Kofferpacken in Kabul
Von Knut Mellenthin *
Zum achten Jahrestag des Beginns der NATO-Intervention in Afghanistan
herrscht unter den Verbündeten Aufbruchstimmung. Das niederländische
Parlament beschloß am Dienstag abend mit großer Mehrheit, den
Truppeneinsatz am Hindukusch nicht über das Jahr 2010 hinaus zu
verlängern. Zwei der drei Parteien, die die Regierungskoalition tragen,
stimmten gemeinsam mit der Opposition für den Abzug. Nur die
Christdemokraten von Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende wollen
weiter ausharren. Da die Parlamentsresolution für die Regierung nicht
bindend ist, bleibt abzuwarten, ob Balkenende ihr folgen wird. Die
Niederlande sind in Afghanistan mit 1400 Soldaten vertreten, die im
Süden des Landes regelmäßig an Kampfeinsätzen teilnehmen.
Die kanadische Regierung will auf jeden Fall an dem schon früher
gefaßten Entschluß festhalten, ihr Kontingent bis zum Jahresende 2011
abzuziehen. Die 2500 Soldaten sind überwiegend in der Provinz Kandahar
stationiert, die als Hochburg der Taliban gilt. Seit Beginn der
Intervention vor acht Jahren kamen mehr als 130 Kanadier ums Leben.
In London hält der Streit zwischen der Labour-Regierung und den Militärs
um eine von diesen geforderte Truppenverstärkung an. General David
Richards, der neue Chef der Streitkräfte, will das britische Kontingent
von derzeit 9000 Soldaten um mindestens 1000 verstärken. Die Briten
operieren vor allem in der südafghanischen Provinz Helmand und haben
bisher schon mindestens 200 Soldaten verloren. Die Stimmung in der
Bevölkerung ist eindeutig gegen eine weitere Beteiligung am
Interventionskrieg. Nur noch 37 Prozent unterstützen ihn, während 56
Prozent einen Abzug befürworten.
Selbst in den USA ist die Zustimmung zum Krieg mit 39 Prozent auf einem
Tiefpunkt angekommen. 58 Prozent sind gegen eine Fortsetzung der
Militärintervention. Auch unter den Anhängern der Republikaner, die
immer noch mehrheitlich den Krieg unterstützen, hat die Begeisterung in
den letzten zwei Wochen um acht Prozentpunkte abgenommen. Gleichwohl
berät US-Präsident Barack Obama mit Kongreßmitgliedern und
Spitzenmilitärs eine massive Truppenaufstockung.
In Deutschland lehnt die Mehrheit der Bevölkerung die Teilnahme der
Bundeswehr an der Intervention schon seit deren Beginn ab. Trotzdem wird
die Kriegskoalition im Bundestag, bestehend aus CDU/CSU, SPD, FDP und
Grünen, voraussichtlich im November nicht nur eine Verlängerung des
Mandats, sondern auch eine Erhöhung der Truppenstärke von 4500 auf 7000
abnicken. Die stupide Open-end-Floskel, deutsche Soldaten müßten »so
lange wie nötig« in Afghanistan bleiben, ersetzt hier immer noch eine
dringend notwendige Diskussion, die in den meisten anderen NATO-Ländern
längst in Gang gekommen ist.
Unterdessen hat die Taliban-Führung den achten Jahrestag des
Kriegsbeginns am Mittwoch (7. Okt.) zum Anlaß für ein deutliches Friedensangebot an die Interventionsstaaten genommen. »Wir hatten und haben nicht die Absicht, irgendwelchen Staaten der Welt, einschließlich Europas, Schaden zuzufügen«, heißt es auf den Internetseiten der Aufständischen. »Unser Ziel ist die Unabhängigkeit unseres Landes und der Aufbau eines islamischen Staates.« Zugleich werden die USA und Europa jedoch gewarnt: »Solltet ihr weiterhin das Land der stolzen und gläubigen Afghanen unter dem Vorwand eines Kriegs gegen den Terror kolonialisieren wollen, so solltet ihr wissen, daß unsere Beharrlichkeit nur zunehmen wird und daß wir zu einem langen Krieg bereit sind.«
* Aus: junge Welt, 8. Oktober 2009
Kriegsherr Obama in der Zwickmühle
Aufstocken oder nicht aufstocken? - US-Truppen in Afghanistan werden zur Gretchenfrage **
Acht Jahre nach Beginn der Afghanistan-Invasion am 7. Oktober 2001 steht
US-Präsident Barack Obama in der Frage der Aufstockung der US-Truppen am
Hindukusch vor einer schwierigen Entscheidung.
