem Wahlsieg im Mai sein Versprechen wahr gemacht, den Abzug der Kampftruppen seines Landesum ein Jahr auf Ende 2012 vorzuziehen. Selbst sein USfreundlicherer Vorgänger Nicolas Sarkozy hatte nicht bis 2014 warten wollen. Die Niederlande und Kanada haben bereits im August 2010 bzw. im Juli 2011 ihre Soldaten aus den Kampfoperationen herausgenommen; 500 bzw. 950 blieben aber als Ausbilder für die afghanische Armee und Polizei im Land. Australien – mit derzeit 1500 Soldaten das größte Nicht-NATO-Kontingent – gab im April ähnliches für Mitte 2013 bekannt.

Großbritannien, engster Alliierter der USA in Afghanistan, hat seine Truppen ebenfalls, aber geringfügig reduziert und die Südprovinz Helmand an US-Truppen übergeben. Belgien wird bis Ende des Jahres sein Personal halbieren. Polen wollte seine Kampftruppen ursprünglich ebenfalls 2012 zurückziehen, scheint dies aber aufgegeben zu haben.

Ende 2014 werden keinesfalls alle ausländischen Truppen Afghanistan verlassen. Abgezogen werden die meisten Kampftruppen, die verbleibenden werden zu Trainern und Mentoren der afghanischen Sicherheitskräfte umgewidmet. Zahlen sind bisher nicht bekannt, aber US-Medien gehen von einigen zehntausend aus. Anfang 2015 wird es also ISAF nicht mehr geben, aber eine neue NATO-Mission unter neuem Namen, wenn, so NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, die afghanische Regierung das so wünsche – und davon kann man ausgehen.

Dazu kommen Spezialkräfte. Das werden vor allem US-Amerikaner sein, die weiterhin mit Drohnen, nächtlichen Zugriffen (»night raids«) und in Kooperation mit irregulären, milizenähnlichen afghanischen Verbänden die Taliban bekämpfen und an einer Machtübernahme in Kabul hindern sollen. Andere Länder wie Großbritannien, Australien und Norwegen sollen den Verbleib solcher Kämpfer bereits zugesagt haben.

Mit der Truppenreduzierung wird auch die zivile Hilfe schrumpfen. Die noch 27 PRTs – eine der Hauptsäulen der NATO-Strategie, die auch Entwicklungsaufgaben haben – sollen bis Ende 2014 an die afghanische Regierung übergeben werden. Das größte Geberland, die USA, hat sein Entwicklungsbudget für Afghanistan von 2010 auf 2011 schon fast halbiert.

Die EU, Deutschland und einige andere Länder haben versprochen, das derzeitige Niveau zu halten. Aber fest steht das angesichts der Eurokrise nicht.

** Thomas Ruttig ist Co-director des Afghanistan Analysts Network

Aus: neues deutschland, Mittwoch, 22. August 2012


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