Bei einem Treffen mit Abgeordneten des
US-Kongresses drängte der republikanische Senator John McCain im Weißen
Haus auf eine rasche Entsendung zusätzlicher Soldaten. Bei den
Demokraten muss der Präsident hingegen mit Widerstand rechnen, sollte er
weitere Truppen schicken.
Obama müsse »so schnell wie möglich« dem Ersuchen des Generals Stanley
McChrystal nach der Entsendung weiterer Soldaten nachkommen, sagte
McCain nach dem Treffen in Washington. Der Oberbefehlshaber der
US-Truppen im Rahmen des NATO-Einsatzes ISAF hat 40 000 zusätzliche
Soldaten angefordert, ansonsten könnte nach seinen Angaben der Krieg in
Afghanistan binnen eines Jahres verloren gehen. Derzeit sind etwa 68 000
US-Soldaten in dem Land stationiert. McCain kritisierte auch die von
Obama erwogene Option, sich statt der von McChrystal geforderten breiten
Offensive gegen Aufständische in Afghanistan auf den gezielten Kampf
gegen das Terrornetzwerk Al Qaida zu konzentrieren. »Wir alle wissen
doch: Wenn die Taliban zurückkehren, kehrt auch Al Qaida zurück.«
Bei dem Treffen im Weißen Haus konnten die Differenzen zwischen den
Parteien bezüglich der Afghanistan-Strategie nicht überbrückt werden.
Der demokratische Mehrheitsführer im Senat, Harry Reid, sagte zwar, alle
Teilnehmer hätten Obama grundsätzlich zugesagt, seine Entscheidung zu
unterstützen. Zögerlicher äußerte sich die demokratische Präsidentin des
Repräsentantenhauses Nancy Pelosi: Ob die Demokraten Obamas Entscheidung
am Ende tragen würden, hänge davon ab, was der Präsident vorlege. Viele
Demokraten lehnen ein Aufstocken der Truppen in Afghanistan ab.
Nach Angaben eines Regierungssprechers versicherte Obama den
Abgeordneten, bei seiner Entscheidung »konsequent und überlegt«
vorzugehen. Der Präsident habe jedoch auch deutlich gemacht, dass seine
Entscheidung »nicht alle in diesem Raum oder im Land glücklich machen«
werde.
Unterdessen soll der Afghanistan-Einsatz der Niederlande nach dem Willen
des Parlaments nicht über 2010 hinaus verlängert werden. Einem
entsprechenden Antrag stimmten am neben fast allen Abgeordneten der
Opposition auch zwei der drei Regierungsparteien zu.
** Aus: Neues Deutschland, 8. Oktober 2009
Geheimpapier belegt massiven Wahlbetrug
UN-Report listet erhebliche Stimmendifferenzen in Afghanistan auf ***
Nach der stichprobenartigen Überprüfung verdächtiger Stimmzettel im
NATO-besetzten Afghanistan zeichnet sich Medieninformationen zufolge ab,
daß bei den Präsidentschaftswahlen wie erwartet in großem Stil
manipuliert wurde. Wie die Washington Post am Mittwoch (7. Okt.) unter
Berufung auf ein Geheimpapier der Vereinten Nationen berichtete, beträgt
die Differenz zwischen ausgezählten und tatsächlich abgegebenen Stimmen
in mehreren Provinzen über 100000. Besonders deutlich seien diese
Unterschiede in einigen Provinzen, die von Amtsinhaber Hamid Karsai
gewonnen worden seien, berichtete die Zeitung.
Demnach seien in der Südprovinz Helmand 134804 Stimmzettel ausgezählt
worden, davon 112873 für Karsai. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen
wählten aber nur 38000 Afghanen dort. In Paktika wurden nach Angaben der
unabhängigen Wahlkommission 212405 Stimmen ausgezählt, davon 193541 für
Karsai, während die UN-Beobachter von nur rund 35000 abgegebenen Stimmen
ausgingen. In der Provinz Kandahar hätten die Wahlhelfer 252866 Stimmen
registriert, von denen 221436 für Karsai gewesen seien. UN-Schätzungen
zufolge hätten aber nur rund 100000 Wahlberechtigte tatsächlich abgestimmt.
In mehrere anderen Provinzen, die von Karsais Herausforderer und
Exaußenminister Abdullah Abdullah gewonnen wurden, zeige sich das
umgekehrte Bild: Dort sei die Wahlbeteiligung höher gewesen, als es die
Auszählung widerspiegelte.
Laut Washington Post bestritt UN-Sprecher Dan McNorton nicht die
Echtheit der Daten, sprach aber von »unbelegtem Rohmaterial«, das mit
Vorsicht zu genießen sei. Für den Exvizechef der UN-Mission in
Afghanistan, Peter Galbraith, läßt sich anhand der Daten jedoch die
Glaubwürdigkeit der Wahlen bewerten.
Galbraith war Ende September im Streit mit UN-Missionschef Kai Eide
seines Postens enthoben worden. Zuvor hatte er den Betrug am 20. August
als »sehr umfangreich« bezeichnet. Der Washington Post sagte der
US-Diplomat, Eide wolle die Daten nicht den afghanischen Vertretern und
den internationalen Beobachtern übergeben. Der UN-Sondergesandte sei
parteiisch für Karsai. Dem im vergangenen Monat verbreiteten vorläufigen
Endergebnis zufolge gewann bei dem Wahltheater Amtsinhaber Karsai die
Wahl mit 54,6 Prozent der Stimmen.
*** Aus: junge Welt, 8. Oktober 2009
Gebot der Stunde
Von Olaf Standke ****
Gewalt prägte auch den gestrigen Tag (7. Okt.) in Afghanistan: Gefechte zwischen Aufständischen und NATO-Truppen, Anschläge in verschiedenen
Landesteilen, tote Zivilisten, Taliban und ausländische Soldaten. Acht
Jahre nach Kriegsbeginn ist die Lage am Hindukusch düster. Auch weil
sich die Hinweise auf einen massiven Betrug bei den jüngsten
Präsidentenwahlen immer mehr verdichten, wie ein von der »Washington
Post« gestern zitiertes Geheimpapier der Vereinten Nationen belegt. Und
die Kriegsherrn in Washington zeigen sich ratlos, dabei hatte doch
USA-Präsident Bush schon 2004 den Sieg am Hindukusch verkündet.
Sein Nachfolger im Weißen Haus sucht in diesen Tagen hektisch nach einem
Ausweg aus der Sackgasse, am Mittwoch mit Vertretern des Kongresses -
und hat bisher doch nur eine Lösung anzubieten: noch mehr Soldaten. Aber
selbst die von ihm befohlene Aufstockung der US-amerikanischen Truppen
auf 68 000 Mann ist den Generälen und den Konservativen zu wenig. Sie
fordern zusätzliche 40 000. Doch die unabdingbare Voraussetzung für eine
friedliche Entwicklung in Afghanistan ist die Beendigung der bewaffneten
Kämpfe. Und diesem Ziel kommt man letztlich nur näher, wenn die
ausländischen Truppen endlich abgezogen und zugleich weitreichende
Angebote zum zivilen Aufbau und zum Dialog mit allen Kräften im Land
gemacht werden. Deshalb auch ist der Rückzug der Bundeswehr das Gebot
der Stunde.
**** Aus: Neues Deutschland, 8. Oktober 2009 (Kommentar)
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